Die Verantwortungsgemeinschaft – ein familienpolitisches Phantom

Matthias Dantlgraber

Ein familienpolitisches Projekt, das derzeit die Fantasie in allen politischen Lagern anregt, ist das geplante neue Rechtsinstitut der Verantwortungsgemeinschaft. Wohl auch deshalb, weil bei dieser Idee die Präsenz in der ministeriellen Öffentlichkeitsarbeit in einem bemerkenswerten Widerspruch zur bisher vorliegenden Konkretion und Substanz steht. Nicht weniger als die „vermutlich … größte familienrechtliche Reform der letzten Jahrzehnte“ hat Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) zu Beginn der Legislaturperiode angekündigt. Als plastisches Beispiel dafür gilt in den Medien die besagte Verantwortungsgemeinschaft, zu der sich im Koalitionsvertrag nur eine kurze Passage findet: Die Parteien der Ampel wollen „jenseits von Liebesbeziehungen oder der Ehe zwei oder mehr volljährigen Personen ermöglichen, rechtlich füreinander Verantwortung zu übernehmen.“

Die knappe Formulierung bietet eine Projektionsfläche für unterschiedlichste Vorstellungen über die Zukunft von Familie und Zusammenleben. Geht es bei der Verantwortungsgemeinschaft um Co-Parenting (nicht durch Liebe verbundener Personen), queere Mehrelternfamilien, Polyamorie, Polygamie, Senioren-WGs, Erziehungsgemeinschaften Alleinerziehender, „Ehe light“ oder schlicht um ein neues Steuersparmodell? Da die angekündigten Eckpunkte der Bundesregierung bisher nicht vorliegen, bleibt vieles vage und nebulös.

Die bisher konkretesten Ausführungen zur Verantwortungsgemeinschaft finden sich in einem Antrag der FDP-Bundestagsfraktion aus dem Jahr 2020. Dieser dient auch bei den Diskussionen innerhalb der Ampel als Orientierung. Danach soll die Verantwortungsgemeinschaft durch „mindestens zwei oder mehrere volljährige Personen … möglichst unbürokratisch geschlossen“ und „jederzeit konsensual“ und ansonsten nach einer Übergangsfrist aufgelöst werden können. Dabei sollen sich die Parteien zwischen unterschiedlichen Stufen der Verbindlichkeit entscheiden können. Während in der unverbindlichsten Stufe nur wenige gegenseitige Rechten und Pflichten vorgesehen sind, sollen in der verbindlichsten Stufe ähnliche Rechtsansprüche wie in einer Ehe bestehen. Der Vorschlag erinnert an den im Antrag auch erwähnten französischen Pacte Civil de Solidarité (PACS), der allerdings nur von zwei Personen geschlossen werden kann und keine Abstufungen der Verbindlichkeit kennt.

Der PACS wurde 1999 in Frankreich eingeführt, als eine „Ehe für alle“ („mariage pour tous“) noch nicht mehrheitsfähig war. Man wollte gleichgeschlechtlichen Paaren den Abschluss eines in der Verbindlichkeit unterhalb der Ehe angeordneten Rechtsinstituts („Ehe light“) ermöglichen. Während des Bestehens des PACS sind die Rechte und Pflichten ähnlich wie in einer Ehe. Allerdings kann der PACS wesentlich leichter geschlossen und aufgelöst werden. Nach Beendigung des PACS gibt es keine mit der nachehelichen Solidarität vergleichbaren Ansprüche gegen den ehemaligen Partner. Obwohl der PACS mit Blick auf gleichgeschlechtliche Paare eingeführt wurde, hat man ihn – anders die 2001 in Deutschland eingeführte Eingetragene Lebenspartnerschaft – nicht auf gleichgeschlechtliche Paare beschränkt, sondern für alle Paare geöffnet. Heute wird der PACS in Frankreich ganz überwiegend von verschiedengeschlechtlichen Paaren geschlossen und erfreut sich großer Beliebtheit: Mittlerweile schließen fast so viele Paare einen PACS wie die Ehe. Somit hat sich der PACS in Frankreich als Alternative zur Ehe etabliert.

Der Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland zeigt, wo Probleme liegen könnten, wenn sich die neue Verantwortungsgemeinschaft am PACS orientieren sollte. Die Anzahl der Eheschließungen in Frankreich hat sich seit den 1970er-Jahren fast halbiert (im europäischen Teil Frankreichs von 394.000 im Jahr 1970 auf 215.000 im Jahr 2019), während die Eheschließungen im wiedervereinigten Deutschland zunächst von 450.000 im Jahr 1991 auf 369.000 im Jahr 2007 gesunken, dann aber wieder auf 416.000 im Jahr 2019 gestiegen sind (im Jahr 2018 gab es nach der Einführung der „Ehe für alle“ einmalig sogar wieder 449.000 Eheschließungen). Es liegt nahe, diese unterschiedliche Entwicklung auch auf unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen zurückzuführen. Falls die angedachte Verantwortungsgemeinschaft so konzipiert werden sollte, dass sie als unverbindlichere Alternative in Konkurrenz zur Ehe tritt, könnte in Deutschland eine ähnliche Entwicklung der Eheschließungen eintreten wie in Frankreich. Die Einführung der Verantwortungsgemeinschaft würde dann dazu führen, dass in der Gesellschaft insgesamt weniger Verantwortung füreinander übernommen würde als bisher. Eine Folge, die im Gegensatz zum erklärten Willen der Regierung stünde, die verbindliche Verantwortungsübernahme zu stärken; und die im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhaltes auch nicht zu begrüßen wäre.

