Ludwig Ring-Eifel
In den vergangenen Monaten regnete es „Offene Briefe“ katholischer Bischöfe und Bischofskonferenzen aus anderen Ländern auf den Synodalen Weg in Deutschland. Die veröffentlichten Antworten des deutschen Bischofskonferenz-Vorsitzenden Georg Bätzing auf diese Schreiben waren im Ton streckenweise etwas barsch; aber in der Sache ist es ein sehr gutes Zeichen, dass erstmals so etwas wie eine internationale Debatte über die deutschen Reformideen in Gang zu kommen scheint – obwohl „Offene Briefe“ dafür wohl kaum ein geeignetes Format sind. Spannend ist, dass nicht nur die amerikanischen Kritiker des deutschen Projekts davon sprechen, dass Reform-Voten, die in Deutschland diskutiert und vielleicht auch mit den nötigen Mehrheiten beschlossen werden, eine Bedeutung haben, die weit über Deutschland hinaus geht.
Darin schwingt einerseits eine historische Reminiszenz an die Reformation des 16. Jahrhunderts mit, die in den deutschsprachigen Ländern ihren Anfang nahm. Sie führte zur großen Kirchenspaltung im Westen, zu einem der schlimmsten Kriege der Weltgeschichte und dann zum schiedlich-friedlichen konfessionellen Pluralismus, wie wir ihn bis heute kennen. Für manche Bischöfe ist die Reformation eine Art Ur-Katastrophe. Sie hat gezeigt, wohin es führen kann, wenn man deutschen Theologen mit gefährlichen Ideen nicht früh genug entschieden widersteht. Bei anderen, und das wird nicht offen ausgesprochen, spielt auch die Erinnerung an das Zweite Vatikanische Konzil eine Rolle im Hintergrund. Denn bei diesem bislang letzten katholischen Reformkonzil waren es die deutsch- oder niederländischsprachigen Theologen, von denen die wichtigsten Impulse zu einer grundlegenden Reform der Kirche ausgingen, die über eine bloß äußerliche Anpassung an einige Spielregeln der Moderne hinausgingen. „Der Rhein fließt in den Tiber“, lautete der Titel eines seinerzeit erfolgreichen Buchs, in dem der amerikanische Priester Ralph M. Wiltgen darlegte, wie es der progressiven Allianz der Länder am Rhein gelungen war, sich gegen die scheinbare Übermacht der italienisch-spanischen Konservativen durchzusetzen und die Kirche auf einen aus seiner Sicht gefährlichen Modernisierungskurs zu bringen.
Damals konnten die deutschsprachigen Ortskirchen und ihre Nachbarn sich nur deshalb durchsetzen, weil sie immer wieder Allianzen mit anderen Gruppen schlossen. Mal waren es progressive Lateinamerikaner, mal die Osteuropäer. Vor allem aber waren es die zahlreichen nordamerikanischen Bischöfe. Sie brachten Ideen wie die allgemeinen Menschenrechte, die Meinungs- und Pressefreiheit und die Religionsfreiheit in die Debatten und Texte des Konzils ein. Sie verhalfen (gemeinsam mit den Antikommunisten aus Osteuropa) dem von Traditionalisten scharf bekämpften Grundsatzdokument „Dignitatis humanae“ (Die Würde des Menschen) zu einer hinreichenden (aber keineswegs einmütigen) Mehrheit. Für die Traditionalisten um Erzbischof Marcel Lefebvre war dieser Text der eigentliche Anlass zum inneren Bruch mit Rom.
Die Sorge, dass es den deutschen Reformern abermals gelingen könnte, gemeinsam mit fortschrittlichen nordamerikanischen Theologen und Bischöfen weitreichende Reformen – etwa bei der kirchlichen Anerkennung sexueller Minderheiten oder beim Thema Gleichberechtigung – anzustoßen und durchzusetzen, treibt offenbar die konservative Mehrheit der Bischöfe in Nordamerika um. Die jüngst angekündigte Schließung des katholischen Nachrichtendienstes CNS in Washington D.C. könnte genau dieser Furcht entspringen. Denn CNS berichtete stets auch offen und ohne Vorverurteilung über die Debatten und Voten des Synodalen Wegs in Deutschland.
