Ernst Troeltsch: Zum hundertsten Todestag eines Ausnahmetheologen

Dr . Ulrich Ruh

Die Trauerfeier für den am 1. Februar 1923 im Alter von erst 57 Jahren verstorbenen protestantischen Theologen und Philosophen Ernst Troeltsch in Berlin zwei Tage später war eine Versammlung mit viel akademischer und politischer Prominenz – Troeltsch war bei seinem frühen Tod eine weithin anerkannte intellektuelle Größe, in Deutschland wie auch darüber hinaus. Hundert Jahre später ist er außerhalb einiger Fachkreise eher ein Geheimtipp, nicht zuletzt auf katholischer Seite. Aber der am 17. Februar 1865 in Haunstetten bei Augsburg geborene Ernst Troeltsch hätte als Person wie mit seinem umfangreichen Werk heute eine Wiederentdeckung verdient, zu einer Zeit, in der sich Christentum und Kirche gerade hierzulande sozusagen neu erfinden müssen und in der sich die Frage nach der Religion überhaupt und nach den Religionen und ihrem Platz in der Gesellschaft unabweisbar stellt.

Natürlich war Troeltsch Kind seiner Zeit, des Deutschen Kaiserreichs, das im Ersten Weltkrieg unterging, und der frühen Jahre der Weimarer Republik, für die er intellektuell wie politisch als wichtiger Geburtshelfer fungierte. Die konfessionelle Landschaft sah damals in vieler Hinsicht anders aus als heute. Troeltsch war als Theologe in Heidelberg wie dann als Professor für „Religions-, Social- und Geschichtsphilosophie“ in Berlin Teil der seinerzeit dominierenden deutschen protestantischen Gelehrtenkultur, neben der es Stimmen aus der katholischen Minderheit im akademischen Bereich eher schwer hatten. Der deutsche Katholizismus gehörte spätestens nach dem Ersten Vatikanischen Konzil zu einer Papstkirche, die an einem verbindlichen, neuscholastisch fundierten Weltbild orientiert war und politisch-gesellschaftlich auf Geschlossenheit setzte. Der konfessionelle Dualismus von Protestanten einerseits und Katholiken andererseits prägte mit seinen Abwehrreflexen, Konfrontationen und Missverständnissen Deutschland kulturell und religiös in einem heute nicht mehr vorstellbaren Maß.

Ernst Troeltsch streckte seine Fühler durchaus auch ins Katholische aus, allerdings auf seine spezifische Weise. So schrieb er im Oktober 1905 an den Reformkatholiken Friedrich von Hügel: „Meiner Empfindung nach ist Ihr Katholizismus so wenig katholisch als mein Protestantismus protestantisch; wir haben beide die Christlichkeit der modernen Welt.“ Damit ist das zentrale Stichwort genannt, um das Troeltschs Denken von Anfang kreiste und das seine Wiederentdeckung heute vor allem lohnend macht. Ihm ging es nicht um eine bequeme oder gar begeisterte Anpassung des christlichen Glaubens an das moderne Denken und er war auch nicht bereit, das Christentum zugunsten anderer weltanschaulicher Strömungen dranzugeben. Aber er hatte einen durch und durch historischen Blick auf die Wandlungen und die Variationsbreite, die das Christentum in der Antike, dem Mittelalter, der Reformationszeit und schließlich in der Moderne erlebt hatte und diagnostizierte auf diesem Hintergrund realistisch und differenziert die Herausforderungen wie Chancen dieses Christentums in seinen verschiedenen konfessionellen Typen unter modernen Verhältnissen.

„Die Tage des reinen Kirchentypus in unserer Kultur sind gezählt. Die Selbstverständlichkeiten der modernen Lebensanschauung fallen mit denen der Kirche nicht mehr zusammen.“ Zu diesem Urteil kam Ernst Troeltsch in den Schlussüberlegungen zu seinem 1912 erschienenen monumentalen Werk „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“, das die drei Grundtypen Kirche, Sekte und Mystik als Existenzformen des Christentums entwickelt. Als „reine und konsequente Ausprägung des Kirchentyps“ charakterisiert er dabei den römischen Katholizismus, der in steigendem Maße die „Innerlichkeit, Persönlichkeit und Beweglichkeit der festen Objektivierung in Dogma, Sakrament, Hierarchie, Papsttum und Infallibilität“ geopfert habe. Demgegenüber sei das protestantische Kirchentum zu einer ähnlichen Entwicklung zu schwach fundiert und habe sich mit „Sektenmotiven und mystisch-spiritualistischem Relativismus“ durchsetzt. Als seine Zukunftsaufgaben nennt er die gegenseitige Durchdringung der drei soziologischen Grundformen und ihre Vereinigung zu einem alle diese Motive versöhnenden Gebilde.

Betrachtet man die seitherige Entwicklung von Christentum und Kirche gerade auch in Deutschland, lassen sich die von Troeltsch damals diagnostizierten Linien durchaus ausziehen. Die katholische Kirche ist auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ihrer Grundgestalt von „Dogma, Sakrament, Hierarchie, Papsttum und Infallibilität“ treu geblieben. Sie streitet aber gleichzeitig heftig darum (Stichwort „Synodaler Weg“), ob und wie sich die genannten Koordinaten neu verstehen lassen, ohne dabei mit ihrem Typ von Kirche grundlegend zu brechen und es, um mit Troeltsch zu sprechen, mit einem stärkeren Setzen auf „Sekte“ und/oder „Mystik“ zu versuchen. Der Protestantismus ist nach dem Zweiten Weltkrieg ein gehöriges Stück „kirchlicher“ geworden, zeigt seine Dynamik aber eher in freien Gemeinschaftsformen oder im Bemühen um produktive Allianzen von Christentum und allgeneiner Kultur. Eine katholisch-protestantische Ökumene im Sinn einer gemeinsamen Orientierung an der von Troeltsch herausgestellten „Christlichkeit der modernen Welt“ ist übrigens höchstens fragmentarisch in Sicht.

Ernst Troeltsch muss persönlich ein frommer, letztlich an einem schlichten Christentum orientierter Mensch gewesen sein, der gegen kulturell neutralisierte Religion polemisierte („Die mit der Kultur versöhnte Religion wird meist nichts als eine schlechte Wissenschaft und oberflächliche Moral sein, verliert aber gerade ihr religiöses Salz.“). Beim Wechsel vom systematisch theologischen Lehrstuhl in Heidelberg nach Berlin gab er zu Protokoll, er habe in der gegenwärtigen kirchlichen und politischen Situation wenig Glauben an die Theologie und empfinde den Gegensatz seiner Theologie gegen alle heutige Theologie so schneidend, dass hier nur wenig zu hoffen sei. Ernst Troeltsch bleibt auf jeden Fall eine faszinierende Persönlichkeit, dem Leben zugewandt, von gigantischer Arbeitskraft, mit hoher Sensibilität für den kulturellen und politischen Betrieb und für die religiöse Situation in Deutschland wie anderswo. Er hat keinen kongenialen Nachfolger gefunden und auch keine Schule im klassischen Sinn hervorgebracht. Aber es gäbe in seinem Sinn in der Theologie wie in den Kirchen auch heute genug zu tun.


Dr. Ulrich Ruh (1950) ist Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau und war 1991 – 2014 Chefredakteur der „Herder Korrespondenz“. Er studierte Katholische Theologie und Germanistik in Freiburg und Tübingen und legte 1974 das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. Danach war er bis 1979 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät Freiburg (Prof. Karl Lehmann), am Lehrstuhl für Dogmatik und Ökumenische Theologie. 1979 wurde er in Freiburg mit einer Arbeit über Begriff und Problem der Säkularisierung zum Dr. theol. promoviert und trat im gleichen Jahr in die Redaktion der „Herder Korrespondenz“ ein.

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