Organspende: Zustimmungs- oder Widerspruchslösung

Am 16. Januar 2020 hat sich der Deutsche Bundestag nach leidenschaftlicher Debatte für die  „Zustimmungslösung“ bei der Organspende entschieden. Dafür stimmten 382 Abgeordnete, dagegen waren 261, weitere 28 enthielten sich. Die „Widerspruchslösung“ wurde mit  379 Nein-Stimmen bei 292 Ja-Stimmen und drei Enthaltung abgelehnt. kreuz-und-quer.de dokumentiert die beiden Positionen mit den Redebeiträgen der CDU-Abgeordneten Hermann Gröhe und Jens Spahn.

Das Protokoll der gesamten Bundestagsdebatte zur Organspende finden Sie hier.

Die Reden von Hermann Gröhe und Jens Spahn können Sie hier ausdrucken.

Organspende: Zustimmungs- oder Widerspruchslösung
Aus der Debatte des Deutschen Bundestages am 16. Januar 2020
 (zit. nach Tagesaktuelles Plenarprotokoll 19/140)

Hermann Gröhe (CDU/CSU) plädierte für die Zustimmungslösung

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir führen die Debatte heute mit großer Leidenschaft. Wir führen diese Debatte mit Leidenschaft nicht nur in diesem Haus, sondern in unserer Gesellschaft, und das ist gut und richtig so. Und noch etwas: In den Mittelpunkt dieser Debatte gehören selbstverständlich das Leid und die Not derjenigen Menschen, die dringend auf ein lebensrettendes Spenderorgan angewiesen sind. Viele von uns haben auch in den letzten Wochen mit den Menschen, um die es hier geht, und ihren Angehörigen gesprochen. Deswegen darf uns das alles nicht ruhen lassen, hier besser zu werden.

Ich verhehle nicht: Ich habe Respekt vor denen, die sagen: Müssen wir nicht angesichts dieser Situation auch über einen grundsätzlichen Wechsel rechtlicher Rahmenbedingungen nachdenken? – Ich halte dem aber entgegen: Gerade bei schweren Entscheidungen müssen sich unsere ethischen Grundprinzipien als Leitplanken bewähren, meine Damen, meine Herren.

Ich halte es für unangemessen, wenn in der öffentlichen Debatte – nicht so sehr in diesem Haus, aber in der öffentlichen Debatte – gelegentlich der Eindruck erweckt wird, als seien diejenigen, die nicht für die Widerspruchsregelung sind, gleichsam der Meinung, es könne so bleiben wie bisher, und es interessiere sie nicht das Leid derer, die auf ein Organ warten. Das ist mitnichten der Fall. Ich nehme für uns alle in Anspruch, hier helfen zu wollen.

Aber meine Damen und Herren, wer einen Systemwechsel, geradezu einen Paradigmenwechsel – heute hier geschehen – einfordert, der sollte gleichzeitig nicht kleinreden, um was es hier geht. Hier geht es nicht darum, zu sagen: Man wird doch wohl sagen können „Entscheidet euch!“. – Es geht um die Frage, ob der Staat das Selbstbestimmungsrecht des Menschen unter eine Bedingung stellt. Ich wünsche mir, dass sich jeder Mensch mit der Organspende befasst und eine Entscheidung trifft.

Aber am Ende geht es um die Frage, ob der, der aus welchen Gründen auch immer diese Entscheidung nicht trifft, sein Selbstbestimmungsrecht verliert oder nicht verliert. Diese Frage beantworte ich klar: Jeder Mensch hat ein Selbstbestimmungsrecht. Dies ist der Anker unserer medizinethischen Grundüberzeugung; dies ist der Anker unserer Patientenrechte.

Auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit muss ich nicht durch eine Widerspruchserklärung aktivieren; ich habe es bedingungslos, und nur meine eigene Einwilligung kann es zurücktreten lassen. Das ist keine kleine Frage. Es geht um den Kern des Menschenbilds unserer freiheitlichen Rechtsordnung, um nicht mehr und nicht weniger.

