DAS RELIGIÖSE IN DER SÄKULARISIERTEN GESELLSCHAFT

Peter Straube sieht für Christen im Religiösen eine wesentliche Grundlage für ein nachhaltiges Engagement für eine werteorientierte Gestaltung der säkularen Gesellschaft.

Den folgenden Text können Sie hier ausdrucken.

Peter-Paul Straube

Das Religiöse in der säkularisierten Gesellschaft

Der Mensch an sich ist religiös, ob er will oder nicht, sozusagen essentiell, von seinem Wesen her. Er kann/muss seine Kontingenz, sein Geschaffen sein, seine Ergänzungsbedürftigkeit, seine Endlichkeit, seine Unvollkommenheiten und Begrenztheiten anerkennen, aushalten und gestalten. Säkularisierung ist soziologisch und gesellschaftlich gesehen ein Entkirchlichungs- und Entchristlichungsprozess, insbesondere in den europäischen Gesellschaften. Theologisch betrachtet kann man auch von einem von Gott initiierten Entwicklungs- oder Neuorientierungsprozess von Christen und Kirchen sprechen. Das Religiös sein des Menschen an sich bietet eine wesentliche Voraussetzung und Grundlage für ein nachhaltiges und mitunter selbstloses Engagement hinsichtlich einer werteorientierten Gestaltung der Gesellschaft.

Jeder Mensch ist ein homo religiosus. Er ist nicht die Ursache seiner selbst, er findet sich vor. Irgendwann stellt er fest, dass er da ist, in eine bestimmte Zeit, in diesen oder jenen Kontext hineingeboren, mit diesen oder jenen Begabungen, Talenten oder Defiziten versehen. Die Frage ist nun, ob und wie der einzelne Mensch sich zu diesen Grunderfahrungen positioniert und die großen Fragen des Lebens nach Liebe, Sinn oder Schuld zu beantworten versucht. Gleichzeitig gilt es festzuhalten: Es gibt immer mehr religiös indifferente Menschen die meinen, ohne gelebte Religiösität auskommen zu können, die weder religiöse Fragen haben und demnach auch nicht nach religösen Antworten suchen.

Religion kann einerseits von religare (bedenken oder beachten) abgeleitet werden, andererseits von relegere (sich binden, sich festmachen oder zurückbinden). Hier scheint die Erfahrung der menschlichen Kontingenz auf, die auch als eine urmenschliche Suchbewegung gesehen werden kann. Eine Religionsgemeinschaft oder Konfession bietet dem suchenden und fragenden Menschen eine strukturierte und organisierte Chance und Möglichkeit, diese Bewegung aufzunehmen, zu realisieren und somit seine religiösen Grundbedürfnisse „abzuarbeiten“. In der Bundesrepublik gehören rund zwei Drittel der Bürger einer Religionsgemeinschaft an, ein Drittel können unter Andersgläubige, Andersdenkende, Agnostiker, Atheisten etc. subsumiert werden. Diese drei Drittel sind jeweils als sehr heterogen anzusehen, was im Einzelnen zu diskutieren wäre.

Siegfried Hübner, katholischer Theologe, Schüler von Karl Rahner, der in Erfurt als Dogmatiker lehrte, hat einmal Folgendes festgehalten: „Was ist der Grund unserer Gottvergessenheit? Nur ein Vergessen? Oder ein verborgenes Nichtglaubenwollen? Also ein Grund, der allein bei uns, in unserer menschlichen Schwachheit und Sünde zu suchen ist? Oder stoßen wir, wenn wir dieser Frage nachgehen, auf einen anderen, tieferen, einen ‚epochalen‘ Grund: dass Gott heute wirklich nicht mehr so da ist, der Mensch von heute also gar nicht mehr so wie früher an Gott glauben kann? … Träfe das zu, so besagte das: Die Gottvergessenheit unserer Zeit, auch mitten in der Kirche, hat ihren tiefsten Grund nicht im Menschen, sondern in Gott. Sie kann deshalb auch nicht durch etwas weniger Vergesslichkeit und etwas mehr guten Willen überwunden werden. Es kommt vielmehr alles darauf an, zu entdecken, was Gott uns damit, dass er nicht mehr so wie früher da ist, sagen will.“

