Friedrich Kronenberg fordert von der katholischen Kirche eine zeitgerechte rechtliche Verfassung und soziale Verfasstheit, damit sie zur Stärkung des gesellschaftlichen Wertefundaments beitragen kann.
Den folgenden Text können Sie hier ausdrucken.
Friedrich Kronenberg
Plädoyer für die kirchliche Gewaltenteilung
Daniel Deckers hat im Zusammenhang mit dem geistlichen Machtmissbrauch in der katholischen Kirche mit Recht von „verschleppten Entscheidungen“ (FAZ vom 9. März 2019 S. 8) bei der Schaffung kirchlicher Verwaltungsgerichte gesprochen. Ich habe mir, der ich mich in vielfältigen kirchlichen Aufgaben ehrenamtlich und hauptamtlich engagierte habe, in jungen Jahren niemals vorstellen können, dass mich kirchenrechtliche Fragen bis ins hohe Alter so sehr begleiten und herausfordern würden, wie das durch diese verschleppten Entscheidungen geschieht.
Diese verschleppten Entscheidungen führen zu verschleppten Chancen, die allerdings – Gott sei Dank – keine komplett vertanen Chancen sind. Auch heute eröffnen sich Chancen für das kirchliche Leben, wenn die Entscheidungen im Bereich der kirchlichen Rechtsordnung nun endlich getroffen werden. Eine Institution Kirche, in der es heute keine Gewaltenteilung gibt, ist jedenfalls aus der Zeit gefallen und kann ihren Sendungsauftrag nicht erfüllen. Da diese Feststellung unter kirchlichen Amtsträgern strittig ist, sollte die Frage der kirchlichen Gewaltenteilung im Streit öffentlich diskutiert werden. Ohne die vorbehaltlose Einbeziehung der Öffentlichkeit in diesen argumentativen Streit können solche Fragen in einer Institution, die in unserer Gesellschaft wirksam sein will, nicht beantwortet werden, es sei denn, man verzichtet auf gesellschaftliches Wirken und zieht sich ins Ghetto zurück.
Es geht hier keineswegs um Demokratisierung der Kirche. Nicht das Volk Gottes ist der Souverän der Kirche, sondern Gott selbst in Jesus Christus, der seine Jünger und damit die Kirche in die Welt gesandt hat. Die Sendung der Kirche in die Welt von heute verlangt aber eine kirchliche Rechtsordnung, die der Institution Kirche ein kirchliches Wirken in unserer Gesellschaft ermöglicht. Das II. Vatikanische Konzil hat hierfür Grundlagen geschaffen, die bis heute noch weithin der Verwirklichung bedürfen. Aber das Konzil ist „nicht vom Himmel gefallen“, es ist auch in den vorangehenden Jahrzehnten vorbereitet worden. Zu diesen Vorbereitungen gehören in Deutschland bestimmte Entwicklungen im Laienkatholizismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Für viele katholische Laien in Deutschland war das Konzil über den konziliaren Aufbruch hinaus eine Bestätigung ihres Engagements. Viele Initiativen der katholischen Jugendbewegung, der liturgischen Bewegung, der Laienbewegungen von Frauen, Männern, Familien und unterschiedlichen sozialen und beruflichen Gruppierungen und ihres weltweiten solidarischen Engagements, der Ökumene-Bewegung und nicht zuletzt der Bibelbewegung haben zu einer lebendigen Kirche in Deutschland geführt, die nicht nur durch das Konzil Anerkennung fand, die vielmehr auch eine entscheidende Voraussetzung dafür war, dass dieses Konzil möglich und fruchtbar wurde. Selbstverständlich gab es auch viele andere Initiativen in der Kirche, die entscheidende Voraussetzungen für das Gelingen des Konzils waren, die wissenschaftliche Theologie etwa oder soziale Entwicklungen in Kirchen anderer Länder. Aber natürlich gab es zu diesen Initiativen in der Kirche in Deutschland in aller Regel lebhafte Verbindungen.