Deswegen tue ich mich schwer mit denen, die sagen: Man muss da abwägen. Aber selbst wenn ich mich auf den Gedanken des Abwägens einlasse, muss ich sagen: Die Widerspruchslösung ist ein untaugliches Mittel, und man wird von einem tiefgreifenden Eingriff doch wohl Tauglichkeit erwarten können. Die Lage im Ausland ist nicht so, wie immer leichthin dargestellt, als gäbe es einen klaren Zusammenhang. Die Schweizer schaffen mit einer Zustimmungsregelung sehr viel mehr Organspenden. Darum geht es nicht, die Beweislage ist da anders. In Spanien sind die Verbesserungen nicht durch die Rechtsregelung, sondern durch Veränderungen in der Krankenhausstruktur erreicht worden; darauf ist schon hingewiesen worden.

Aber ich will auch ausdrücklich zur Lage im eigenen Land etwas sagen. Nach den Skandalen 2012 hat sich die Zahl der Organspendeausweise von 22 Prozent auf fast 40 Prozent massiv erhöht. Wir sollten diese gemeinsamen Kraftanstrengungen auch nicht kleinreden. Wenn bei 1 400 Fällen, in denen der Hirntod festgestellt und eine grundsätzliche Organspendemöglichkeit festgestellt wurde, in 75 Prozent der Fälle durch Organspendeausweis oder durch Angehörigenauskunft eine Zustimmung vorliegt, dann zeigt dies: Wir haben eine Kultur der Solidarität in diesem Land! Sie muss nicht durch einen Paradigmenwechsel erst geschaffen werden, wir können dankbar feststellen: Es gibt sie.

Natürlich wünsche ich mir, dass wir von den 75 Prozent auf 80 Prozent, auf 85 Prozent kommen. Aber das Entscheidende ist, mehr Menschen zu identifizieren. Die Zahl der 1 400 oder mehr, bei denen eine Organspende möglich wird, ändert sich überhaupt nicht durch die Widerspruchslösung.

Deswegen: Lassen Sie uns beharrlich den Weg fortsetzen, den wir gegangen sind. Ich bin davon überzeugt: Wir können Stärkung der Organspende und Selbstbestimmungsrecht verbinden. Aber Spende muss Spende bleiben; Spende verträgt sich nicht mit Automatismus. Bitte stimmen Sie einer Stärkung der Entscheidungsbereitschaft zu.

Jens Spahn (CDU/CSU) plädierte für die Widerspruchslösung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In keinem anderen Bereich der Medizin in Deutschland ist die Versorgungslage schlechter als im Bereich der Organspende. Wir würden in keinem anderen Bereich solche Wartezeiten, solches Leid, so eine schwierige Versorgungslage für Patientinnen und Patienten akzeptieren – auch im Vergleich zu anderen westlichen Ländern -, wie wir es hier bei der Organspende seit Jahren tun.

Ja, eine solidarische und mitfühlende Gesellschaft, die Zusammenhalt stärken will, die lässt dieser Befund, wie dramatisch, wie desaströs in Teilen die Versorgungslage ist, nicht kalt. Deswegen ist es gut – und das zeigt ja auch diese Debatte -, dass wir uns damit beschäftigen.

Als wir vor eineinhalb Jahren mit dieser Debatte begonnen haben, war ja nicht absehbar, wie sie laufen würde. Aber was uns gemeinsam gelungen ist: In jeder Familie, in jeder Nachbarschaft, auf der Arbeit, an vielen Stellen ist in den letzten Monaten über dieses Thema diskutiert worden. Das Entscheidende ist, finde ich auch, dass die Patienten und ihre Angehörigen, diejenigen, die voller Hoffnung, Verzweiflung, Leid, Schmerz sind, sehen: Wir sind nicht vergessen, unser Leid wird gesehen. – Das haben wir durch diese Debatte gezeigt, und das ist schon ein Wert an sich.

Ja, die Widerspruchslösung ist kein Allheilmittel, keine Wunderwaffe; sie wird nicht alle Probleme lösen. Aber auch die Verbesserung der Abläufe in den Krankenhäusern, die wir schon gemeinsam beschlossen haben, wird nicht alle Probleme lösen. Aber auch das Onlineregister, das in beiden Gesetzentwürfen beschrieben wird – dass man online leichter seinen Willen dokumentieren kann -, wird nicht alle Probleme lösen. Es gibt nicht die eine Maßnahme, die alles sofort besser macht, sondern es braucht eine Kombination von Maßnahmen. Deswegen ist die Verbesserung der Abläufe in den Krankenhäusern kein Gegensatz zur Widerspruchslösung, sondern eine gute Ergänzung; auch das ist für die Debatte wichtig.

