Über die politische Verantwortung der katholischen Kirche
Prof. Dr. Thomas Söding
Die katholische Kirche ist die mit Abstand größte Organisation der Welt. Sie wächst, auch wenn sie in Deutschland schrumpft. Mit dem Papst an der Spitze hat sie einen Sprecher, der in seinen besten Momenten nicht nur seine Kirche vertritt, auch nicht nur die Christenheit und die dialogfähigen Religionen, sondern die Menschheit, die auf die Stimme der Vernunft hört. Dass Franziskus vor einem Jahr gegen alle Verschwörungstheoretiker die Wissenschaft verteidigt hat, die den Klimawandel als ökologisches und soziales Drama beschreibt („Laudate Deum“), ist ein solches Hoffnungszeichen.
Allerdings hat derselbe Papst auch seine schwachen Momente: wenn er Frauenbilder von gestern als Lösung von Zukunftsproblemen anpreist, in kriegerischen Konflikten den Aggressor nicht beim Namen nennt und bei aller Empörung über den weltweiten Skandal der Armut ausgerechnet der sozialen Marktwirtschaft und der technologischen Entwicklung wenig Lösungsenergie zutraut.
Stärke und Schwäche werden derzeit nur spontan austariert. Sie brauchen aber Prozesse der Stabilisierung, die durch religiös grundierte und universal vermittelbare Ethik geprägt sind. Weltweit steht die katholische Kirche in der Versuchung, Bündnisse mit autoritären Regimen einzugehen, weil dort angeblich traditionelle Werte vertreten werden, die auch das Christentum schützt: die Familie, das Privateigentum, der Respekt vor der Tradition. Allerdings wäre es fatal, dieser Versuchung zu erliegen, weil jede soziologische Studie zeigt, dass Autokraten diese Werte nur um des eigenen Machterhalts willen vertreten und dadurch zerstören. Es ist im übrigen keineswegs gesagt, dass die katholische Kirche dieser Versuchung zu erliegen braucht: weil der Glaube ein Bündnis mit der Freiheit eingeht, die Verantwortung übernimmt. Es kommt allerdings darauf an, sicherzustellen, dass dieses Potenzial auch genutzt wird.
Desto wichtiger ist es, dass der Papst in seiner eigenen Kirche Ordnung schafft und sich in dem, was er politisch sagt, verbindlich beraten lässt. Für beides sind letzthin die Voraussetzungen erheblich verbessert worden. Das größte Reformprojekt nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965), das der katholischen Kirche den Weg in die Gegenwart gebahnt hat, ist der Synodale Weg, den Franziskus ausgerufen hat.
2023 und 2024 haben sich, jeweils im Oktober, auf zwei großen Generalversammlungen in Rom knapp 300 Bischöfe aus aller Welt mit gut 80 Delegierten, Männern wie Frauen, getroffen, um erstens eine Bestandsaufnahme zu machen, was in der katholischen Kirche derzeit gut, aber auch nicht gut läuft, und um zweitens Schlussfolgerungen abzuleiten, wie eine Reform aussehen kann, die der „mission“ der Kirche (auf Englisch klingt es besser als auf Deutsch) Überzeugungskraft gibt.
Der Prozess begann 2021 mit einer weltweiten Befragung, die erhebliche Probleme, aber auch Lösungsansätze zu Tage gefördert hat: Problematisch ist der herrschende „Klerikalismus“, verbunden mit erheblichen Mängeln bei der Verwirklichung von Frauenrechten. Auf der Haben-Seite stehen ein ausgesprochener Willen, zusammenzubleiben, ein starker Optimismus, die Zukunft gestalten zu können, und ein großes Selbstbewusstsein, eine wichtige Rolle in der Welt spielen zu können. Die katholische Kirche hat weltweit eine Bildungsexplosion erlebt, die ihr neue Möglichkeiten verschafft, und zwar nicht nur durch Geistliche, sondern auch durch viele andere Mitglieder, nicht zuletzt Frauen, die hoch kompetent sind, auch wenn sie derzeit noch nicht die passende Anerkennung im Recht der katholischen Kirche finden. Die katholische Kirche ist sicher eines nicht: nationalistisch, obschon sie in einzelnen Ländern sehr enge Bindungen mit Regierungen eingeht, auch in Europa. Die katholische Kirche ist vielmehr eine Weltkirche. In ihr brechen alle Spannungen zwischen Nord und Süd, West und Ost auf, die auch die politische Weltbühne beherrschen. Aber der Wille zur Einheit lässt sie immer neu nach Lösungen suchen, die Vielfalt generieren, ohne zu spalten.