Was aber die in der Vorgeschichte des Konzils zu entdeckenden Entwicklungen des deutschen Laienkatholizismus anbelangt: alle diese genannten Initiativen entwickelten sich im Wesentlichen auf der Basis des bürgerlichen Koalitionsrechtes, wie es 1848 in der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche formuliert worden war. Die lebendige Kirche, die auch zum Konzil führte und durch dieses Konzil ihre Bestätigung fand, entwickelte sich weithin außerhalb der kirchenrechtlichen Ordnung und zwar im Rahmen der Bürgerrechte. Die Tatsache, dass die Kirche in Deutschland vor dem Konzil zu einem beachtlichen Teil nicht auf der Basis kirchlicher Rechte sondern auf der Basis bürgerlicher Rechte lebendig war, bedeutet keine Ablehnung kirchlicher Rechte. Vielmehr ist sie die Antwort darauf, dass es kirchliche Rechte als Grundlage einer zeitgemäßen, lebendigen Kirche nicht gab. Nach den Beschlüssen des Konzils hätten die auf der Basis der bürgerlichen Rechtsordnung entstandenen Initiativen auch eine kirchenrechtliche Grundlage erhalten können. Diese Chance ist weitgehend vertan worden.
Nach dem Konzil hat der Essener Katholikentag 1968 mit seinem Leitwort „mitten in dieser Welt“ die Ergebnisse des Konzils in lebhaften, teils heftigen Diskussionen begrüßt und ihre Umsetzung in Deutschland gefordert. Der Katholikentag hat aber nicht nur Forderungen formuliert, er hat auch den Anstoß zur Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1970-1975) gegeben. Und diese Synode hat Entscheidungen getroffen, die bis heute nicht umgesetzt sind:
- durch den Vatikan, der auf entsprechende Voten der Synode bis heute nicht geantwortet hat, obwohl er dem Synodenstatut, das diesen Voten die rechtliche Grundlage gab, ausdrücklich zugestimmt hat und obwohl er dieses zunächst als konziliares Modell für zukünftige Nationalsynoden gewertet hat;
- durch die Deutsche Bischofskonferenz, die bis heute das „Obere Verwaltungsgericht“, besetzt von drei Priestern und zwei Laien, nicht eingerichtet hat, das in der von der Synode beschlossenen „Kirchlichen Verwaltungsgerichtsordnung – KVGO“ vorgesehen ist;
- durch die Bistümer, die die von der Synode vorgesehenen kirchlichen Verwaltungsgerichte nicht errichtet haben.
Diese Beispiele, die für viele weitere stehen, zeigen, dass die kirchliche Institution ihren Aufgaben für ihre Gläubigen seit Jahrzehnten nicht gerecht geworden ist. Die gegenwärtig diskutierten Vorgänge geistlichen Machtmissbrauchs zeigen dies in erschreckender Deutlichkeit.
Es wird Zeit für eine öffentliche Diskussion aller dieser Vorgänge, damit die Institution der katholischen Kirche umfassender erkennt, dass die Institution Kirche Gott und seinem Volk zu dienen hat und nicht das Gottesvolk der Institution. Zwar ist die von Menschen geschaffene Institution der Kirche unverzichtbar, aber sie hat Jesus Christus und seinen Jüngerinnen und Jüngern zu dienen und nicht umgekehrt. Ich denke, dass das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), der Veranstalter des Essener Katholikentages sowie Mitinitiator und – wenn man so will – Mitveranstalter der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland – aber natürlich auch alle seine Mitglieder – in Zukunft immer wieder darauf hinweisen werden, dass deutsche Katholiken mit ihren Initiativen im vorkonziliaren Jahrhundert das Konzil mit ermöglicht haben und dass die Entscheidungen des Konzils und der Synode im gegenwärtigen konziliaren Jahrhundert nicht weiterhin verschleppt werden dürfen.
Bisher verschleppte Entscheidungen dürfen nicht weiterhin die Chancen der Gegenwart und der Zukunft der Kirche behindern. Zwar liegt die Zukunft der Kirche in Gottes Hand, aber Gott baut auch auf das Engagement der Jüngerinnen und Jünger Jesu Christi. Und dieser Tatsache muss die Institution der Kirche gerecht werden. Und daher müssen wir uns auch in der Weltkirche immer wieder neu dafür einsetzen, dass sie in ihrer institutionellen Rechtsordnung das Konzil umfassender verwirklicht.
