Normalisierung oder Regulierung der Suizidassistenz?

Eva M. Welskop-Deffaa

Die Debatte zur gesetzlichen Regulierung der Suizidhilfe hat Fahrt aufgenommen. Kurz vor der geplanten abschließenden Beratung im Deutschen Bundestag über die drei vorliegenden Initiativanträge zur gesetzlichen Regelung der Suizidassistenz stellten am 8. Mai 2023 vier renommierte Wissenschaftler in der F.A.Z. die Frage, ob es einer Regulierung überhaupt bedarf. Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 26.2.2020 dazu keine Frist und auch keine explizite Pflicht formuliert. Aber es hat an verschiedenen Stellen konkrete Hinweise gegeben, wo und warum es eine gesetzliche Regulierungsaufgabe sieht: Mindestens dort, wo die persönliche Entscheidung, Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen, auf Dritte erhebliche Auswirkungen haben kann, ergibt sich ein staatlicher Schutzauftrag. Aber nicht nur da.

Wir brauchen gesetzliche Standards zur Klärung der Freiverantwortlichkeit.
Das Bundesverfassungsgericht knüpft – anders als in den Nachbarländern – die rechtlich erlaubte Inanspruchnahme von Suizidhilfe ausdrücklich nicht an das Vorliegen einer schweren Krankheit, die mit unerträglichen Schmerzen verbunden ist oder zeitnah zum Tode führt. Allein die „Freiverantwortlichkeit“ markiert die Grenze zwischen strafloser Suizidhilfe und strafbarem Tötungsdelikt. Die Frage, wie die Freiverantwortlichkeit geschützt werden und der Nachweis der Freiverantwortlichkeit erfolgen soll, kann keinesfalls denen überlassen werden, die Suizidhilfe als Geschäftsmodell betreiben. Im Gegenteil braucht es gesetzliche Standards. Auch für eine gesetzliche Klarstellung, ab welchem Alter eine frei verantwortliche Entscheidung über den eigenen Tod als möglich angesehen werden soll, besteht dringlicher Bedarf.

Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, die die institutionelle Nichtmitwirkungs- und Nichtduldungspflicht von Einrichtungen sichert.
Träger von Einrichtungen etwa der Alten- oder Eingliederungshilfe brauchen Sicherheit, wann und wie sie es Suizidhilfevereinen untersagen können, auf ihrem Gelände ein- und auszugehen. Der Kreis der Einrichtungen, die ein Suizidhilfe exkludierendes Schutzkonzept umsetzen, darf nicht auf konfessionelle Träger eingegrenzt werden. Es geht nicht um ein katholisches Sonderrecht, sondern um die Regelung einer inklusiven institutionellen Nichtmitwirkungs- und Nichtduldungspflicht, die verdeutlicht, dass es religiöse wie nicht-religiöse Gründe dafür gibt, Räume zu schaffen, in denen Klienten und Klientinnen verlässlich nicht mit der Frage konfrontiert werden, ob sie Suizidassistenz in Anspruch nehmen wollen.

Eine gesetzliche Grundlage für Suizidprävention muss die Regulierung des assistierten Suizids ergänzen.
Suizidprävention braucht eine geregelte Finanzierung, die ohne eine gesetzliche Grundlage nicht zu erwarten ist. Psychosoziale Beratung, die dem Suizid vorbeugt und/oder der Suizidhilfe vorgeschaltet wird, muss verlässlich im bestehenden Beratungssystem gewährleistet sein, ohne dass eine „normalisierungsförderliche“ spezielle Beratungsinfrastruktur für Suizidassistenzsuchende entsteht. Nur mit einer ausgebauten Suizidprävention können der Suizidhilfe klare Grenzen gesetzt werden und können wir der Normalisierung des assistierten Suizids entgegenwirken. Dies gilt gerade auch für die mehr als 2 Millionen älterer Menschen, die pflegebedürftig zu Hause ohne professionelle Hilfe leben. Wer regelmäßig Postwurfsendungen von Suizidhilfevereinen im Briefkasten vorfindet, dem stellt sich unweigerlich die Frage, ob dieses „Angebot“ nicht auch für ihn die richtige Lösung sein könnte, gerade wenn der eigene Lebensmut momentan z.B. durch den Tod des Partners verlorenging.

Die Normalisierung hat längst begonnen.
Gibt man bei Google „Suizidhilfe Antrag Heveling“ oder ähnliches ein – erhält man mit großer Wahrscheinlichkeit als ersten – gesponserten – Treffer den Hinweis auf die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben e.V. „Schluss.PUNKT“ heißt es da in gut lesbarer klarer Schrift über einem Lindenblätter-Himmelsfoto. Und: „Unter der kostenfreien Telefonnummer 0800/… beraten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Sie ergebnisoffen zu Fragen rund um das Lebensende. Ihre Selbstbestimmung steht dabei im Mittelpunkt.“ Eine Selbstbestimmung zum Tod, nicht zum Leben hin.

Wer die Freiheit weiterleben zu wollen für alte und kranke Menschen vor einer Begründungspflicht schützen will, muss sich der Normalisierung der Suizidassistenz gesetzgeberisch widersetzen, ganz so wie es der Theologe und Medizinethiker Jean-Pierre Wils in seinem Buch „Sich den Tod geben. Suizid als letzte Emanzipation?“ fordert. Wils schließt sein Buch mit Beschreibungen der Lebenssattheit, die Menschen heute erfassen kann, weil sie schlicht genug haben vom Leben. Sie sind nicht mehr neugierig darauf, was die Zukunft bringen könnte. Sie empfinden nach all der Gesundheitsprogrammierung, die uns zuteilwird, ihre Lebensdauer subjektiv schlicht als „zu lang“. Ihnen fehlt die Person, die Sichtachsen auf das Leben noch offenhält. „Wer die unhintergehbare Subjektivität dieses Urteils … zum Gegenstand einer politischen Initiative umbiegen will, begibt sich auf eine schiefe Bahn, auf eine Bahn, die wir besser nicht betreten sollten. Die Gründe für diesen starken Vorbehalt waren Thema dieses Essays. Wir dürfen den assistierten Suizid nicht normalisieren.“


Caritas-Präsidentin Eva Welskop-Deffaa

Eva M. Welskop-Deffaa ist seit November 2021 Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes. Zuvor war sie nach Tätigkeiten an der Ludwig-Maximilians-Universität München, beim Katholischen Deutschen Frauenbund und beim Zentralkomitee der Deutschen Katholiken Leiterin der Abteilung Gleichstellung im Bundesfamilienministerium und Vorstandsmitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, bevor sie 2017 in den Vorstand des Deutschen Caritasverbandes wechselte. Frau Welskop-Deffaa ist Diplom-Volkswirtin. Sie war und ist in zahlreichen Ehrenämtern engagiert, u.a. in der Mitgliederversammlung der KAS.

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