Stephan Eisel sieht im Internet ein ambivalentes Medium, dessen Chancen für mehr Bürgerbeteiligung nur sinnvoll genutzt werden können, wenn man auch die Grenzen kennt.
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Stephan Eisel
Technikfaszination braucht Demokratiekompetenz
Die Demokratie des Grundgesetzes ermöglicht, fordert und fördert das Engagement der Bürger und ihre Teilhabe am politischen Entscheidungsprozess weit über die Teilnahme an Wahlen hinaus. Dass Bürger mit ihrer Meinung und ihrem Sachverstand die Vorschläge staatlicher Institutionen und Entscheidungen demokratischer Gremien beeinflussen und auf den Prüfstand stellen, ist Lebenselexier freiheitlicher Demokratie.
Für diese Bürgerbeteiligung bietet das Internet faszinierende neue Möglichkeiten. Insbesondere erleichtert es den Zugang zu Informationen und schafft der freien Meinungsäußerung neue Foren.
Die Wirkungsmächtigkeit des Internets wird dabei gespeist durch die zeitliche, räumliche und körperliche Entgrenzung der Kommunikation. Zeitversetzte, asynchrone Kommunikation hat ebenso wie zeitgleiche, synchrone Kommunikation eine neue Dimension erreicht: Vom langsamen Brief zur schnellen Mail, vom örtlich gebundenen Gespräch zum räumliche Grenzen überwindenden Chat. Zudem ist das Internet ständig nutzbar – überall und rund um die Uhr. Es kennt keine Öffnungszeiten, es ist immer offen.
Auf paradoxe Weise führt dabei die virtuelle Netzwelt durch die Unabhängigkeit von Raum und Zeit zur Realitätsdramatisierung: Alles rückt näher, wird dringlicher und wirkt dramatischer – und unüberschaubarer. Mit der Dramatisierung der Realität geht im Internet ihre Relativierung einher: Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit bestimmen die Netzkultur. Gerüchte verbreiten sich rasend schnell, Verschwörungstheorien sind gängige Ware im Cyberspace.Das Internet ist eben kein Erlösungsmedium, das per se demokratischen Ansprüchen genügt. Es bietet eigene Chancen, birgt aber auch spezifische Gefahren. Wer die Chancen des Internets für Bürgerbeteiligung sinnvoll nutzen will, muss die Grenzen des Netzes ebenso kennen wie seine Möglichkeiten. Nur eine sachliche und nüchterne Betrachtung verhindert Irrwege im Cyberspace. Zur Technikfaszination muss Medienkompetenz kommen und in einer freiheitlichen Gesellschaft zur Medienkompetenz zwingend die Demokratiekompetenz:
- Demokratisches Handelns darf angesichts der begrenzten Reichweite des Internets keine Ausschließlichkeit der digitalen Welt zulassen. Freiheitliche Demokratie muss allen Bürgern den allgemeinen, unmittelbaren und gleichen Zugang zur politischen Arena garantieren. Diese gleichen Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten für alle kann das Internet (bisher?) nicht bieten. 21 Prozent, also insgesamt ca. 17 Millionen Bürger über 14 Jahre in Deutschland nutzen das Internet überhaupt nicht (ARD-ZEDF-Online-Studie 2014). Dieser eingeschränkte Verbreitungsrad verändert sich in den letzten Jahren nur unwesentlich. Hinzu kommt: Wer einen Internetzugang hat, bewegt sich deswegen noch keineswegs regelmäßig und routiniert im Netz. Als „Onliner“ gilt in allen Statistiken schon, wer das Internet innerhalb der letzten vier Wochen nur einmal genutzt hat. Fast die Hälfte aller deutschen Internetnutzer gehören entweder der Gruppe der Randnutzer (25 %) oder der Selektivnutzer (18 %) an. Demokratie würde sich deshalb selbst ad absurdum führen, wenn sie „Netzbürgern“ mehr Bedeutung zumisst als denen, die das Medium nicht nutzen können oder wollen.
- Im Unterschied zu Fernsehen und Radio ist das Internet kein Konsummedium, sondern ein Aktivitätsmedium mit der Folge struktureller Ungleichheiten. Das Internet ist im Kern kein niedrigschwelliges, sondern ein forderndes Angebot. Wenn man im Netz nichts tut, tut sich auch nichts. So privilegiert das Internet die „Zeitreichen“. Dazu gehören vor allem diejenigen, denen als „Bildschirmarbeiter“ auch am Arbeitsplatz ein ständiger Netzzugang zur Verfügung steht. Bei der politischen Teilhabe im Internet gibt es keine Chancengerechtigkeit zwischen dem Bauarbeiter und dem Bürokaufmann. Die eigentliche strukturelle digitale Spaltung verläuft zwischen denen, für die beim Internetzugang Arbeits- und Freizeit keinen Unterschied macht, und denen, die im begrenzten Zeitbudget ihrer Freizeit die Wichtigkeit der Nutzung des Internets für sich abwägen müssen.
- Das Internet weckt kein neues Politikinteresse, sondern ist ein zusätzliches Forum für Politikinteressierte. Wer politische Partizipation Im Internet anstrebt, sollte sich immer bewusst bleiben , das der Cyberspace ist für seine Bewohner um ein Vielfaches mehr Markt- und Spielplatz als Politikforum ist. Meist diskutieren politisch Interessierte und Aktive über Politik im Netz. Sie neigen dazu, die Rolle von Politik im Internet zu überschätzen. Dass sich politikaffine Menschen im Internet leichter begegnen und vernetzen können, sollte nicht zur Fehlannahme verleiten, es gebe durch das Internet ein höheres Politikinteresse. Diese „Mobilisierungsthese“ ist aber längst widerlegt. Bewahrheitet hat sich die „Verstärkungsthese“, d.h. das Internet bietet vor allem den auch außerhalb des Netzes schon Politikinteressierten ein zusätzliches und neues Forum.
