WAS BRAUCHT DIE DEMOKRATIE ?

Hubert Wissing plädiert für das Ringen um Kompromisse, um die aus Sicht der eigenen Partei zweit- oder drittbeste Lösung, wenn es Gegenwind in den eigenen Reihen gibt und auf der anderen Seite unter demselben Druck nach einem Weg zueinander gesucht wird.

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Hubert Wissing

Was braucht die Demokratie?

2017 war ein bewegtes Jahr für die Demokratie. Zwar waren die Wahlergebnisse im Weltmaßstab weniger spektakulär als 2016, als die Briten den Brexit beschlossen haben und in den USA Donald Trump ins Präsidentenamt gekommen ist. Aber es gab auch in diesem Jahr einige bemerkenswerte und folgenreiche Entwicklungen.

In Frankreich wurde 2017 ein Präsident gewählt, der eine neue Bewegung der politischen Mitte anführt. Dadurch wurde die Gefahr, dass eine Rechtspopulistin an die Macht kommt und mittelfristig die Europäische Union sprengt, vorerst gebannt. Bei unseren niederländischen Nachbarn fiel das Ergebnis weitaus komplizierter aus. Aber auch hier konnte verhindert werden, dass der rechtspopulistische, islamophobe Kandidat als stärkste Kraft den Ton angibt. Und nach mehreren Monaten und mehreren gescheiterten Anläufen ist auch tatsächlich eine Regierungsbildung in einer bislang unbekannten Konstellation gelungen – immerhin.

So weit sind wir in Deutschland derzeit noch nicht. Was braucht es nun, damit in absehbarer Zeit wieder eine gewählte Bundesregierung im Amt ist. Was braucht unsere parlamentarische Demokratie?

Sie braucht, das wurde in den vergangenen Wochen vielfach beschworen, eine lebendige Opposition. Die kam in den letzten Jahren der Großen Koalition zu kurz. Die parlamentarische Opposition aus Linken und Grünen konnte wenig ausrichten, das Geschehen im Bundestag war – mit Ausnahme von Abstimmungen über fraktionsübergreifende Gruppenanträge wie im Fall des Verbots der organisierten Suizidbeihilfe – tatsächlich weithin alternativlos. Die außerparlamentarische Opposition formierte sich, frei von politischer Verantwortung, umso sichtbarer und konfliktorientierter.

In der neuen Wahlperiode sieht es anders aus. Der Bundestag wird aus sieben Parteien in sechs Fraktionen und bislang zwei fraktionslosen Abgeordneten zusammengesetzt. Darin gibt es ein Überangebot an Opposition. Um die parlamentarische Opposition muss man sich in dieser Legislaturperiode wohl keine Sorgen machen.

Trotz 73% Stimmen für Parteien der Mitte kann auch mehrere Monate nach der Wahl von einer konkreten Regierungsbildung noch keine Rede sein. Es ist eine Binsenweisheit: Demokratie braucht nicht nur Opposition, sie braucht auch die Bereitschaft zur Regierungsverantwortung. Ob die SPD diesmal die Kurve noch kriegt und einer – gar nicht mehr so – großen Koalition zustimmen wird, ist mit Spannung abzuwarten.

Unbestritten ist, dass in unserer politischen Ordnung die Parteien eine herausgehobene Bedeutung haben und es daher alle Demokraten nachdenklich machen muss, wenn Parteien wie der SPD bei der Bundestagswahl 2017 zum wiederholten Mal und der FDP vor vier Jahren der Boden unter den Füßen weggebrochen ist. Aber das Wohl der Parteien und ihre Sehnsucht nach unverfälschter Programmatik darf nicht über dem Wohl des Landes stehen. Parteiraison darf nicht Staatsraison ausstechen.

Das heißt: Demokratie braucht nicht nur profilierte Programme, sondern auch Kompromisse. Über Lagergrenzen hinweg Vertrauen zu bilden und zu Lösungen zu kommen, die vielleicht nicht allen Beteiligten schmecken, aber mit denen alle leben können, zeichnet Demokraten aus. Ihre Qualitäten zeigen sich nicht, wenn sie Rückenwind haben und auf einer Welle der Sympathie 100 Prozent Zustimmung in den eigenen Reihen erfahren. Eine demokratische Bewährungsprobe ist vielmehr das Ringen um die aus Sicht der eigenen Partei zweit- oder drittbeste Lösung, wenn es Gegenwind in den eigenen Reihen gibt und auf der anderen Seite unter demselben Druck nach einem Weg zueinander gesucht wird.

Dafür gibt es viele Beispiele. So stehen, ganz unabhängig von Parteigrenzen, auch Christen in der Politik immer wieder vor der Herausforderung, um des Gemeinwohls und des gesellschaftlichen Friedens willen Kompromisse zu suchen und einzugehen. In exemplarischer Weise ist es in den Gesetzen zum Schutz des ungeborenen Lebens und zum Verbot der organisierten Suizidbeihilfe gerade durch die Mitwirkung von Politikern, die sich aus christlicher Motivation und Betroffenheit engagieren, gelungen, die Güter Lebensschutz und Selbstbestimmung in einen verträglichen Ausgleich bringen und mehrheitsfähige Kompromisse zu erarbeiten.

Gerade wenn in diesen Tagen der deutsche Weg beim Schutz des ungeborenen Lebens, ausgehend von der Diskussion über den § 219a StGB, wieder einmal in fahrlässiger Weise in Frage gestellt wird, führt uns das auch die historische Leistung, diesen Mittelweg in einer Frage, die eigentlich gar keinen Mittelweg erlaubt, gefunden zu haben, noch einmal deutlich vor Augen.

Und es drängt sich der Gedanke auf: Wenn solches möglich war, sollten doch eigentlich auch mehrheitsfähige Fahrpläne zum Beispiel für den Kohleausstieg, eine demografiefeste Rentenversicherung oder einen Abbau des Solidaritätszuschlags auszuhandeln sein.

 

Dr. Hubert Wissing (1973) ist Kultur- und Sozialwissenschaftler. Seit 2010 leitet er die Arbeitsgruppe „Kirche und Gesellschaft“ im Generalsekretariat des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Schwerpunktthemen seiner Arbeit sind politische Grundsatzfragen, Bioethik und Familienpolitik.

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