Wolfgang Schäuble unterstreicht, wie sehr wehrhafte Demokratie Bürger braucht, die willens und fähig sind, Extremisten zu isolieren und zu ächten.
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Wolfang Schäuble
Der wehrhafte Verfassungsstaat braucht streitbare Demokraten
Bonn war bekanntlich nicht Weimar – und die Berliner Republik ist auch nicht auf dem Weg dorthin. Wer zuletzt mit der Fernsehserie „Babylon Berlin“ in die Atmosphäre der krisengeschüttelten Zwanziger Jahre abgetaucht ist, wird vor allem eins erkannt haben: Von den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen führen keine Parallelen in die Gegenwart, es dominieren vielmehr die Kontraste – ökonomisch, sozial und politisch. Deshalb sollten wir die gegenwärtige Lage auch nicht mit überspannten Vergleichen unnötig dramatisieren.
Wir erleben allerdings, dass unsere Gesellschaft unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung heterogener, unübersichtlicher und auch konfliktreicher wird. Die politischen Debatten werden rigider und unversöhnlicher geführt, als wir es lange gewohnt waren, bis hin zu offenem Hass und hemmungsloser Gewalt auf der Straße. Unsere freiheitliche Demokratie ist einem Stresstest unterworfen, und wir lernen neu oder auch erst jetzt, dass nichts voraussetzungslos ist, nichts selbstverständlich und nichts gesichert.
Die freiheitliche Demokratie ist fragil und anspruchsvoll. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten das. Ihnen stand das Scheitern von Weimar als mahnendes Beispiel vor Augen. Die Reichsverfassung hatte 1919 die „demokratischste Demokratie der Welt“ begründet, wie der damalige Reichsinnenminister Eduard David stolz postulierte – allerdings mit fatalen Konsequenzen. Wolle sich die Demokratie selbst treu bleiben, befand der Staatsrechtler Hans Kelsen, müsse sie auch eine auf Vernichtung der Demokratie gerichtete Bewegung dulden. Entsprechend verzichtete man auf verfassungsrechtliche Schutzfunktionen und gab dadurch die Ordnung ihren Feinden preis, die sie auf demokratischen Weg aushöhlten und am Ende tatsächlich abschafften.
Aus dieser „suizidalen Lethargie“ (Karl Loewenstein) zog man vor 70 Jahren die richtigen Lehren. Geprägt von den Abgründen deutscher Schuld und als Konsequenz aus dem demokratischen Relativismus der Weimarer Reichsverfassung begründet das Grundgesetz eine wertegebundene und zugleich wehrhafte Demokratie. Die Vertreter der unterschiedlichen Parteien und Denkschulen im Parlamentarischen Rat bestimmten als Antwort auf die Diktatur-Erfahrung und den industrialisierten Völkermord in Artikel 1 des Grundgesetzes die unverletzliche Würde des Menschen zur Grundlage der neuen Rechtsordnung und zum entscheidenden Maßstab aller Politik. Darauf gründet unser Staat, und wer daran rüttelt, legt Hand an unsere Ordnung.
Unser Verfassungsstaat hat das Recht und den Willen, sich gegen seine Feinde von außen und innen zu verteidigen. Wehrhaft ist unser Gemeinwesen in Bezug auf seine demokratische Organisation wie in Bezug auf die gewährten Grundwerte. Deshalb sollten wir auch statt von der wehrhaften Demokratie treffender vom wehrhaften Verfassungsstaat reden. Er sichert in einem Geflecht von Regelungen und Institutionen – von der Ewigkeitsklausel über die Gewaltenteilung bis zum Föderalismus, vom Berufsbeamtentum über die Verfassungsgerichtsbarkeit bis zu den Geheimdiensten – das Demokratieprinzip und begrenzt zugleich die Macht der Mehrheit.
