Vor 80 Jahren wurde Pater Alfred Delp hingerichtet
P. Klaus Mertes SJ
Vor 80 Jahren, am 2. Februar 1945, wurde der Jesuitenpater Alfred Delp in Plötzensee hingerichtet. Drei Wochen vorher, am 10. Januar, war er vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden, gemeinsam mit Helmuth James von Moltke, dem Gründer und Mittelpunkt des „Kreisauer Kreises“. Die in diesem Kreis versammelten Männer und Frauen hatten sich nichts anderes zu Schulden kommen lassen, als über eine neue politische Ordnung nach der absehbaren Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands nachzudenken. Eugen Gerstenmaier, der gemeinsam mit Delp und Moltke am 10. Januar 1945 vor dem Volksgerichtshof stand, schrieb rückblickend über den Kreisauer Kreis: „Das Militärische war nicht ihr Fach. Sie waren weder Heerführer, noch besaßen sie sonst organisierte Macht. Ihr Feld war der Gedanke. Ihre Aufgabe, der Entwurf einer neuen rechtsstaatlichen Ordnung. Ihr Wille, die Ideologie des totalen Staates zu überwältigen. Ihr Ziel, Deutschland im Geist des Christentums und der sozialen Gerechtigkeit wieder aufzubauen und in ein vereintes Europa einzufügen.“
Ich kann in diesen Tagen nicht an dieses Erbe erinnern, ohne meiner Sorge darüber Ausdruck zu verleihen, dass heute ausgerechnet in der Union Kräfte lauter werden, die dieses Erbe leichtfertig aufs Spiel setzen. Manchmal beschleicht mich das Gefühl: „Sie wissen nicht, was sie tun.“ Grenzen dicht machen, Flüchtlinge zurückweisen, Asylrecht aushöhlen, auf die Wahlerfolge von autoritärem Protestantismus und von nationalistischem Katholizismus jenseits des großen Teiches schielen – was würden die Kreisauer dazu heute sagen?
Neuordnung! Unter dieser Überschrift hatte P. Alfred Delp seine Gedanken über die Zukunft des Landes zu Papier gebracht. Die Kreisauer besprachen diese Überlegungen, Delp schrieb die „Neuordnung“ entsprechend zweimal um. Doch eines blieb gleich: Bevor man überhaupt nachdenkt über eine politische, soziale und kulturelle Verfassung, muss man noch grundlegender fragen. Die Gruppe sah sich ja einem Staat gegenüber, der die Herzen der Menschen steuern wollte, und dem das in weiten Teilen auch gelungen war. Daher lautete die tiefere Frage: Wie kann wieder ein Gemeinwesen entstehen, in dem die Menschen in der „Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens“ leben, und zugleich zusammenhalten?
Hierfür braucht es Rechtssicherheit, unabhängige Gerichte und soziale Ordnungen. Aber all das braucht noch etwas Grundlegenderes. Delps Wort dafür ist: Jeder Mensch braucht eine „Rückbindung“, lateinisch: Religio. Er sieht nämlich, wie sehr es Menschen gerade in Zeiten der Verunsicherung hilft, wenn sie sich mit dem Bleibenden verbinden und sich vor dem Bleibenden verantworten, das mehr ist als das Eigene. Von einem „christlichen Menschenbild“ kann man jedenfalls nicht sprechen ohne diese Rückbindung – als Rückbindung an Gott, den Schöpfer, der den Menschen beauftragt, für diese Schöpfung zu sorgen, die trennenden Mauern zwischen den Völkern aufzuheben auf Grund eines gemeinsam gelebten Ethos der Nächstenliebe, das täglich neu auszubuchstabieren ist. Rückbindung an Gott schließlich, der die Menschen in die Verantwortung nimmt und Rechenschaft verlangen wird.
Die Mitglieder des Kreisauer Kreises kamen mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen zusammen. Moltke wollte neben evangelischen Theologen auch einen katholischen Vordenker in diesem Kreis. So stieß er auf Alfred Delp und andere Jesuiten. Moltke hatte auch Gutsherren gewonnen, und es gab eine sozialdemokratische und gewerkschaftliche Gruppe. Sie alle wollten, dass der Ausgangsgedanke einer Neuordnung erhalten bleibt: Menschen brauchen eine Rückbindung, sie brauchen Zugang zu einer Quelle von Orientierung und Kraft, die der Staatsmacht grundsätzlich entzogen ist und ihr im Fall der Fälle auch entgegentreten kann.