Als unverbindlicheres Konkurrenzinstitut zur Ehe nach dem Vorbild des PACS ist die Verantwortungsgemeinschaft daher nicht überzeugend. Für die Ausgestaltung bestünden auch verfassungsrechtliche Grenzen. Der im Grundgesetz geregelte „besondere Schutz“ der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) verlangt, dass verheiratete Paare gegenüber Verantwortungsgemeinschaften nicht schlechtergestellt werden. Eine Verantwortungsgemeinschaft, in der die gleichen (z.B. steuerlichen) Rechte, aber weniger Pflichten gelten würden als in der Ehe, wäre nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig.

Gegen die Einführung einer „Ehe light“ spricht auch, dass der Schutz, den die Ehe den Paaren gewährt, nicht geschwächt werden sollte. Wer verheiratet ist, kann bei der Ehe im Wesentlichen darauf vertrauen, dass die Vor- und Nachteile der Ehe nach der Trennung gerecht verteilt werden. Die Ehe schützt insbesondere die strukturell schwächere Person, die in der Ehe – z.B. aufgrund der Erziehung der gemeinsamen Kinder – auf persönliche Vorteile verzichtet hat. Für diese gibt es nach der Trennung nachehelichen Unterhalt sowie einen Zugewinn- und Versorgungsausgleich. Diese Rechte gibt es bei Modellen einer „Ehe light“ nicht. Es ist daher richtig, wenn die fairen Regelungen der Ehe weiterhin das Grundmodell für Paarbeziehungen darstellen. Die individuelle Freiheit der Paare wird dadurch gewährleistet, dass sich die Regelungen der Ehe durch einen Ehevertrag an die individuellen Bedürfnisse anpassen lassen. Unverheiratete Paare können sich Vollmachten erteilen, im Rahmen der allgemeinen Vertragsfreiheit rechtlich bindende Vereinbarungen treffen und dadurch ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten regeln. Ein Bedarf für ein unverbindlicheres Alternativinstitut zu Ehe ist daher nicht ersichtlich.

Falls eine Verantwortungsgemeinschaft eingeführt würde, sollte diese daher keine Konstellationen sich liebender Paare erfassen, in denen bisher die Ehe das Grundmodell ist und aus guten Gründen bleiben sollte. Die Verantwortungsgemeinschaft müsste vielmehr zielgenau Fälle erfassen, in denen bisher gar nicht verbindlich Verantwortung übernommen wird. Dann könnte die Verantwortungsgemeinschaft tatsächlich zu mehr Verantwortungsübernahme in der Gesellschaft führen und als Fortschritt betrachtet werden. Die Formulierung im Koalitionsvertrag, dass es um Konstellationen „jenseits von Liebesbeziehungen oder der Ehe“ gehen soll, deutet darauf hin, dass die Bundesregierung die Probleme einer „Ehe light“ erkannt hat. Die Einschränkung „jenseits von Liebesbeziehungen“ war im FDP-Antrag von 2020 noch nicht enthalten. Fraglich ist aber, wie diese juristisch umgesetzt werden soll. Denn Liebe ist nicht justiziabel und kann auch nicht behördlich geprüft werden. Selbst wenn die Verantwortungsgemeinschaft nicht als Konkurrenz zur Ehe intendiert sein sollte, ist fraglich, ob sie nicht doch de facto eine solche darstellen würde. Die Geschichte des PACS zeigt, dass sich die Karriere eines Rechtsinstituts vom ursprünglichen Regelungsanlass emanzipieren kann.

Nicht leicht vorstellbar ist derzeit auch, wie man so unterschiedliche Konstellationen wie die von der Politik als Beispiele für Verantwortungsgemeinschaften genannten Erziehungsgemeinschaften Alleinerziehender, Wohngemeinschaften älterer Menschen und Regenbogenfamilien mit mehr als zwei Eltern in einem gemeinsamen Rechtsinstitut erfassen möchte. Denn der Regelungsbedarf ist jeweils unterschiedlich. Voraussetzung für ein gelungenes neues Rechtsinstitut ist aber eine klare und abgegrenzte Vorstellung davon, was man eigentlich regeln möchte. Diese fehlt bisher.

Beim Thema Verantwortungsgemeinschaft gibt es derzeit also viele offene Fragen. Man darf gespannt sein, welche Antworten sich der Gesetzgeber in den für das Jahr 2023 angekündigten Eckpunkten einfallen lässt. Bisher ist die Idee der Verantwortungsgemeinschaft mehr ein Symbol für das von manchen in der aktuellen Legislaturperiode erhoffte „gesellschaftspolitische Durchlüften“ als eine zu Ende gedachte und sinnvollerweise umzusetzende Idee.


Matthias Dantlgraber ist Volljurist und Bundesgeschäftsführer des Familienbundes der Katholiken. Er ist seit 2015 Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) und seit 2018 stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der katholischen Organisationen Deutschlands (AGKOD).

 

 

 

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