Multireligiosität als Herausforderung

Dr. Ulrich Ruh

„Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung“- so lautete der Titel eines 2016 erschienenen Buchs des Juristen Hans Markus Heimann. Derzeit hat man allerdings nicht den Eindruck, als würde hierzulande Multireligiosität als besonders drängende Frage empfunden und entsprechend diskutiert, weder im politischen Betrieb noch in der Öffentlichkeit. In den letzten Monaten galt die Aufmerksamkeit im Bereich Religion ohnehin weitgehend den beiden großen christlichen Kirchen mit dem Schwerpunkt auf der generell sichtbareren katholischen, beziehungsweise den Bemühungen von Bistümern um die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs durch kirchliches Personal in den vergangenen Jahrzehnten. Auch die gestiegenen Austrittszahlen, bei denen die katholische Kirche im vergangenen Jahr die evangelische deutlich überholte, wurden als Ausdruck der allgemeinen Kirchenkrise häufig kommentiert. Mit dem Christentum in seiner katholischen oder evangelischen Variante sind viele Deutsche durch ihren familiären und/oder kulturellen Hintergrund noch zumindest rudimentär vertraut, sodass aus aktuellem Anlass leicht Erinnerungen und Interesse aktiviert werden kann.

Gleichzeitig ist es um den Islam in Deutschland, der hierzulande mit schätzungsweise fünf Millionen Anhängern längst die größte Religionsgemeinschaft nach den beiden Großkirchen stellt, verhältnismäßig ruhig geworden, und das aus verschiedenen Gründen.. Es gab in den letzten Jahren in der Bundesrepublik keine spektakulären Terroraschläge mit islamistischem Hintergrund, und an die muslimische Alltagspräsenz hat sich die (zumindest im Westen) vor allem christlich sozialisierte Mehrheitsbevölkerung inzwischen weitgehend gewöhnt. Größere und kleinere Moscheen gehören zum Stadtbild praktisch jeder Kreisstadt, auch wenn sie fast nie im Stadtzentrum, sondern eher in Industriegebieten anzutreffen sind. An diversen deutschen Universitäten zwischen Osnabrück und Tübingen existieren jetzt schon seit Jahren Institute für Islamische Theologie mit Hunderten von Studierenden. Islamischer Religionsunterricht findet in einem je nach Bundesland unterschiedlichem rechtlichem Rahmen zumindest in einem Teil der öffentlichen Schulen statt.

De facto ist also Deutschland längst (wie übrigens auch fast alle EU- Mitgliedsstaaten) zu einem „multireligiösen“ Land geworden, wobei allerdings die anderen nichtchristlichen Religionen nicht in im selben Maß praktisch flächendeckend vertreten sind wie der Islam und auch zahlenmäßig bei weitem nicht mit ihm konkurrieren können. Das gilt nicht zuletzt auch für das Judentum, dem aus verschiedenen Gründen im deutschen multireligiösen Konzert eine Sonderstellung zukommt. Jüdische Gemeinden gibt es in Deutschland seit spätrömischer Zeit; das Judentum war über Jahrhunderte die einzige geduldete Religionsgemeinschaft neben dem mit Staat und Kultur selbstverständlich verbundenen Christentum. Nach der Vertreibung und Vernichtung durch den Nationalsozialismus entstand in Deutschland Gott sei Dank wieder eine kleine jüdische Gemeinschaft, die sich allerdings mühsam zusammenraufen muss und als religiös-kultureller Faktor außer in einigen Metropolen kaum ins Gewicht fällt.

Nicht nur in dieser speziellen Hinsicht gleicht das vielfältiger gewordene Leben der Religionsgemeinschaften in Deutschland heute in vieler Hinsicht einer Baustelle. Gerade in Bezug auf die „neue“ und ungewohnte Religion Islam ist noch vieles in Bewegung: So erhält bisher nur eine Minderheit muslimischer Schulkinder islamischen Religionsunterricht, weil sich Staat und muslimische Organisationen über Zuständigkeiten nicht einigen können und entsprechende Vereinbarungen und Abmachungen oft ausgesprochen fragil sind. Es kommt immer wieder einmal vor Ort zu Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen über den Zuschnitt von Moscheebauten; im Zusammenhang mit der Organisation muslimischer Seelsorge in staatlichen Einrichtungen wie etwa Gefängnissen ist je nach Bundesland noch Etliches zu regeln. Und ein einziger neuer Terroranschlag mit islamistischem Hintergrund würde vermutlich genügen, um der Diskussion darüber, ob denn der Islam überhaupt zu Deutschland gehöre, neue Nahrung zu geben. Die AfD verneint das ausdrücklich.

