Andreas Heller und Susanne Kränzle beleuchten aus der Sicht von Theorie und Praxis die Herausforderungen von Hospizarbeit als empathischen Mitsorge im Leiden und insbesondere im existenziellen Schmerz des Abschieds.
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Andreas Heller und Susanne Kränzle
Hospizarbeit konkret in Praxis und Theorie
Ende letzten Jahres wurden nach eingehenden Debatten und Beratungen der parlamentarischen Abgeordneten die Gesetze zur Regelung der Suizidbehilfe und zur Stärkung der Hospiz- und Palliativversorgung im Bundestag verabschiedet. Immer mehr sollen Menschen Zugang zu einer adäquaten Versorgung am Lebensende erhalten. Das ist erklärter politischer Wille.
Hospizarbeit ist eine Antwort auf die Frage, wie Menschen am Lebensende in dieser Gesellschaft aufgenommen und angenommen werden können in einer Haltung des empathischen Mitgehens und Mitfühlens, in einer Sorge, die aus dem Prinzip der hospizlichen Gastfreundschaft genährt wird und die weiß, dass Schutz manchmal auch bedeutet, Gefahren abzuwenden.
Hospize in Deutschland bieten gleichsam Schutzräume für erkrankte und sterbende Menschen. Insofern sind sie zeitlich begrenzte, eben passagere Beziehungsräume, in denen die Aufmerksamkeit zunächst nicht nur auf das Sterben gerichtet ist, sondern auf die Alltagsrahmung und Alltagsstabilität und darin auf die Möglichkeit von Lichtmomenten im vom drohenden Tod verschatteten Leben der Menschen, ihrer Familien und der BegleiterInnen.
Nimmt man diese wichtige „Asylfunktion“ als die zentrale Aufgabe ernst, so gelten die Regeln einer bedingungslosen jüdisch-christlichen Gastfreundschaft (lat.: hospitium), absichtslose Offenheit, sicherheitsstiftender Schutz und zeitlich befristete, immer aber „bewirtende“ Gastfreundschaft gegenüber den Fremden: „Meine Tür hielt ich dem Wanderer offen“ (Hiob 31,32). Mit dieser hospizlich-theologischen Deutungstradition ist Hospizarbeit ein Dasein und Mitsein im Übergang
In Hospizen werden schwerstkranke und sterbende Menschen, deren Lebenszeit voraussichtlich nur noch Tage, Wochen bis wenige Monate beträgt mit ihren Angehörigen und den Menschen, die zu ihnen gehören, betreut. Auch in der Hospiz- und Palliativversorgung gilt der Grundsatz „ambulant vor stationär“, zumal die meisten Menschen am liebsten in ihrer gewohnten Umgebung sterben möchten. Die Angst vor Schmerzen und dem Alleinsein ist dabei groß. Hospizarbeit ist hier die psychosoziale Begleitung Sterbender und ihrer Angehörigen zuhause, im Pflegeheim oder im Krankenhaus durch geschulte ehrenamtliche Helferinnen. Sehr viele ambulante Hospizdienste haben bereits auch hauptamtliche Mitarbeiterinnen, die u. a. die Schulung und Koordination sowie die Reflektion der Ehrenamtlichen übernehmen. Ambulante Hospizdienste sind inzwischen im Gesundheitssystem fest etabliert, auch wenn sie nicht im eigentlichen Sinne „Leistungserbringer“ sind, sondern sich nach wie vor als bürgerschaftlich engagierte Menschen verstehen. Der Dienst ist für die betroffenen Menschen kostenfrei. Die Gewinnung von Ehrenamtlichen ist sicherlich eine der größten Herausforderungen für die Zukunft der Hospize.