- Das Internet bietet keinen einheitlichen Kommunikationsraum, sondern entgrenzt diesen ebenso wie es zugleich in fragmentierte Echogesellschaften zerfällt. Freiheitliche Demokratie ist im Blick auf Gemeinwohlorientierung und friedliche Konfliktregelung darauf angewiesen, dass unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft in überschaubarem Rahmen offen miteinander kommunizieren. Das Internet privatisiert den öffentlichen Raum aber ebenso wie es ihn globalisiert. In beidem liegt eine Gefahr: Die für demokratische Entscheidungsprozesse essentielle Meinungsbildung durch offene Debatten wird ebenso bedroht, wenn geschlossene Individualkommunikation die Transparenz kommunikationsoffener Meinungsbildung ersetzt, wie wenn durch die völlige Entgrenzung des Kommunikationsraumes der Ort der Entscheidungsfindung verloren geht. Entgegen der gerne propagierten Selbstwahrnehmung animiert das Internet mindestens ebenso sehr zum Tunnelblick im Kreise Gleichgesinnter wie es in seiner Grenzenlosigkeit dem überschaubaren öffentlichen Raum die integrierende Wirkung nimmt.
- Schnelligkeit als höchstes Gut im Cyberspace ist kein Ausweis von Demokratiesteigerung. Im Internet ist der schnelle Klick die gültige Währung, Politik erscheint demgegenüber träge und langsam. Der Geschwindigkeitsdruck im Internet begünstigt eine Atmosphäre sich schnell wandelnder Stimmungen, Emotionen und Skandalisierungen. Im Gegenteil dazu zeichnen sich stabile Demokratien dadurch aus, dass sie der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung ihre Reifezeit geben. Im Internet haben aber Zeit für sachliche Reflektion, integrierende Kommunikation und entscheidungsbezogene Gelassenheit selten eine Chance. Hier dominiert die Gefahr von Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit.
- Transparent und seriös ist etwas nicht schon allein deswegen, weil es im Netz steht. Oft herrscht eine naive Netzgläubigkeit vor: schon die Verfügbarkeit von Daten im Internet garantiere deren Seriosität. Der leichte Informationszugang und die enorme Informationsfülle verstellen zu oft den kritischen Blick auf den tatsächlichen Informationsgehalt. So werden Angaben von Wikipedia meist völlig unreflektiert übernommen, staatliche Informationen schon wegen ihrer Verfügbarkeit im Netz für vollständig gehalten und bei kommerziellen Angeboten das Kleingedruckte besonders selten gelesen. Bei – per se wünschenswerten – Veröffentlichungen im Internet ist aber die gleiche Quellenkritik notwendig wie in der Offline-Welt: Sind die Informationen seriös, verbergen sich hinter ihrer Auswahl und Darstellung bestimmte Interessen oder wird Entscheidendes in der Fülle des Materials versteckt? Weil die im Internet unbegrenzte Informationsfülle oft mit Wissen verwechselt wird, ist im Netz reflektiertes Urteilsvermögen besonders gefragt. Datenfülle führt nicht per se zur Kenntnistiefe.
- Anonymität im Internet lockert den für die Demokratie unabdingbaren Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung. Aus dem Schutz der Anonymität kommt es im Internet schneller als in der Offline-Welt zu Radikalisierungen, persönlichen Verunglimpfungen und Verletzungen des Persönlichkeitsschutzes. Nirgends entstehen so schnell Gerüchte und werden so schnell verbreitet wie im Internet. Dies ist auch einem oberflächlichen Spieltrieb geschuldet, der in der Weitergabe einer im Netz gefundenen Nachricht einen von deren Inhalt oder Seriosität unabhängigen Selbstzweck sieht. Wer zur Verbreitung beiträgt, sieht sich im Internet selten verantwortlich für den Inhalt des Weitergegebenen. Wer den Anderen persönlich attackiert, ist meist nicht mit den persönlichen Folgen konfrontiert. Die Ernsthaftigkeit der Übernahme von Verantwortung für eigenes Tun im Internet wird allzu leicht dem spielerischen „Anything goes“ der Netzwelt geopfert.
Wer diese Einsichten über die Eigenarten der Online-Welt ignoriert, lässt „Bürgerbeteiligung im Internet“ zu einem potemkinschen Dorf verkommen, in dem privilegierte kleine Internet-Eliten auf Kosten der großen Mehrheit der Bürger agieren. Das gilt es gerade Jugendlichen zu vermitteln, deren eigenes Einordnungspotential durch eine Alltagsdominanz der Online-Welt und ihren eingeschränkter Lebenserfahrungsvorrat noch nicht hinreichend entwickelt ist bzw. sein kann. Ohne Demokratiekompetenz für Technikfaszination in die Irre.
Dr. Stephan Eisel (1955) ist ehem. Mitglied des Deutschen Bundestages und war u. a. 1983- 1992 zunächst als Redenschreiber und dann als stv. Leiter des Kanzlerbüros Mitarbeiter von Helmut Kohl. Er ist verantwortlicher Redakteur des Blogs für politisches Handeln aus christlicher Verantwortung kreuz-und -quer.de