POLITIK AUS CHRISTLICHEM MENSCHENBILD

Volker Kauder weist darauf hin, dass die Selbstzuschreibung „konservativ“ wegen ihrer Beliebigkeit einer inhaltlichen Entkernung der CDU gleich käme. Grundlage für politisches Handeln  müsse vielmehr der Realismus des christlichen Menschenbildes sein, der Politik am Menschen und nicht den Menschen an der Politik auszurichtet.

Den folgenden Beitrag können Sie hier ausdrucken.

Volker Kauder

Politik aus dem christlichen Menschenbild

„Die Union muss sich wieder ihrer konservativen Wurzeln besinnen!“ So ein Einwurf, der in der innerparteilichen Debatte um die weltanschauliche Ausrichtung der Christlich Demokratischen Union immer wieder zu hören ist. Verstärkt war dieser gutgemeinte Wunsch im Zusammenhang der Asylpolitik, insbesondere aber auch der Bundestagswahl 2017 und der Europawahl 2019 zu hören. Das „Konservative“ wurde von manchen als angemessene Reaktion auf ein vermeintliches Abwandern von Teilen der Wählerschaft gesehen.

Diese Forderung ist in doppelter Hinsicht falsch:

Zum einen ist „konservativ“ zunächst nichts weiter als ein formaler Begriff. Er ist inhaltsfrei und lässt offen, was genau denn eigentlich konserviert werden soll. Die Selbstzuschreibung „konservativ“ ist bereits wegen ihrer Beliebigkeit nicht zielführend für die Benennung eines parteipolitischen Fundaments. Die politische Unterbestimmtheit des Begriffs zeigt sich auch daran, dass er Eingang in die Selbstbeschreibung von SPD und Grünen fand: Helmut Schmidt sah in der SPD die Partei der „Reform und des Bewahrens[1]“, der Grünen-Ministerpräsident Winfried Kretschmann warb kürzlich in einem Buch für „eine neue Idee des Konservativen“[2]. Entscheidend ist also nicht, ob etwas konserviert und bewahrt wird, sondern was. Der Begriff des Konservativen macht nur dann Sinn, wenn er von einem inhaltlichen Fundament her bestimmt wird, er selbst kann als ein solches nicht dienen.

Der zweite Fehlschluss der genannten Forderung nach einer Rückbesinnung auf ein konservatives Profil besteht gerade im Hinblick auf die Union darin, dass ihre Grundsatzprogramme die These einer konservativen Tradition konterkarieren. Der rote Faden, der sich seit ihrer Gründung durch die programmatische Ausrichtung der CDU zieht, ist das Christliche Menschenbild[3]. Exemplarisch kann man dies etwa am Grundsatzprogramm von 1994 ablesen: Das Wort „konservativ“ taucht dort nur an einer einzigen Stelle auf – und zwar als „wertkonservativ“, während der Begriff „christlich“ (außerhalb des Parteinamens) dem Leser mehr als ein Dutzend Mal begegnet.[4] Diese Beobachtung lässt sich auch auf die anderen Grundsatzprogramme übertragen. Es gibt im Selbstverständnis – soweit man die Programme hierfür als Maßstab heranzieht – gar keine Tradition des „Konservativen“, auf die man sich rückbesinnen könnte.

Es ist meine tiefe Überzeugung, dass das politische Profil der CDU auf dem Fundament des Christlichen Menschenbildes steht und von diesem her zu entfalten ist. Wenn die CDU eine Rückbesinnung benötigt, dann sicher keine auf das „K“, sondern das „hohe C“. Dies bedeutet keineswegs, dass die CDU Exekutivorgan der christlichen Kirchen ist oder gar „christliche“ Politik macht. Gerade wegen der im Christlichen Menschenbild verankerten Grundüberzeugungen, etwa dass alle Menschen aufgrund ihrer Gottebenbildlichkeit gleich an Würde sind, verbietet sich eine solche Klientelpolitik. Derzeit sind etwa 55 Prozent der Deutschen Kirchenmitglieder, 36 Prozent sind konfessionslos. Eine von den beiden großen Kirchen geförderte Studie ermittelte, dass bis 2060 damit zu rechnen ist, dass sich die Anzahl an Kirchenmitgliedern in Deutschland auf etwa 23 Millionen Menschen reduzieren wird.[5] Doch die Abnahme an Kirchenmitgliedern und die zunehmende weltanschauliche Pluralisierung unserer Gesellschaft muss nicht zwingend nur einen Relevanzverlust des Christlichen bedeuten. Angesichts dieser Vielfalt gibt es keine selbstverständlichen Hegemonien mehr. Wir sollten dies allerdings als Chance verstehen: Gerade dort, wo sich etwa das Christliche Bild vom Menschen nicht einfach aus Konvention und Tradition heraus durchsetzt, hat es umso mehr die Chance, sich auf dem Markt der Möglichkeiten auf dem Weg des zwanglosen Zwangs des besseren Argumentes zu beweisen.