Stationäre Hospize sind spezialisierte Einrichtungen, in denen Menschen Aufnahme finden, wenn sie im Verlauf einer fortschreitenden, tödlichen Erkrankung einen sehr hohen Bedarf an palliativer Medizin, Pflege und Begleitung entwickeln, der anderswo nicht erbracht werden kann. Die Fachkraftquote ist 100%, d. h. Nichtfachkräfte bzw. Auszubildende werden im Stellenplan nicht angerechnet. Ehrenamtliche sind ein nicht wegzudenkender Personenkreis auch in den stationären Hospizen. Die ärztliche Versorgung geschieht durch HausärztInnen und SAPV-ÄrztInnen. Andere Disziplinen wie Seelsorge, Physiotherapie, Kunst-, Musik- oder Atemtherapie werden nach Wunsch und Bedarf der einzelnen Kranken einbezogen. Interdisziplinarität ist selbstverständlich und elementarer Bestandteil der fachlichen Exzellenz in stationären Hospizen.
Der Aufenthalt ist für die Betroffenen kostenfrei und wird von Kranken- und Pflegekassen und vom Träger des jeweiligen Hospizes finanziert. Menschen werden ohne Ansehen ihrer Nationalität, sozialen Herkunft, Lebensform, konfessionellen Zugehörigkeit usw. aufgenommen – Hospize sind „diskriminierungsfreie Zonen“. Angehörige haben die Möglichkeit, jederzeit bei ihrem geliebten Menschen sein zu können, tagsüber wie auch nachts. Das Konzept stationärer Hospize sieht vor, dass sich umfassend im Sinne von Palliative Care um die Kranken und Angehörigen gekümmert wird – sieben Tage in der Woche rund um die Uhr, fachlich hochwertig, menschlich zugewandt, immer orientiert an den Wünschen und Bedürfnissen der Erkrankten.
Hospizarbeit muss sich im Sinne einer Selbstvergewisserung fragen und fragen lassen: Ermöglichen oder verunmöglichen die Kultur, die Struktur, die Ausstattung die existenziellen Begegnungen von Mensch zu Mensch? Oder noch radikaler, ist im Engagement gewährleistet, dass wir alle, die wir als Originale geboren werden, nicht am Lebensende gleichgeschaltet werden, dass wir in unserem Sosein und Dasein geschützt werden vor der Vereinheitlichung eines auf Standardisierung ausgerichteten Versorgungssystems? Hospizarbeit ist dem Gedanken einer umfassenden empathischen Mitsorge gerade im Leiden und insbesondere im existenziellen Schmerz des Abschieds verpflichtet.
„Der Schmerz ist dem größten Teil unseres Lebens fremd gewesen. Möglichste Schmerzlosigkeit war einer der unbewussten Leitsätze unseres Lebens.” Diese Sätze hat Dietrich Bonhoeffer im Mai 1944 zur Taufe eines Neffen geschrieben. Am 9. April 1945 wurde er in Flossenbürg ermordet. Hellsichtig weist Bonhoeffer auf gesellschaftliche Entwicklungen im 20. Jahrhundert hin, an deren Endpunkt wir stehen: Die hedonistisch-konsumistische Kultur, in die wir heute eingebettet sind, kann auf Schmerz und Leid wohl nur mit Abwehr reagieren. Diese ‘möglichste Schmerzlosigkeit’ als Lebensprinzip hat sich im Verlauf der Zeit bis heute endgültig durchgesetzt. Sie geht einher mit der Grunderfahrung von Sinnlosigkeit, die in einer postreligiösen Gesellschaft zur überall erklingenden Grundmelodie geworden ist, deren Auswirkungen wie Vereinzelung oder Rücksichtslosigkeit nur mühsam verdeckt und verdrängt werden können. Davon zeugen Burn-Out-Epidemien, Depressionen, psychische Labilitäten. Es sieht so aus, als ob das Thema “Hospiz” in das Zentrum dieser Erfahrung moderner Menschen zielt und diesen Erfahrungen einen Ausdruck verleiht. Der verleugnete Schmerz, die Erfahrung trostlosen Leidens, das Gefühl der Verlassenheit treten mit dem Thema “sterbende Menschen” auf den Plan, brechen hervor aus der mühsam geglätteten Alltagswelt, die mit Waren, Vergnügungen, Leistungen vollgestopft ist.