Ob die Schließung eines Nachrichtendienstes im Zeitalter von Twitter und anderen sozialen Netzwerken eine zielführende Entscheidung war, wird sich zeigen. Andere Publikationen wie das von Jesuiten betrieben „America“ oder der „National Catholic Reporter“ werden versuchen, die Lücke zu füllen.
Aber auch jenseits der medien-strategischen Erwägungen wird die „amerikanische Frage“ für die Reformansätze aus Deutschland entscheidend sein. Viele Ideen, die im Synodalen Weg verhandelt werden, kommen direkt aus der amerikanischen Kultur und den dort geführten gesellschaftlichen Debatten – wobei allerdings die Mehrheit der nordamerikanischen katholischen Bischöfe sich in diesen Kultur-Kämpfen hinter Barrikaden verschanzt hat. Die deutschen Reformer haben sich für einen anderen Weg entschieden: Sie wollen von den Ideen der demokratischen Partizipation über die Geschlechtergerechtigkeit bis zur Gleichstellung der sexuellen Minderheiten die gesellschaftlichen Trends seit 1968 in die Lehre der Kirche aufnehmen und die Regeln und das Handeln der Kirche entsprechend verändern. Statt auf Wagenburgmentalität setzen sie auf Öffnung und wollen die starren Vorgaben aus Dogmatik und Morallehre hinterfragen, um zu einem neuen Selbstverständnis und einer neuen Verfassung der una sancta catholica et apostolica zu gelangen – ganz ähnlich wie es die Vordenker des Zweiten Vatikanums taten.
Nur wenn es den deutschen Reformern gelingt, Theologen und Bischöfe in anderen Kulturkreisen davon zu überzeugen, dass dies der Kirche guttun und ihr bei der Erfüllung ihres Auftrags in der Welt helfen wird, haben sie eine Chance, den geographisch und kulturell begrenzten Impuls des Synodalen Wegs in ein Reformprojekt für die katholische Weltkirche einmünden zu lassen. Die Weltsynode im Oktober 2023 wird die erste große Gelegenheit sein. Und je nachdem wie die verläuft, könnte ein Drittes Vatikanisches Konzil wahrscheinlicher werden.
Aber um das zu erreichen, braucht es einen dreifachen Realismus. Der eine betrifft die Zeitachse. Die Drohgebärde des „Wenn sich nicht jetzt sofort alles radikal ändert, sind wir weg!“ hilft nicht weiter. Das seltsame Konstrukt des Kirchenaustritts, der das mit einem Finanzierungsboykott gekoppelte Vehikel für diese Drohung ist, kennt und versteht außerhalb des deutschen Kulturkreises ohnehin kaum jemand. Und wenn ein paar Millionen deutsche Katholiken die Kirche verlassen, berührt das die katholische Weltkirche nur wenig. Eine realistische Korrektur ist aber auch beim theologischen Grundansatz vonnöten. Es wird auf Dauer nicht reichen, die Reformideen mit den Erkenntnissen aus der deutschen MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch zu begründen. Die Studie liefert zwar einen plausiblen Anlass, theologische Grundlagen und kirchenrechtliche Regeln gründlich in Frage zu stellen. Aber als Grund für die Reform ist das schlichtweg zu wenig. Hier sollten sich die Diskutanten beim Synodalen Weg ehrlich machen. Realismus ist auch bei den Zielvorgaben angebracht. Wenn etwa das Frauenpriestertum oder die sakramentale Ehe für homosexuelle Paare von vornherein zu unverhandelbaren Mindestforderungen deklariert werden, wird es kaum möglich werden, die Debatte auf weltkirchlicher Ebene überhaupt zu öffnen. Diese Öffnung zu erreichen, ist aber, soweit ich es überblicken kann, derzeit ein vordringliches (und keineswegs unrealistisches) Ziel.
Ludwig Ring-Eifel, geboren 1960 in Trier, ist seit 2005 Chefredakteur der Katholischen Nachrichten-Agentur KNA. Zuvor war er Korrespondent der KNA in Rom. Er ist Autor mehrerer Bücher über die Päpste und den Vatikan sowie einer Fernseh-Dokumentation über das Zweite Vatikanische Konzil für den Sender arte („Kampf um den Vatikan“). Den Synodalen Weg begleitet er als Journalist von Beginn an mit Berichten und Kommentaren.