Der rechtliche Status der beiden großen Kirchen ist zwar staatskirchenrechtlich bis ins Detail festgeschrieben; die Abmachungen zwischen Staat und Kirchen füllen stattliche Bände. Aber auch hier stehen gewichtige Fragen zur Klärung an, so etwa die nach der schon von der Weimarer Verfassung statuierten und ins Grundgesetz übernommenen Ablösung der „Staatsleistungen an die Religionsgemeinschaften“ (WRV Art. 138). Im Bereich des Religionsunterrichts entsteht durch Modelle eines konfessionell-kooperativen oder gemeinsamen Unterrichts staatlich-kirchlicher Klärungsbedarf, ebenso im Zusammenhang mit dem zukünftigen Platz der Theologie beziehungsweise der Theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten. Dass sich Angebote und Profile der theologischen Ausbildungsstätten in Deutschland schon unter dem Druck zurückgehender Studierendenzahlen verändern müssen, dürfte eigentlich nicht strittig sein, auch wenn im Einzelnen sicher erheblicher Diskussionsbedarf besteht.

Hans Markus Heimann kommt in seinem Buch über Deutschland als multireligiösem Staat zu dem Schluss, die Elemente des deutschen Staatskirchenrechts könnten bei Erfüllung ihrer Voraussetzungen von allen Religionsgemeinschaften in Anspruch genommen werden und seien deshalb auch im multireligiösen Staat anschlussfähig. Auf dieser Grundlage ließen sich vermutlich die rechtlichen Probleme lösen, die sich auf der Grundlage der zunehmend multireligiösen Situation stellen, entsprechende Kooperationsbereitschaft und Fähigkeit zum Kompromiss auf allen Seiten vorausgesetzt.

Aber das ist nicht alles, besonders im Blick auf das christlich-muslimische Verhältnis. Den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland kommt ebenso wie dem Islam als inzwischen etablierter, zweitgrößter Religionsgemeinschaft nach dem Christentum eine besondere Verantwortung zu. Evangelische und katholische Kirche werden aller Voraussicht nach auch in Zukunft die mitgliederstärksten religiösen Gemeinschaften in Deutschland bleiben, auch in den neuen Bundesländern. Und sie sind auf jeweils spezifische Weise Teil der allgemeinen Kultur, schon durch ihr architektonisches, künstlerisches, literarisches und musikalisches Erbe und die religiösen Ausdrucksmöglichkeiten, die sich damit eröffnen. Ob und in welcher Weise in Zukunft in diesen Schatz auch muslimische Beiträge eingehen werden, ist nicht absehbar, aber zumindest nicht auszuschließen. Auf jeden Fall wird der Islam als ein gewichtiges Element im religiösen Spektrum Deutschlands bleiben und möglicherweise mehr als bisher werden. Ob es dadurch im Blick auf die in der Mehrheit nicht religiös zuordenbare oder gar nicht mehr erkennbar religiös geprägte deutsche Bevölkerung zu eine Art Schulterschluss zwischen engagierten Christen und Muslimen kommt oder überhaupt kommen kann, ist eine der spannenden Frage für die multireligiöse Zukunft Deutschlands.


Dr. Ulrich Ruh (1950) ist Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau und war 1991 – 2014 Chefredakteur der „Herder Korrespondenz“. Er studierte Katholische Theologie und Germanistik in Freiburg und Tübingen und legte 1974 das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. Danach war er bis 1979 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät Freiburg (Prof. Karl Lehmann) am Lehrstuhl für Dogmatik und Ökumenische Theologie. 1979 wurde er in Freiburg mit einer Arbeit über Begriff und Problem der Säkularisierung zum Dr. theol. promoviert und trat im gleichen Jahr in die Redaktion der „Herder Korrespondenz” ein.

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