Nicht nur in der Ausstattung jedoch, sondern auch in der Fürsorge selber lauert die Gefahr. Wahrscheinlich ist die wichtigste und schwierigste Frage der Hospizarbeit: Wie ist es möglich zu vermeiden, dass die Pflege, die Fürsorge das Leben aussperren? Die Gefahr der Hospizarbeit dürfte sein, dass in ihr für alles gesorgt ist, dass sie von wuchernden monopolisierten Dienstleistungen geprägt ist, die der persönlichen, empathischen Sorge nur definierte Räume lassen. Die persönliche Sorge wird eingeengt, weil sie nie mit der risikofreien professionellen Versorgung konkurrieren kann. Hospizarbeit ist erst dann eine gute, wenn sie ihre Regeln und Normen so gestaltet, dass sie Gastfreundschaft und Leben und Begegnung bis zuletzt ermöglicht.
Die Aufgabe der Hospizarbeit ist es daher, einen guten psychosozialen und auch medizinisch-pflegerischen Sorgezusammenhang herzustellen; ein Netz, in das hinein sich die Betroffenen fallen lassen können. Es ist die Achtsamkeit für die jeweilige Situation und die Aufmerksamkeit in den Angeboten und im Tun und Lasen, die die Fäden dieses Netzes bilden. Es müssen die Ritzen gesucht werden, in denen Freundschaft und persönliches Handeln möglich werden. Ivan Illich hat die Meinung vertreten, dass man in einer Welt ohne Grenzen nicht moralisch handeln könne. Die Antwort auf die Grenzenlosigkeit (des Wachstums, des Verbrauchs etc.) kann nur im “mutigen, disziplinierten, selbstkritischen und in Gemeinschaft vollzogenen Verzicht” wiedergefunden werden.
Wir sollten im Blick behalten, dass wir durch unser Handeln, durch selbstverständliche Kompetenz, durch auch manchmal schweigende Kommunikation und durch unsere menschliche Sorge einen Raum „absichtsloser Gastfreundschaft“ mitgestalten und uns dadurch möglicherweise noch radikaler dem Anspruch der Gemeinschaft stellen und weniger jenem palliativ-therapeutischer Angebote.
Heute sollte es sich kein Träger, keine Einrichtung in Deutschland, ob Krankenhaus oder Pflegeheim, ob Behinderteneinrichtung oder häusliche Versorgung mehr leisten, auf die angemessene Sorge für Menschen in der letzten Lebensphase nicht vorbereitet zu sein. Artikel 1 des Grundgesetzes sagt deutlich, dass die Würde des Menschen, jeder Frau und jedes Mannes und jedes Kindes unantastbar ist. Oft genug wird die Würde in Krankheit und Pflegebedürftigkeit jedoch gekränkt, werden Menschen in unserem Gesundheitssystem fremdbestimmt, sind sie nicht beteiligt an Entscheidungen über ihr Leben und ihr Sterben, sterben somit nicht ihren eigenen Tod. Das gilt es zu ändern – wir sind auf einem guten Weg in Deutschland, es gibt jedoch noch viel zu tun, sowohl was die Zugangsmöglichkeiten als auch das Verständnis derer anbelangt, die für schwerstkranke und sterbende Menschen Sorge tragen.
Univ.-Prof. Dr. Andreas Heller, M.A. (1956) ist Vorstand des Instituts für Palliative Care und Organisationsethik an der IFF-Fakultät der Alpen-Adria Universität Klagenfurt/Wien/Graz
Susanne Kränzle, (1966) ist Pflegefachkraft und seit 1994 in der Hospizarbeit tätig. Sie ist Leiterin des Hospiz Esslingen und 2. Stellv. Vorsitzende des Hospiz- u. PalliativVerbandes.