Per Heister prognostiziert in einer ersten Analyse der Europawahl stärkere Veränderungen als viele erwartet haben.
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Per Heister
This time will be different
Der Europawahlkampf ist vorbei, die Wahllokale sind geschlossen. Die Europäer, d. h. 43,1 Prozent von ihnen, haben gewählt. Die vorliegenden, noch nicht ganz vollständigen Ergebnisse lassen erste Schlussfolgerungen zu und zugleich viel Raum für Interpretationen
Kein deutscher Kommissionspräsident
Das einzige wirklich klare Ergebnis der Wahl ist, dass Martin Schulz nicht Präsident der EU-Kommission wird.
Die europäischen Parteien hatten Kandidaten für die Präsidentschaft der Kommission vorgeschlagen. Hintergrund ist der Lissabonner Vertrag, nach dem der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs einen Kommissionspräsident im Lichte des Ergebnisses der Parlamentswahlen vorschlagen sollen. Zwar gab es darüber nie ein ausdrückliches Einverständnis im Europäischen Rat, aber das Europaparlament, dessen Präsident als erster seinen Hut als Kandidat in den Ring warf, trieb diesen Gedanken vehement voran.
Es ging um die Grundidee mehr öffentliches Interesse an den Europawahlen zu wecken und mehr demokratische Berechenbarkeit durch den offenen und fairen Wettbewerb und die Wahl zwischen Kandidaten zu erreichen. Man war sich einig „Hinterzimmer-Verabredungen“ vermeiden, die bisher immer der Nominierung des EU-Kommissionspräsidenten vorausgingen.Der nächste Kommissionspräsident müsse von der der stärksten Parlamentsfraktion kommen und wenn der Europäische Rat einen andere Kandidaten vorschlagen würde, wäre dies eine schwere Beschädigung der Demokratie.
Man muss die endgültige Entwicklung abwarten, aber da die sozialistische Fraktion mit 187 gegen die Europäische Volkspartei mit 212 verloren hat, wäre es sehr schwierig jetzt Schulz zu nominieren. Der einzige Weg, wie er das Amt erreichen könnte, wären “Hinterzimmer-Verabredungen“ mit anderen Parlamentsfraktionen.
Es war aber sowieso unwahrscheinlich, dass Schulz Kommissionspräsident werden würde, denn er hat nur wenige Freunde unter den Staats- und Regierungschefs – nicht zuletzt weil er ihre Einladung zu den Europäischen Gipfeltreffen nutzte um dann dort selbst 30-40minütige Reden zu halten. Außerdem fehlt ihm die Erfahrung als Regierungschef oder in einem anderen wichtigen Exekutivamt.
Dass Schulz und die SPD am Ende des Wahlkampfes Anzeigen schalteten, in denen die Deutschen aufgerufen wurden, für ihn zu stimmen, weil dieser einzige Weg wäre, einen deutschen Kommissionspräsidenten durchsetzen, wurde zum stärksten Gegenargument gegen ihn. Es war sehr unwahrscheinlich, das die Wähler in den mittleren und kleinen Mitgliedsstaaten mit einem Kommissionspräsidenten aus dem bei weitem größten Mitgliedsstaat glücklich wären. Da der Kommission immer wieder vorgeworfen wird, gegenüber den großen Mitgliedsländern zu schwach aufzutreten, wäre es sehr schwierig dafür zu werben, die Macht gegen Vertragsverstöße der großen Mitgliedsländer vorzugehen ausgerechnet einem ihrer Vertreter zu übertragen.
Die Niederlage der Sozialdemokraten und Sozialisten bei den Wahlen macht es nun leichter für den Europäischen Rat Martin Schulz zu verhindern. Das Ergebnis bringt auch Angela Merkel nicht die Verlegenheit, Schulz als deutschen Kommissar vorzuschlagen ….
Es ist wesentlich wahrscheinlicher, dass die Staats- und Regierungschefs Jean-Claude Juncker vorschlagen – aber ausgemacht ist dies nicht, denn Juncker hat dort mächtige Feinde. Am Ende wird der Europäische Rat wieder eine „Hinterzimmer-Verabredung“ treffen müssen, um eine machbare Verteilung der Spitzenämter zwischen den Mitgliedsländern zu erreichen, die auch die Balance zwischen den politischen Lagern sicherstellt. Legitimität and Repräsentativität bedürfen der Abwägung um breite Unterstützung und Glaubwürdigkeit zu erreichen.