Jenseits der Einzelfragen, die wichtig sind, ist mit der Widerspruchslösung – das zeigen die 22 Länder in der Europäischen Union, die eine Widerspruchslösung haben – eben auch eine Kultur der Organspende verbunden. Die Organspende ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Organspende als Regel macht es im Übrigen auch den Angehörigen leichter. Eins will ich schon sagen, wenn über Selbstbestimmungsrecht und Angehörige geredet wird: Es geht hier nicht um das Recht der Angehörigen auf Entscheidung, sondern es geht um den Willen des Verstorbenen – das muss das Entscheidende in der Debatte sein.

Deswegen ist die doppelte Widerspruchslösung sozusagen eine gesellschaftliche Zustimmungslösung. Es ist die Ansage und Aussage der Gesellschaft: Ja, wir wollen eine Kultur der Organspende. – Das ist der entscheidende Unterschied, den sie macht und um den es uns in dieser Debatte geht.

Dieser kulturelle Unterschied ist auch gerechtfertigt aus meiner Sicht, im Sinne von Solidarität in einer Gesellschaft, wo jeder nicht nur auf sich selbst bezogen ist. Denn jeder von uns ist potenzieller Organempfänger. Es gibt nur ganz, ganz wenige Menschen, die sagen: Für mich selbst oder für die Kinder, zum eigenen Überleben oder zum Überleben der Kinder würde ich im Fall der Fälle zum Beispiel auf ein Spenderherz verzichten; das sind nur sehr, sehr wenige. Die allermeisten sind potenzielle Organempfänger. Da stellt sich schon die Frage, ob man dann nicht davon ausgehen kann, dass jeder potenzieller Organspender ist, außer er sagt – begründungsfrei – ganz einfach Nein. Das ist die Frage, um die es geht. Ich finde: Ja, das lässt sich gut verargumentieren und rechtfertigen. Ist das eine Zumutung? Ja, es ist eine Zumutung – aber eine, die Menschenleben rettet.

Das ist der Kern der Abstimmung heute: Ist das zumutbar? Ist diese Zumutung zumutbar? Hier war viel von Selbstbestimmung die Rede. Ja, es geht um die Selbstbestimmung des Einzelnen über die Frage: Was soll mit meinen Organen nach dem Tod passieren? Aber ich bitte, auch die Selbstbestimmung – das Beispiel ist genannt worden – etwa von Kindern zu sehen, von Patienten zu sehen, die über Monate, teilweise Jahre gezwungen sind, im Krankenhaus in einem Zimmer mit einer großen Maschine neben sich zu leben, weil es kein Spenderorgan gibt, zu sehen, was das für die Familien und die Patienten bedeutet. Auch um deren Selbstbestimmung und Freiheit geht es in dieser Debatte.

Auch da ist das Wort „Selbstbestimmung“ gerechtfertigt. Im Kern geht es bei der Frage „Ist das zumutbar?“ genau um diese Abwägung. Da gibt es kein Richtig oder Falsch, kein absolut Gutes oder Böses. Es ist eine Abwägungsfrage: Wir wägen die Freiheit, nicht entscheiden zu müssen, ab gegen die Freiheit der Patientinnen und Patienten, ihrer Angehörigen, die stark eingeschränkt sind und denen im Extremfall dann der Tod droht.

Eins will ich abschließend sagen, Herr Präsident: Ich habe über Jahre mit den gleichen Argumenten, die gerade einige Kolleginnen und Kollegen vorgebracht haben, selbst für die Zustimmungslösung geworben, für das, was heute gilt, zum Teil mit den gleichen Argumenten. Wenn Hermann Gröhe, Ulla Schmidt sagen, auch sie wollen sich nicht abfinden mit der jetzigen Lage, wie sie ist: Die Wahrheit ist, der andere Gesetzentwurf ändert an der heutigen Lage nichts, außer dass die Hausärzte vielleicht noch ein bisschen Geld für das bekommen, was sie tun. Das ist die Wahrheit.

 

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