Thomas Greiner
Unter den vielen Gedenk- und Feiertagen dieses Jahres war auch der 60. Todestag von Madeleine Delbrêl. Doch man täuscht sich sicher nicht, wenn man den Eindruck hat, dass er gerade bei uns in Deutschland weitgehend unbeachtet blieb.
Madeleine Delbrêl, die 1964 in der Banlieue von Paris mit genau 60 Jahren starb, kann man – wie ich finde – mit gutem Recht als eine christliche Heilige charakterisieren, auch wenn sie selbst dies sicher abgelehnt hätte. Denn ihr Glaubens- und Lebensweg war alles andere als geradlinig und orthodox. In Frankreich gilt Madeleine Delbrêl dennoch vielen als eine der überzeugendsten christlichen Glaubenszeuginnen des 20. Jahrhunderts. Papst Franziskus hat ihr vor wenigen Jahren den Status einer „Ehrwürdigen Dienerin Gottes“ zugesprochen, also die Stufe, bevor jemand in der katholischen Kirche selig- und dann auch heiliggesprochen werden kann. Und als „Dienerin“ Gottes und vor allem ihrer Mitmenschen hat sich Madeleine Delbrêl mit Sicherheit verstanden.
Nun ist das mit dem Wort „Diener“ in der Kirche aber so eine Sache. Wie oft hören wir dort den Satz, wir alle seien doch nur Diener? Gerade Amtsträger gebrauchen ihn gerne, und viele werden sich dabei wohl denken: „Diener“ schon, aber wenn’s geht, dann doch bitte auf einem herausgehobenen Posten mit komfortabler Ausstattung.
Das Leben von Madeleine Delbrêl hingegen war alles andere als komfortabel. Nachdem sie für sich den Weg der Nachfolge Jesu als ihren Lebensweg gefunden hatte, wollte sie wirklich nichts anderes, als dem Wohl ihrer Mitmenschen dienen, und zwar ganz unmittelbar durch konkrete Lebenshilfe. Denn das war ihr Verständnis, wie wir Christinnen und Christen die Botschaft Jesu leben sollten. Dabei orientierte sie sich z. B. an der Stelle des Markus-Evangeliums, wo Jesus den Schrei des blinden Bartimäus hört und ihm die wichtigste Frage stellt, die christliche Seelsorge überhaupt stellen kann: „Was willst du, dass ich für dich tue?“ (Mk 10, 51)
Dieser Weg der Nachfolge Jesu war für Madeleine Delbrêl keineswegs vorgezeichnet. Sie stammte aus einfachen, wenn auch nicht ärmlichen Verhältnissen, vor allem aber aus einem durch und durch antikirchlichen Milieu. In Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das ja nicht unüblich. Mit 16 Jahren war sie, wie sie sagte, überzeugte Atheistin. Sie studierte in Paris Philosophie und Kunst, und während des Studiums lernte sie einen Mann kennen, in den sie sich verliebte. Doch ihr Freund war Christ, und so kam sie durch ihn zum ersten Mal in Kontakt mit einem ganz praktisch gelebten Christsein. Dann entschied sich ihr Verlobter jedoch, Dominikaner zu werden, und zudem erkrankte ihr Vater schwer. Beides stürzte sie in eine tiefe Sinnkrise und in dieser Situation, so schrieb sie später, entschloss sie sich zu beten, denn zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens habe sie nicht mehr hundertprozentig ausschließen können, dass Gott nicht doch da ist.