Was der nationalsozialistische Volksgerichtshof am 10. Januar 1945 veranstaltete, bezeichnete Delp kurz danach als „Orgie des Hasses“. Freisler hatte Delp angeschrien: „Sie Jämmerling. Sie pfäffisches Würstchen! Und so etwas erdreistet sich, unserem geliebten Führer ans Leben zu wollen. Eine Ratte! Austreten, zertreten sollte man so etwas.“ Das auch ein paradox-beglückender Moment, wenn ich Delps nachträgliche Bemerkung hinzunehme: „Bei der Verurteilung habe ich mich wehren müssen gegen ein lautes Lachen, so ein Theater war das.“ Da bin ich versucht, im Sinne Delps eins draufsetzen: Wer ist hier also eigentlich das Würstchen?
Jedenfalls: Die Souveränität innerer Freiheit, die aus der Bindung an ein höheres Gericht kommt, verband Delp mit Moltke. Auch der wurde von Freisler angeschrien. Moltke berichtet: Freisler „hieb auf den Tisch, lief an so rot wie seine Robe und tobte: ‚So etwas verbitte ich mir! So etwas höre ich mir erst gar nicht an!‘ Da ich ohnehin wusste, was rauskam, war mir das alles ganz gleich. Ich sah ihm eisig in die Augen, was er offenbar nicht schätzte, und plötzlich konnte ich nicht umhin, zu lächeln.“ Noch einmal: Wer ist hier eigentlich das Würstchen?
Woher kam diese Haltung von Delp, Moltke und anderen? Hatten sie sie einfach, oder war sie erworben, erkämpft? Ich meine: Letzteres. Einen Hinweis dazu gibt uns Alfred Delp in seinen Gefängnisbriefen. In den dunkelsten Stunden der Haft und der Angst schrieb er mit gefesselten Händen: „In allem will Gott Begegnung feiern“. Alfred Delp konnte im eigenen Jetzt Gottes Einladung erkennen, weil er sie suchte, auch in den schweren Stunden. Die Rückbindung war ihm kein gesicherter Besitz, kein bloßer Traditionsbestand, sie richtete seinen Blick nicht sehnsüchtig rückwärts auf frühere, „bessere Zeiten“. Er gewann die Rückbindung durch tägliche Übung – „geistliche Übung“ nennt man das bis heute im Jesuitenorden – und durch Mühe.
Eugen Gerstenmaier bemerkte einmal, die CDU sei in den Gefängnissen von Tegel entstanden. Das meinte er nicht exklusiv. Aber es ist doch ein Hinweis für die heutige Union aus CDU und CSU. Meine Sorgen mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen in der Union, aktuell verstärkt durch die angeblich unvermeidlichen Gesetzmäßigkeiten in Wahlkampfzeiten, habe ich genannt. Vor den Mühen der politischen Ebene habe ich großen Respekt. Wer Verantwortung übernimmt, macht sich nicht nur Freunde, stochert manchmal im Nebel und muss Ambivalenzen aushalten. Das ist alles richtig. Aber gerade deswegen hilft der Blick auf Persönlichkeiten wie Delp. Er gewann durch Mühen schwerer innerer und äußerer Kämpfe an Tiefe und Menschenfreundlichkeit hinzu, statt hart und engherzig zu werden und auf den Tisch zu hauen, um Stärke zu inszenieren. Dagegen gilt: „In allem will Gott Begegnung feiern“. So ist es.
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Foto: pro/Norbert Schäfer
P. Klaus Mertes SJ (1954) ist Superior der Jesuitenkommunität in Berlin-Charlottenburg. Er hat Slawistik und Klassische Philologie in Bonn studiert und ist 1977 in den Jesuitenorden eingetreten. Anschließend studierte er Philosophie und Katholische Theologie in München und Frankfurt a.M. und wurde 1986 zum Priester geweiht. Nach dem zweiten Staatsexamen für Katholische Religion und Latein war er Lehrer an der St.-Ansgar-Schule in Hamburg und am Canisius-Kolleg in Berlin, dessen Rektor er von 2000 bis 2011 war. Von 2011-2020 war er Direktor des internationalen Jesuitenkollegs in Sankt Blasien. Klaus Mertes ist Redakteur der Kulturzeitschrift STIMMEN DER ZEIT und gehört dem Kuratorium Stiftung 20. Juli 1944 an.