Derzeit sind in der katholischen Kirche nicht die Grundlagen des Glaubens umstritten, nicht die sieben Sakramente, nicht die Heilige Schrift, nicht das Credo, auch nicht das Amt des Priesters, des Bischofs, des Papstes. Umstritten ist aber, ob dort, wo die intimsten Fragen der Menschen berührt werden, insbesondere ihre Sexualität, der Bannstrahl des „Richtig“ und „Falsch“ geschleudert werden oder nicht dort, wo Menschen in Freiheit ihrem Gewissen folgen, eine größere Zurückhaltung herrschen soll, weil nicht nur die Wahrheiten des Glaubens, sondern auch die Grenzbereiche des Lebens in Rede stehen. Umstritten ist gleichfalls, ob durch eine Stärkung der Rechte, die jedem Kirchenmitglied zustehen, die Hierarchie geschwächt wird – oder ob sie nicht vielmehr an Legitimität gewinnt.
Die Weltsynode ist mit einem Tusch zu Ende gegangen. Papst Franziskus hat auf sein Recht verzichtet, in einem Apostolischen Schreiben noch einmal selbst zu entscheiden, welche Anregungen er aufnimmt und welche nicht. Er hat entschieden, dass das Wort der Synode sein Wort ist: Es hat dieselbe Autorität, als wenn er persönlich formuliert hätte. Das ist eine Anerkennung, wie die Synode selbst sie kaum zu hoffen gewagt hätte.
Was soll in der katholischen Kirche passieren? Mehr Vielfalt in der Einheit, mehr Subsidiarität in den Entscheidungen, mehr Partizipation des „Kirchenvolkes“ bei allen Beratungen und Entscheidungen, mehr Rechenschaft, mehr Transparenz, mehr Monitoring und Evaluation. Für den Synodalen Weg in Deutschland, der bereits 2019 mit der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals begonnen hat, ist diese Entwicklung sehr gut. Niemand kann mehr sagen, es sei ein Sonderweg. Niemand kann sich mehr hinter Rom verstecken, um Entscheidungen auszuweichen. Niemand in Deutschland kann sich mehr einbilden, der große Vorreiter einer kirchlichen Reform zu sein: Nein, die ganze Weltkirche hat sich auf den Weg gemacht.
Die Umsetzung steht freilich noch aus. Dennoch ist die Weltsynode eine gute Nachricht für die Gesellschaft in Deutschland. Die katholische Kirche ist nicht rechthaberisch, sondern selbstkritisch. Sie bleibt nicht hocken, sondern macht sich auf den Weg. Sie stellt sich neu auf, um nicht nur ihren genuin religiösen, sondern auch in ihren gesellschaftlichen Auftrag besser zu erfüllen: die Gesellschaft zusammenzuhalten, ohne sie abzuschotten.
Weltweit hat die römische Synode gleichfalls ein helles Signal ausgesendet. Bestärkt werden überall diejenigen Kirchenführer, die nicht Autokraten im Namen Jesu sein wollen, sondern flache Hierarchien schaffen, starke Beteiligungen, offene Kommunikation. Es gibt genügend, die sich noch bedeckt halten. Aber je mehr gute Beispiele es gibt, desto schwieriger wird ihr Beharren auf dem, was angeblich schon immer so gewesen ist.
Und der Papst? Er hat sein Feld bestellt. Synodalität, markante Teilhabegerechtigkeit, wird in die Verfassung der katholischen Kirche eingezogen. Ob er selbst sich einbinden lässt? Das ist auch eine Temperamentsfrage. Bei einem symbolträchtigen Thema, der Weihe von Frauen zum Amt der Diakonie, hat er während der Synode offenkundig seine Meinung geändert. Von einem kaum verblümten: „Nein“, ist jetzt ein: „Wir werden sehen“ geworden: für die katholische Kirche in Deutschland zu wenig, für die katholische Kirche weltweit sehr viel.
Dass die politischen Äußerungen des Papstes an prophetischer Schärfe nicht verlieren, aber an Lösungskompetenz gewinnen – zwischen Trump und Putin, Xi Jingping und Erdoğan wird es mehr denn je darauf ankommen, dass der Mann in Weiß die richtigen Worte findet.
Thomas Söding, geb. 1956, Dr. theol., ist Seniorprofessor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). Bei der Weltsynode in Rom war er theologischer Experte. Zuletzt erschien von ihm: Gottesreich und Menschenmacht. Politische Ethik des Neuen Testaments (Herder 2024).