Im Gebet aber erfährt sie Gott als eine lebendige Realität, nicht als bloßes Wort, über das wir nachdenken und es ablehnen oder gutheißen können. Nein, als wirkliche Realität in ihrem Leben! Und sie spürt, dass dieser Gott nur eines von ihr will: dass sie ihren Mitmenschen seine Liebe zeigt. So wird sie Sozialarbeiterin und zieht nach Ivry-sur-Seine, einem „Arbeiter-Vorort“ von Paris. Ivry war die erste Stadt in Frankreich, die einen kommunistischen Bürgermeister hatte, und das ist bis heute so geblieben. Madeleine will in Ivry eine Sozialstation aufbauen und sich um die Not der Arbeiterfamilien kümmern. Man bedenke: Wir reden hier über eine Zeit, in der es in Frankreich noch keine 35-Stundenwoche gab, kein Arbeitslosengeld, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
Sie lebt in Ivry in einem kirchenfernen und anti-christlichen Milieu. Aber genau dort will sie das Evangelium leben. Mitten in der atheistischen Arbeiterstadt will sie mit gleichgesinnten Frauen für ihre Mitmenschen da sein, weil es für sie nur eine einzige Liebe gibt und keinen Unterschied zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe. Ihr Engagement spricht sich herum. Ein Bischof bittet sie sogar im Auftrag von Papst Johannes XXIII., an der Vorbereitung des II. Vatikanischen Konzils mitzuwirken. Während des Konzils stirbt sie in Ivry im Alter von nur knapp 60 Jahren an einem Schlaganfall.
Madeleine Delbrêl sagte, sie habe Jesus auf den Straßen der Großstadt gefunden, und je mehr sie mit den Lebensumständen der Arbeiter in Berührung kam, umso weniger konnte sie die Gleichgültigkeit vieler Christen über deren Not akzeptieren. Sie erkannte: Gott ist nicht nur ein Wort; er ist die praktizierte Nächstenliebe, und die ist konkret. Den Schrei der Armen zu hören und sich ihrer Not nicht zu verschließen, sondern ganz einfach mit den Mitteln, die einem gerade zur Verfügung stehen, zärtlich und liebevoll Mitmenschen in ihrer Not zu begegnen, das war Madeleine Delbrêls gelebtes Evangelium der Straße.
Auch 60 Jahre nach ihrem Tod erinnert sie uns an dieses Evangelium. Denn Madeleine Delbrêl zeigt gerade uns Christinnen und Christen heute, die wir so oft nur den absteigenden Ast sehen, auf dem unsere Kirchen sind, wie Nachfolge ganz konkret aussehen kann: So wie Jesus es bei Bartimäus tat, das Evangelium leben mit den Menschen, die einem begegnen, mit ihren Sorgen, ihren Ängsten und ihrer Einsamkeit; Menschen, die vielleicht noch nie etwas von Christus gehört haben. Ihren oftmals stummen Schrei nicht überhören und ihnen Hoffnung geben und zeigen: Für Dich ist Jesus Diener geworden. Für Dich und nicht nur für die Frommen! Das wollte Madeleine Delbrêl.
Bei ihrer Beerdigung sagte der kommunistische Bürgermeister von Ivry: „Ich glaube auch jetzt noch nicht an Gott, aber wenn es ihn gibt, trägt er die Züge von Madeleine.“
Aus der umfangreichen Literatur zu Madeleine Delbrêl vgl. zum vorliegenden Text vor allem:
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- Gotthard Fuchs: Mystik der Straße. Zum 60. Todestag von Madeleine Delbrêl. DLF-Kultur 13.10.2024, zitiert nach: https://fernsehen.katholisch.de/katholische-horfunkarbeit/feiertag-deutschlandfunk-kultur/feiertag-1310202
- Annette Schleinzer: Madeleine Delbrêl. Prophetin für eine erneuerte Kirche. Impulse für Realisten. München: Verlag Neue Stadt, 3. Aufl. der Neuausgabe, 2023.
Thomas Greiner (*1964) ist Ministerialdirigent im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Neben diesem Zivilberuf ist er katholischer Diakon im Erzbistum Berlin und z.Z. in der Pfarrei St. Franziskus Reinickendorf-Nord als Ständiger Diakon eingesetzt (diakonthomas.de).