In diesen Gedanken steckt ein Vielzahl von Fragen: Ist die Säkularisierung also nicht unbedingt lediglich ein Abfall, ein Abwenden von Gott, sondern von Gott gewollt, um uns so etwas Wichtiges zu sagen? Oder anders ausgedrückt: Neben dem subjektiven Aspekt der Säkularisierung, dem Nichtglaubenwollen, sieht Hübner einen objektiven Grund, dass Gott wirklich nicht mehr so da ist wie früher. So könnte man, wie schon eingangs getan, die Säkularisierung als ein von Gott bewirktes Geschehen verstehen, durch das diverse Prozesse in den Kirchen und bei den Christen, aber auch in der Gesellschaft an sich, angestoßen werden sollen.

Heute spricht man wieder von einer Renaissance von Spiritualität und Religion, mancher gar von De-Säkularisierung. Es ist grundsätzlich geboten, zwischen den Dimensionen christlicher Kirchlichkeit, christlicher Überzeugung und außerkirchlicher Religiosität zu unterscheiden – so Detlev Pollack. Die Pluralisierung der Lebensoptionen, insbesondere deren säkulare Varianten, und die damit verbundene Wahlfreiheit lassen die Zahl der Konfessionslosen in der Bundesrepublik Deutschland weiter anwachsen. Daneben sind verstärkt Tendenzen der Entwicklung einer mehr subjektiven und alternativen (Patchwork-)Religiosität zu registrieren, die mit der christlichen Überlieferung eine Verbindung eingehen können oder auch nicht. Paul Michael Zulehner stellt in diesem Zusammenhang dennoch fest: „Die religiöse Lage moderner Kulturen ist letztlich bunt. Es sieht nicht danach aus, als würde in absehbarer Zeit in Europa das Christentum durch eine (gar kämpferische) Religionslosigkeit mit atheisierendem Grundton abgelöst.“

Wenn ein Mensch seine religiöse Grunddimension zu realisieren, als Glaubender, Hoffender und Liebender bewusst zu leben versucht, sich als ein zur Transzendenz befähigtes Wesen begreift, für den das Hier und Jetzt nicht alles ist, kann dieses authentische Bemühen in ein Engagement für andere, für das bonum commune münden und die Gesellschaft in Bezug auf eine gerechte, solidarische und subsidiäre Entwicklung voranbringen. In diesem Sinne hat Religiösität auch heutzutage eine grundsätzliche Bedeutung für eine menschenwürdige Gestaltung und Entwicklung unseres Gemeinwesens. Aber auch andere Menschen sind zu einem derartigen Dienst befähigt und gerufen, als Geschöpfe Gottes und aufgrund ihres guten Willens, ohne ihre Religiösität bewusst zu leben – es gibt Wege zu und mit Gott, die wir nicht kennen.

Hartmut von Hentig hat einmal lebensnotwendige Maßstäbe für Dialog und Bildung in unserer Gesellschaft formuliert: Abwehr von Unmenschlichkeit; die Wahrnehmung von Glück; die Fähigkeit und der Wille, sich zu verständigen; ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz; Wachheit für letzte Fragen und Bereitschaft zur Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica. Diese Grundsätze können weltanschauungsübergreifend – nach Eberhard Tiefensee im Sinne der Ökumene der ersten Art (mit den unterschiedlichen christlichen Konfessionen), der zweiten Art (mit den Weltreligionen) sowie der dritten Art (mit allen Menschen guten Willens) – die Menschen als mündige Bürger hinsichtlich ihrer Selbstbestimmungsfähigkeit, ihrer Mitbestimmungsfähigkeit und ihrer Solidaritätsfähigkeit sensibilisieren und ermutigen.

 

Peter-Paul Straube (1955) ist bei Leipzig aufgewachse und studierte Maschinenbau und Katholische Theologie. Beim St. Benno-Verlag Leipzig arbeitete er als Lektor und Redakteur und war von 1986 bis 1995 als Bildungsforscher an der Universität Oldenburg tätig. Seit Herbst 1995 leitet er das Bischof-Benno-Haus Schmochtitz in Bautzen, die Bildungsstätte des Bistums Dresden-Meißen, sowie die Katholische Erwachsenenbildung Sachsen. Er ist u.a. Mitinitiator und Vorsitzender des Vereins „Ökumenischer Domladen Bautzen“ sowie Berater der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert