Bauch, Kopf, Hände

Dr. Christoph Braß

Paragraf 218 StGB steht zur Disposition. Die „Ampel-Regierung“ aus SPD, Grünen und FDP hat in ihrem Koalitionsvertrag unter anderem angekündigt, dass sie eine Kommission einrichten wolle, die die „Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches“ prüfen solle. Die Kommission hat heute ihre Ergebnisse vorgestellt. Das Wichtigste in Kürze: Während der ersten zwölf Schwangerschaftswochen soll eine Abtreibung erlaubt sein. Erst wenn der Fötus eigenständig lebensfähig ist, sollen Abbrüche verboten werden. Die Kommission befasste sich außerdem mit der Eizellspende und mit der „altruistischen“ Leihmutterschaft.[1]

Rückblick

Die Regelung der Abtreibungsfrage stellt seit fast 30 Jahren im Grunde einen Kompromiss zwischen zwei ziemlich unterschiedlichen Rechtsgütern dar: Auf der einen Seite steht das Recht auf Selbstbestimmung für die Frauen. Dieses Recht ist allerdings nicht schrankenlos. Es findet seine Begrenzung darin, dass das Ungeborene von der Verfassung bestimmte Rechte ausdrücklich zuerkannt bekommen hat: Zum Beispiel das Recht auf Leben.[2] Das Verfassungsgericht begründete sein Urteil damals, dass die vorgeburtliche Entwicklung von der Zeugung bis zur Geburt eines Kindes ein kontinuierlicher Prozess sei. Deshalb sei das „Lebensrecht des Ungeborenen“ während der gesamten Schwangerschaft zu schützen.

Bisher ist die Abtreibung nach §°218 StGB grundsätzlich verboten. Aber wenn die Frau zu einer anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatung geht und sich eine Bescheinigung darüber ausstellen lässt, kann sie während der ersten 12 Wochen eine Abtreibung vornehmen lassen, die zwar verboten, aber in diesem Falle straffrei ist. Diese Regelung besteht seit 1995. In Teilen der katholischen Kirche stieß dieser Weg auf Widerstand. So mussten Caritas und der Sozialdienst katholischer Frauen aus dem gesetzlichen Beratungssystem aussteigen. Wenig später gründeten katholische Laien, die mit dem Kurs ihrer Kirche in diesen Punkt nicht einverstanden waren, die Organisation „Donum Vitae“, die diese Beratung auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes fortsetzt.[3]

Ein paar Fakten

Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei den Abtreibungszahlen relativ weit hinten. Die Zahl der Abtreibungen liegt zum Beispiel in Ungarn, Spanien, Finnland und Portugal zum Teil deutlich höher als bei uns.[4]

Auch die Zahl der bundesdeutschen Abbrüche ist seit Jahren deutlich rückläufig: Im Jahr 2000 gab es 134.609 Schwangerschaftsabbrüche bei 766.999 Geburten. 2021 gab es 94.548 Abtreibungen bei 795.517 Geburten. In letzter Zeit ist die Abtreibungszahl wieder etwas gestiegen: 2022 gab es 103.927 Abtreibungen bei 738.819 Geburten.[5] Allerdings gab es im Jahr 2022 über 30.000 Abtreibungen weniger als 2000.

Wenn man die Zahlen nach der Altersstatistik der betroffenen Frauen genauer anschaut, stellt man fest, dass es vor allem in der Gruppe der 35 bis 40 Jahre alten Frauen eine deutliche Zunahme der Abtreibungen geben hat.[6] Bei den 15- bis 30-jährigen Frauen ist die Abtreibungszahl deutlich rückläufig. Offenbar sind sich diese Frauen der Tragweite ihres Verhaltens eher bewusst und praktizieren zum Beispiel eine konsequentere Verhütung.[7] Es gibt auch einen Zusammenhang zwischen der Schwangerschaft und der Zahl der vorhandenen Kinder. Die Bereitschaft, die Schwangerschaft abzubrechen, nimmt deutlich ab, je mehr Kinder diese Frau bereits geboren hat.[8] Natürlich sind Zahlen nicht alles; aber ignorieren kann man sie auch nicht. Die vorsichtige These: Offenbar wirkt das Gesetz doch – vor allem bei den jüngeren Frauen.

Es gibt in dieser Aufstellung auch einen „blinden Fleck“. Das ist der Partner der Frau. Im Strafgesetzbuch kommt er eigentlich nicht vor. Verlässlich wissen wir relativ wenig über ihn: Wann beteiligt er sich an der Verhütung? Welche Rolle nimmt er ein, wenn die Frau über eine Abtreibung nachdenkt? Wie oft geht nach der Abtreibung die Beziehung zwischen den beiden in die Brüche?

Außerdem gibt es noch die sogenannten „Spätabtreibungen“, bei denen ein Kind nicht ausgetragen wird, weil es einen genetischen Defekt hat. Darunter sind zum Beispiel Kinder, die am Down-Syndrom leiden. „Spätabtreibungen“ sind während der gesamten Schwangerschaftsphase erlaubt. 2022 gab es 3.924 Schwangerschaftsabbrüche durch medizinische und 35 Abtreibungen durch kriminologische Indikation, wenn z.B. die Frau durch eine Vergewaltigung schwanger wurde. Im Laufe der Zeit ist die Zahl der „Spätabbrüche“ leicht gestiegen.[9]

Frankreich hat vor kurzem das Recht auf Abtreibung in der Verfassung verankert.[10] Das ist – um es höflich auszudrücken – ein etwas seltsamer Vorgang. Der Hauptunterschied zwischen Deutschland und Frankreich besteht darin, dass wir in Deutschland zwei Pole zur Betrachtung haben: Das Selbstbestimmungsrecht der Frau und das Recht des Ungeborenen auf Leben. Frankreich dagegen legt den Fokus eher auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau.

Wie soll es weitergehen?

Ist alles gut? – Natürlich nicht. Jede Abtreibung wirft Fragen auf. Auch an die Gesellschaft als Ganze. Nach christlichem Verständnis – oder präziser: nach katholischer Lehre – wird bei der Abtreibung ein Mensch im Mutterleib getötet.[11] Im Grunde deutet auch das Strafgesetzbuch in die gleiche Richtung. Natürlich hört das niemand gerne. Aber als mündige Bürgerinnen und Bürger können wir die Abtreibung nicht unwidersprochen hinnehmen. Als Christen schon gar nicht. Wir müssen schwangeren Frauen Perspektiven für ein Leben mit dem Kind aufzeigen. Eine Abtreibung ist nie „normal“.

Donum Vitae in Bayern hat vor kurzem eine anonyme Klientinnen-Befragung zu Schwangerschaftskonfliktberatung gemacht.[12] Auf die Frage, ob sie auch ohne die Beratungspflicht zur Beratung gekommen wären, kreuzten 39 Prozent „Nein“ an; 24 Prozent sagten, sie wüssten das nicht genau. 82 Prozent sagten, dass das Beratungsgespräch sie entlastet habe. 60 Prozent sagten, dass das Beratungsgespräch „mir bei der Entscheidung geholfen“ habe. Dagegen verneinten 19 Prozent diese Frage. Auf die Frage, ob sie von der Beraterin oder dem Berater zu einer Entscheidung gedrängt wurden, erklärten 97 Prozent der Befragten, dass das nicht der Fall sei. Diese Zahlen machen unter anderem deutlich, dass die Pflichtberatung sinnvoll ist.

Der Weg, die Schwangerschaft zu schützen und zugleich das Selbstbestimmungsrecht der Mutter ernst zu nehmen, hat die politischen Parteien zu zum Teil schwer erkämpften Kompromissen gedrängt. Es wäre tragisch, wenn dieser erstrittene Kompromiss beim §°218 StGB, der die deutsche Gesellschaft in dieser Frage über viele Jahre befriedet hat, allein wegen ideologischer Debatten nun aufgekündigt würde. Manche verweisen auf die USA oder nach Polen, wo der Abtreibungsstreit einen Keil in die Gesellschaft treibt. Diese Zerreißprobe ist uns in Deutschland bisher noch weitgehend erspart geblieben.

Die Bundesregierung muss nun entscheiden, was sie mit dem Abschlussbericht „reproduktive Selbstbestimmung“ macht.


Anmerkungen:

[1] Siehe z.B. https://www.tagesschau.de/multimedia/video/schnell_informiert/video-1327374.html

[2] Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 28. Mai 1993 zum § 218: Leitsätze (Wortlaut)
1.Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Diese Schutzpflicht hat ihren Grund in Art. 1 Abs. 1 GG; ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt. Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen Leben zu. Die Rechtsordnung muß die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleisten. Dieses Lebensrecht wird nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet.
2. Die Schutzpflicht für das ungeborene Leben ist bezogen auf das einzelne Leben, nicht nur auf menschliches Leben allgemein.
3. Rechtlicher Schutz gebührt dem Ungeborenen auch gegenüber seiner Mutter. Ein solcher Schutz ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber ihr einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbietet und ihr damit die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das Kind auszutragen. Das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes sind zwei untrennbar verbundene Elemente des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes.
4. Der Schwangerschaftsabbruch muß für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen und demgemäß rechtlich verboten sein (Bestätigung von BVerfGE 39, 1, 44). Das Lebensrecht des Ungeborenen darf nicht, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, der freien, rechtlich nicht gebundenen Entscheidung eines Dritten, und sei es selbst der Mutter, überantwortet werden.
5. Die Reichweite der Schutzpflicht für das ungeborene menschliche Leben ist im Blick auf die Bedeutung und Schutzbedürftigkeit des zu schützenden Rechtsguts einerseits und damit kollidierender Rechtsgüter andererseits zu bestimmen. Als vom Lebensrecht des Ungeborenen berührte Rechtsgüter kommen dabei – ausgehend vom Anspruch der schwangeren Frau auf Schutz und Achtung ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) – vor allem ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) sowie ihr Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) in Betracht. Dagegen kann die Frau für die mit dem Schwangerschaftsabbruch einhergehende Tötung des Ungeborenen nicht eine grundrechtlich in Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition in Anspruch nehmen. […]“

[3] Auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken war damals eingebunden.

[4] Siehe https://de.statista.com/statistik/daten/studie/70858/umfrage/jaehrliche-schwangerschaftsabbrueche-in-europa/ (abgerufen am 25.03.2024).

[5] Abtreibungszahlen – siehe https://de.statista.com/statistik/daten/studie/232/umfrage/anzahl-der-schwangerschaftsabbrueche-in-deutschland/ (abgerufen am 26.03.2024). Siehe auch: Statistisches Bundesamt.
Geburtenzahlen: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/Tabellen/lrbev04.html#242408 (abgerufen am 25.03.2024).
Geburtenzahlen für das Jahr 2022: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/07/PD23_290_12.html (abgerufen am 25.03.2024).

[6] Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland nach Alter und Quote https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Schwangerschaftsabbrueche/Tabellen/01-schwangerschaftsabbr-alter-quote-10tsd-je-altersgruppe_zvab2012.html (abgerufen am 26.03.2024).

[7] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Schwangerschaftsabbrueche/Tabellen/01-schwangerschaftsabbr-alter-quote-10tsd-je-altersgruppe_zvab2012.html (abgerufen am 26.03.2024).

[8] Ausnahme: Beim dritten Kind gibt es eine kleine „Delle“. Offenbar zögern manche Frauen, die bereits zwei Kinder geboren haben, ob sie das dritte Kind austragen sollen. Offenbar stellt das dritte Kind nochmals eine besondere Herausforderung dar. Siehe: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/schneller-schlau/abtreibungen-sind-seit-20-jahren-ruecklaeufig-18060099.html (abgerufen am 27.03.24).

[9] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Schwangerschaftsabbrueche/Tabellen/03-schwangerschaftsabbr-rechtliche-begruendung-schwangerschaftsdauer_zvab2012.html (abgerufen am 26.03.2024).

[10] Siehe zum Beispiel: https://www.tagesspiegel.de/internationales/bevor-es-zu-spat-ist-frankreich-will-als-erstes-land-das-recht-auf-abtreibung-in-der-verfassung-verankern-11299972.html (abgerufen am 7.03.2023).

[11] Siehe Katholischer Katechismus, Nr. 2271 und 2272. („Das Leben ist daher von der Empfängnis an mit höchster Sorgfalt zu schützen. Abtreibung und Tötung des Kindes sind verabscheuenswürdige Verbrechen.“)

[12] Die anonyme Klientinnen-Befragung lief von Mai bis Oktober 2023. An ihr haben 1.169 Frauen teilgenommen. Näheres siehe https://donum-vitae-bayern.de/


Dr. Christoph Braß ist einer der Redakteure von „kreuz-und-quer.de“ und war längere Zeit Vizepräsident des ZdK. Er war Abteilungsleiter Inland unter Bundespräsident Gauck.

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