Gott sei Dank gibt es viele Priester, auch Bischöfe, die den geistlichen Machtmissbrauch als solchen benennen und verurteilen und die eine Gewaltenteilung in der Institution der Kirche für zwingend erforderlich halten. Das wurde auch in der jüngsten Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz deutlich. Der einstimmig gefasste Beschluss, gemeinsam mit dem ZdK einen „verbindlichen synodalen Weg als Kirche in Deutschland“ beschreiten zu wollen, um sich mit systemischen Ursachen sexualisierter Gewalt in der Kirche auseinanderzusetzen, zeigt den klaren Willen, einen neuen Aufbruch zu wagen.
Kardinal Marx, der Vorsitzende der Bischofskonferenz, nennt drei Themen, die auf dem synodalen Weg beraten werden sollen:
- Abbau klerikaler Macht, Aufbau einer gerechteren und rechtlich verbindlichen Ordnung, Errichtung von Verwaltungsgerichten;
- Änderungen der Lebensform von Bischöfen und Priestern;
- Rezipieren entscheidender Erkenntnisse aus Theologie und Humanwissenschaften in der Sexualmoral.
Die weiteren Schritte auf diesem Weg bedürfen kritischer Begleitung. Ein synodaler Weg setzt grundsätzlich Synoden voraus. Versteht er sich als Synodenersatz, missbraucht er den synodalen Gedanken. Der Hinweis, Synoden etwa nach dem Vorbild der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland 1970-1975 seien nach dem Kirchlichen Gesetzbuch nicht möglich, geht an der Sache vorbei. Auch die Würzburger Synode war nach dem damaligen Kirchenrecht nicht möglich, sondern bedurfte der ausdrücklichen Ausnahmegenehmigung des Vatikans. Diese Ausnahmegenehmigung muss eingeholt werden. Es besteht durchaus die Hoffnung, Papst Franziskus würde sie erteilen. Einen synodalen Weg geht nur, wer diejenigen, die eine Synode wollen, zu diesem Weg einlädt und dem es gelingt, dass alle, die eine Synode wollen, auf diesem Weg mitgehen. Synode heißt – dem Wortsinne nach – gemeinsam unterwegs sein!
Es genügt nicht, eine dem Konzil gemäße Rechtsordnung allein auf der Ebene der Bistümer und der Bischofskonferenz anzustreben. Auch auf der Ebene der Weltkirche muss das geschehen. Die Hoffnung nach dem Konzil, der Codex Iuris Canonici (CIC) von 1983 würde die Ergebnisse des Konzils rechtlich wiedergeben, ist leider teilweise unerfüllt geblieben und bedarf dringend weiterer Bemühungen. Hier sind die Bischöfe und die Bischofskonferenz zusätzlich gefordert. Nachdem der zunächst vorgesehene Grundrechtsteil, der den Geist des Konzils atmete, in einer letzten Redaktion entfiel, gibt es unbedingten Nachholbedarf. Hilfreich wäre auch eine Intensivierung der zeitgeschichtlichen Forschung, die sich der rechtlichen Verfassung und der sozialen Verfasstheit der katholischen Kirche und des Katholizismus in Deutschland zuwendet und systemische Ursachen für kirchlichen Machtmissbrauch herausarbeitet.
Ohne Gewaltenteilung und ohne den Versuch, die Fundamentalrechte der Gläubigen in einer zeitgerechten Weise zu formulieren, ist eine kirchliche Rechtsordnung für heute und morgen nicht zu schaffen. Auch unser politisches Gemeinwesen kann erwarten, dass die Kirche eine zeitgerechte rechtliche Verfassung und soziale Verfasstheit anstrebt, damit sie zur Stärkung des gesellschaftlichen Wertefundaments beitragen kann. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde 1967).
Dr. Dr. h.c. Friedrich Kronenberg (1933) hat Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert. 1960-64 war er hauptamtlicher Leiter der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg, 1966 – 1999 Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) sowie stv. Sekretär der Würzburger Synode 1970 – 1975 und 1983-1990 Mitglied des Deutschen Bundestages. 1982 – 2003 war er Vorsitzender der Kommission für Zeitgeschichte und 2001 – 2009 Vorsitzender des Maximilian-Kolbe-Werkes. Er ist Mitherausgeber von kreuz-und-quer.de