Neue Dynamik im Europaparlament
Der Wahlausgang bestimmt die Fraktionen im Europaparlament. Während die Ergebnisse in der Wahlnacht eindeutig erschienen, gibt es jetzt einen dynamischen Prozess, der das politische Spielfeld verändert.
Die Europäische Volkspartei verlor viele Sitze – besonders in Frankreich, Spanien und Italien, aber auch in Polen, Deutschland und einigen kleineren Ländern. Sie behält aber die Stellung als stärkste Parlamentsfraktion, die sie seit 1999 innehat. Auch die Sozialisten verloren einige Sitze. Sie gewannen zwar in Italien und Deutschland, verloren aber unter anderem in Frankreich und Griechenland. Die teilweise kommunistische GUE mit der deutschen LINKEN und der griechischen Syriza als Eckpfeiler konnte etwas dazu gewinnen. Extremistische, fremdenfeindlicher und euroskeptische Parteien legten deutlich zu.
Aber die Fraktionen im Europaparlament sind dynamischer und weniger statisch als in den nationalen Parlamenten. Sie werben um um neuen Parteien oder Parteien, die nach neuen Bündnispartner suchen, weil sie sich aus „schlechter Gesellschaft“ befreien oder andere Ziele erreichen wollen.
Es überrascht nicht, dass alle Fraktionen an der Vergrößerung ihre Stärke interessiert sind. Die Sozialisten haben das nicht nur durch die Mobilisierung am Wahltag versucht, sondern auch durch die Anwerbung neuer Mitgliedsparteien und unternahmen einige Anstrengungen, damit die Europäische Volkspartei Mitgliedsparteien verliert.
Einige Veränderungen stehen an: Um den Fraktionsstatus zu erreichen sind 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliederländern erforderlich. Wenn eine Fraktion ein Mitgliedsland verliert, muss sie versuchen einen Angeordneten aus einem anderen Land zu finden. Hier geht es zu wie bei einer Großwildjagd.
Die ERC-Gruppe der britischen Konservativen versucht neue Mitglieder zu gewinnen, um ihre Wahlniederlage zu kompensieren und eine größere euroskeptische Gruppe aufzubauen. Sie haben dabei die dänische Volkspartei im Auge, die in Dänemark zu stärksten Volkspartei wurde, bisher aber in der gleichen Fraktion war wie die britischen Europagegner von der UKIP. Da die treibende Kraft hinter diesem Versuch ein persönlicher Freund des UKIP-Chefs ist, kann man einen Zusammenschluss dieser Fraktionen nicht ausschließen.
Die rumänische PNL, bisher in der liberalen Fraktion ALDE, will offenbar zur EVP-Fraktion wechseln und würde damit die Liberalen weiter schwächen.
Die wechselnde Dynamik innerhalb der Fraktionen
Außerdem verändert das Wahlergebnis die interne Struktur mancher Fraktionen. Die Sozialisten sind ziemlich homogen und davon kaum betroffen. Allerdings verlieren sie die gesamte irische Delegation; zugleich kompensieren die zusätzlichen italienischen Angeordneten die Verluste in Frankreich.
Auch in der EVP-Fraktion verschieben sich die Kräfte: Alle großen Delegationen werden schwächer, allerdings bleiben CDU/CSU bei weitem die stärkste Gruppe. Die UMP aus Frankreich, die italienische Delegation und die spanische Volkspartei verlieren jeweils (!) etwa acht Abgeordnete. Die polnische Delegation schrumpft um sechs Abgeordnete, wird aber nach CDU/CSU die zweigrößte Delegation.
Die stärksten Veränderungen und des größten Verlust politischen Einflusses müssen die Liberalen hinnehmen. Ihre stärksten Bastionen in Deutschland und Großbritannien wurden dramatisch dezimiert – bei der FDP von 12 auf 3 Sitze. Der Abgang der rumänischen PNL kostet die Liberalen fünf Mandate und eine nationale Delegation. Man weiß zwar noch nicht in welcher Form – aber die neue liberale Fraktion im Europaparlament wird sich deutlich von der bisherigen Fraktion unterscheiden.
“This time will be different” war der Slogan des Europäischen Parlaments für diesen Wahlkampf. Der Unterschied könnte größer werden als viele vermutet hatten.
Per Heister (1950) kommt von den schwedischen Konservativen und war dort unter anderem Vorsitzender des Studentenverbandes und Mitarbeiter von Carl Bildt. Seit 1997 arbeitetet er für die EVP-Fraktion im Europaparlament.
(aus dem Englischen übersetzt von Stephan Eisel)