MUSLIM SEIN IN DEUTSCHLAND

Mouhanad Khorchide plädiert für einen Islam, der mit den Werten Europas harmoniert und sich so im friedlichen Zusammenleben entfalten kann.

 

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Mouhanad Khorchide

Muslim sein in Deutschland

Der Islam ist eine der Weltreligionen und die jüngste der drei monotheistischen Religio­nen. Der Islam sieht sich also keineswegs als Abbruch der monotheistischen Tradition, sondern als deren Fortführung, allerdings in einer eigenen Ausprägung. Auch der Islam selbst kennt eine Bandbreite an Ausprägungen, die zum Teil theologisch, zum Teil aber kulturell und gesell­schaftlich geprägt sind. Auch wenn all diese Ausprägungen und Tradi­tionen innerhalb des Is­lams einen gemeinsamen Kern haben, der vor allem in den Glau­benssätzen, den religiösen Ri­tualen und dem ethischen Rahmen besteht, unterscheidet sich der indonesische Islam von dem saudischen, von dem marokkanischen etc. Auch durch die Muslime in Deutschland, die zum Teil seit über sechzig Jahren hier in dieser Gesellschaft leben, etabliert sich ein deutschge­prägter Islam.

Die Frage, die viele Muslime beschäftigt, lautet: Wie kann ich als Muslim in Deutschland meine Religion leben und erleben, und zwar ohne vor der Wahl zu stehen, selbstbewusster Bürger Deutschlands und Teil dieser Gesellschaft auf der einen Seite oder ein praktizieren­der Muslim auf der anderen Seite zu sein. Ein Islam deutscher Prägung strebt ein „So­wohl-als-auch“ dieser beiden Dimensionen an. Für die Mehrheitsgesellschaft stellt sich die Fra­ge: Wel­cher Islam ist europatauglich und trägt zum friedlichen und konstruktiven Zusam­menleben der Menschen bei? Diese Frage ist gerade im Hinblick auf die Terroranschläge im Namen des Islams, aber auch im Hinblick auf die wachsende Zahl salafistisch und fun­damentalistisch ori­entierter muslimischer Jugendlicher mehr als berechtigt.

Zwei Fragen stehen im Mittelpunkt des Muslimseins in Deutschland: Welchen Islam braucht Deutschland und welches Deutschland braucht der Islam? Ich möchte hier in we­nigen Stich­worten auf beide Fragen eingehen.

Welchen Islam braucht Deutschland?

Der Islam ist kein auf sich selbst bezogenes Objekt, die Muslime sind die Subjekte, die sich mit ihm auseinandersetzen und ihn auslegen. Der Islam ist also letztendlich das, was die Mus­lime selbst daraus machen. Es gibt Muslime, die den Islam auf die eine, andere Muslime, die ihn auf die andere Weise verstehen und so ergibt sich auch in Deutschland eine Bandbreite an Verständnissen und Religiositäten. Europa benötigt einen Islam, der mit den „unveräußerli­chen Werten“ Europas harmoniert. Es handelt sich unter anderem um folgende Werte:

– Die Würdigung der Pluralität unserer Gesellschaft
Dies impliziert vor allem die Anerkennung und Würdigung des „Anderen“ in seiner Andersh­eit. Dieser „Andere“ kann der weltanschauliche, der ethnische, der nationale, der po­litische Andere sein, aber auch der, der anders sexuell orientiert ist.

– Säkularität als Trennung von Kirche und Staat
Gerade in der arabischen Welt wird Säkularität nicht lediglich als Trennung von Kirche und Staat verstanden, sondern im Sinne des französischen Modells der laïcité als radikal betriebe­ne Säkularität und daher von der Überzeugung geleitet, dass nur eine nachreligiöse Denkwei­se zukunftsweisend sei, dass religiöse Praktiken und Denkweisen vormodern sei­en. Die Kon­sequenz daraus ist eine Abwehrhaltung bei vielen, vor allem arabischen, Mus­limen gegenüber dem Begriff „Säkularität“. Die Säkularität, wie sie in Westeuropa ver­standen und praktiziert wird, bedeutet, dass es keine Staatsreligion geben darf. Diese Form der Säkularität will so­wohl den Staat vor religiösen Machtansprüchen als auch Religionen vor politischer Instru­mentalisierung schützen und ist daher als Basis für die religiöse Neu­tralität des Staates zu ver­stehen. In einem säkularen Staat wird niemand zu einem Glauben gezwungen. Gleichzeitig wird die religiöse Gemeinde vor staatlichen Eingriffen geschützt und der Staat verzichtet auf die Favorisierung einer spezifischen religiösen oder säkularen Weltsicht.

Der Islam kann ein Teil Europas sein, wenn Muslime nicht den Anspruch auf ein Parallel­recht stellen. Dies setzt eine historische Lesart der einzelnen juristischen Regelungen im Ko­ran und in der prophetischen Tradition (Sunna), die die Gesellschaftsordnung betreffen, vor­aus. Demnach soll es heute nicht um die wortwörtliche Übertragung einzelner juristi­scher Re­gelungen, die aus dem historischen Kontext des 7. Jahrhunderts auf der arabi­schen Halbinsel gewachsen sind (z.B. im Strafrecht), gehen, sondern um das Streben nach der Entfaltung der ethischen und spirituellen Botschaft des Korans.