Denn Mehrheit sichert noch keine Freiheit. Das sieht man überall dort, wo die Demokratie gegen den Rechtsstaat ausgespielt wird – auf Kosten der Rechte, die den Einzelnen vor der Mehrheit und vor staatlicher Willkür schützen. Das Recht schützt den Schwächeren. Und der Rechtsstaat hat die Pflicht, das durchzusetzen. Auch in Deutschland begegnet uns die populistische Anmaßung, ‚das‘ Volk gegen politische Gegner, gegen vermeintliche und tatsächliche Minderheiten, auch gegen die vom Volk Gewählten in Stellung zu bringen. Aber niemand hat das Recht zu behaupten, er allein vertrete ‚das‘ Volk. Der Souverän ist keine Einheit, sondern eine Vielheit widerstreitender Kräfte. So etwas wie ein Volkswille entsteht erst in der Debatte und nur durch Mehrheiten, die sich ändern können. Die Gewaltfreiheit steht dabei in der freiheitlichen Demokratie über allen Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten. Wer dagegen verstößt, muss die rechtsstaatlichen Konsequenzen zu spüren bekommen. Das Gewaltmonopol des Staates und die Durchsetzung des Rechts sind nicht relativierbar.
Die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie erschöpft sich nicht in Verboten, auch nicht in der Beobachtung durch den Verfassungsschutz oder den Möglichkeiten des Strafrechts, wenn gegen Gesetze verstoßen wurde. Vielmehr muss auch die Mehrheit der Bürger in der Demokratie willens und fähig dazu sein, Extremisten zu isolieren und zu ächten. Daran gilt es zu erinnern, weil wir immer wieder erleben, dass friedliche Demonstrationen von Gewalttätern als Schutzraum missbraucht werden. Da gibt es zwischen gewalttätigen Chaoten bei Linksextremen und Schlägern bei Rechtsextremen keinen Unterschied. Wenn wir gegenseitige Toleranz und Respekt untereinander sichern wollen, müssen wir darauf bestehen, dass Gewalt oder die Aufforderung zur Gewalt genauso verboten sind, wie die Verwendung von Parolen und Symbolen, die den demokratisch-rechtsstaatlichen Grundkonsens unserer Republik in Frage stellen.
Die wehrhafte Sicherung von Demokratie und Verfassungsordnung ist ein wichtiger Fortschritt im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung. Eine „Versicherungspolice gegen alle Erosionen von Demokratie und Rechtsstaat“ ist sie nicht, wie der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio zurecht unlängst betonte (FAZ, 27.9.2018). Eine Verfassung kann bessere oder schlechtere Rahmenbedingungen schaffen, sie bleibt aber ein Rahmen, der durch die Politik ausgefüllt und von den Menschen getragen werden muss. Die Demokratie lebt eben auch von Voraussetzungen, die der Staat nicht schaffen kann. Von einem Wertebewusstsein und einer politischen Kultur, in der man die gesellschaftliche Vielheit annimmt und trotzdem zu gemeinsamen Handeln kommt: durch Ausgleich und für alle tragbare Entscheidungen. Dazu gehört die Bereitschaft, das Gegenüber zu achten und die demokratischen Verfahren zu akzeptieren, das heißt vor allem: die am Ende zustande gekommenen Beschlüsse der Mehrheit mitzutragen, die allerdings nie auf Ewigkeit angelegt sind.
Weimar fehlte es am demokratischen Selbstbehauptungswillen, an einer demokratischen Streitkultur und der Fähigkeit zum Kompromiss. Auch heute braucht es Demokraten, die bei allem Dissens in der Sache den Grundkonsens über die demokratischen Verfahrensregeln bewahren, diesen „nicht-kontroversen Sektor“ (Ernst Fraenkel) in einer ansonsten plural verfassten Gesellschaft. Darauf müssen wir bestehen und dafür müssen Demokraten streiten.
Dr. Wolfgang Schäuble (1942) ist seit 1972 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2017 Parlamentspräsident. Er Bundesfinanzminister (2009 – 2017), Bundesinnenminister (2005 – 2009 und 1989 – 1991), Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (1991-2000) und Chef des Bundeskanzleramts (1984 – 1989).