– Freiheit, Gleichheit und Solidarität
Diese drei zentralen Werte der Französischen Revolution sind für ein friedliches und kon­struktives Zusammenleben unentbehrlich. Josef Freise interpretiert sie für uns heute als Ver­bundenheit, Solidarität und „compassion“. Auch wenn diese Werte zumeist als säkula­re und „religionsfreie“ Werte verstanden werden, muss jeder diese mit der eigenen religi­ösen oder nichtreligiösen Tradition verbinden. Werte müssen zur gelebten Lebenswirklich­keit werden, damit sie keine leeren Parolen bleiben.

– Menschenrechte und Demokratie
Diese müssen als universale Rechte in die eigene religiöse Selbstverständlichkeit eingebund­en werden. Die Scharia-Vorbehalte der Kairoer Menschenrechtserklärung sind irre­führend, weil sie vor allem suggerieren, es gäbe die Scharia als vom Himmel gefallenes Gesetzesbuch. Dabei ist die Scharia ein menschliches Konstrukt, sie ist die Summe der Be­mühungen der Ge­lehrten, den Islam auszulegen. Die Gelehrten sind aber nur Kinder ihrer Zeit und der Kon­texte, in denen sie wirken. Dies gilt genauso für manche Positionen, die die Geschlechterrol­len im Islam angehen. Auch diese müssen im heutigen Kontext kritisch reflektiert werden.

Aber welches Deutschland braucht der Islam?

Gerade Muslime, die hier geboren und aufgewachsen sind, haben hohe Erwartungen an Deutschland. Hier, wo sie geboren und aufgewachsen sind, wünschen sie sich eine Hei­mat, die ihnen nicht nur Chancengleichheit im Bildungssektor, am Arbeitsmarkt und am Woh­nungsmarkt bietet, sondern auch eine innere Heimat, in der sie sich als anerkannte Menschen entfalten können. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt und haben die Ju­gendlichen das Gefühl, diskriminiert zu sein, dann kommt es zu verschiedenen Reaktio­nen. Manche kapseln sich ab, sie gehen zu beiden Systemen – zur Kultur der Eltern und zur Mehrheitsgesellschaft – auf Distanz. In der Literatur werden sie meist als „Marginali­sierte“ bezeichnet.

Andere Ju­gendliche nutzen allerdings die ihnen in den europäischen Gesellschaften gebotenen Chancen, sich in sie einzubinden und entsprechend aufzusteigen. Sie verharren nicht in einem Opferdis­kurs, der ihnen einreden will, dass die Gesellschaft ihr Feindbild sei, sondern entfalten ihre Identität, auch ihre Zugehörigkeit zum Islam, auf eine Art und Weise, die ihnen erlaubt, in ih­rem Glauben sogar eine Ressource zu sehen, sich aktiv an der Mitgestaltung ihrer Gesell­schaft zu beteiligen. Diese Jugendlichen neh­men ihre Verantwortung für sich und für die Ge­sellschaft ernst und definieren sich selbst als Teil der europäischen Bevölkerung.

Viele Jugendliche greifen aber auch reaktiv bei der Suche nach einem sicheren „Wir-Ge­fühl“ auf die Religion zurück. Auf die Frage, als was sie sich fühlen, geben sie an, haupt­sächlich als Muslime, der Islam würde für sie sehr viel bedeuten. Für die Konstruktion ei­ner kollektiven Identität bedienen sich diese Jugendlichen eines Islam „ohne Inhalt“. Die Religion dient der Konstruktion einer kollektiven Identität, die auch Schutz vor dem „An­deren“ bietet. Diese Ju­gendlichen stützen sich also auf ausgehöhlte (entkernte) Identitäten. Sie fühlen sich als un­willkommene Ausländer und als benachteiligte Außenseiter. Durch den Islam, der vor allem als Bindeglied zu anderen Migrantenjugendlichen gleicher Her­kunft bzw. Religion gesehen wird, können sie ein gewisses Gefühl der Sicherheit aufbau­en.

Diese religiöse kollektive Identität ist also oft als Reaktion zu verstehen – einerseits auf die Erwartungen der Eltern und der eigenen Community, andererseits auf das Gefühl der Nicht-Anerkennung seitens der Mehrheitsgesellschaft. Gerade aus dem letztgenannten Punkt wird diese Identität über die Beschreibung des Anderen und weniger über die Be­schreibung des Ei­genen skizziert. Das heißt: Wenn Jugendliche beschreiben, was sie als Muslime ausmacht, ge­ben sie weniger an, was sie sind, sondern vielmehr, was sie nicht sind.

Der Islam benötigt ein Europa, das ihm Raum gibt, in dem er sich entfalten kann. Anders kommen Muslime aus der Rechtfertigungsposition nicht heraus, um sich selbst die zentrale Frage stellen zu können: „Wie können wir die Gesellschaft bereichern, was können wir bei­tragen?“


Univ.-Prof. Dr. Mouhanad Khorchide (1971) ist in Beiru geboren und in Saudi-Arabi­en aufgewachsen. Er studierte Isla­mische Theologie und Soziologie in Beirut und Wien, wo er 2008 promo­vierte. Seit 2010 ist er Professor für Islamische Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und seit 2011 Leiter des Zentrums für Islamische Theologie Münster.

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