Ich will die bleibende Attraktivität des Christlichen Menschenbildes an dieser Stelle am Beispiel seines Realismus kurz verdeutlichen:

Ideologien jedweder Couleur stimmen darin überein, dass es ihnen nicht darum geht, den einzelnen Menschen so zu achten, wie er ist, sondern darum, wie er – ihrer Meinung nach – sein soll. Ein eindrückliches historisches Beispiel hierfür ist das damalige Bestreben der Bildungspolitik der DDR, Bürger zu einer sozialistischen Persönlichkeit heranzuziehen. Dabei griff man mit den „Zehn Geboten der sozialistischen Moral und Ethik“[6] sogar auf eine eigentlich religiös geprägte Terminologie zurück. Der Realismus des Christlichen Menschenbildes zeichnet sich dadurch aus, dass es den Menschen in seiner Ambivalenz ernst nimmt, sich also seiner Bereitschaft zu Verantwortung und Nächstenliebe ebenso bewusst ist wie der immer gegebenen Möglichkeit des Scheiterns oder des Zuerst-an-sich-Denkens. Man kann auch sagen: Die für das christliche Menschenbild ausschlaggebenden Kategorien von Erlösungsbedürftigkeit und Sünde finden hier gewissermaßen ihre politisch-säkulare Übersetzung. Daraus leitet sich für das politische Handeln ab, vom Einzelnen nicht mehr zu verlangen, als er zu leisten fähig ist und ihm nicht seinen Egoismus vollständig abtrainieren zu wollen, sondern diesen – etwa in der Wirtschaftspolitik – durch ordnungspolitische Maßnahmen in Bahnen zu lenken, die sich am Gemeinwohl ausrichten. Das ist sodann auch einer der zentralen Gedanken der sozialen Marktwirtschaft. Grundsätzlicher formuliert: Der Realismus des christlichen Menschenbildes mahnt dazu, die Politik am Menschen und nicht den Menschen an der Politik auszurichten. Es bedeutet zudem, den Menschen nicht nur als ein Produkt der Natur oder der Gesellschaft zu sehen, sondern anzuerkennen, dass in ihm immer auch die – wie Wilhelm Korff einmal formulierte – Revolution zum Humanen gegeben ist, dass er also immer noch einmal anders und durch keine Ideologie einholbar ist. „Der Mensch so wie er geht und steht“ sei, so pointierte es Heiner Geißler, der wahre Mensch. Hierauf sollte sich die CDU in ihrem politischen Handeln stets besinnen. Eine dezidiert konservative Profilierung der CDU käme einer inhaltlichen Entkernung gleich und würde nicht nur die Christdemokratie, sondern auch unsere plurale Gesellschaft einer entscheidenden formativen Kraft berauben.

Volker Kauder (1949) ist in der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zuständig für Wertethemen, Religionsfreiheit und den Einsatz gegen Christenverfolgung. Von 2005 bis 2018 war er Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Seit 1990 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages. In seinem 2020 im Herder-Verlag erschienenen Buch „Das hohe C“ wirbt er für eine Politik, die sich am Christlichen Menschenbild orientiert.

[1] Vgl. Schmitz, Sven-Uwe, Konservativismus, Wiesbaden 2009, S. 143.

[2] Vgl. Kretschmann, Winfried, Worauf wir uns verlassen wollen. Für eine neue Idee des Konservativen, Frankfurt a.M. 2018.

[3] Soweit damit der inhaltliche Kern der vielen theologisch und kulturell nuancierten christlichen Menschenbilder gemeint ist, habe ich mir angewöhnt, es mit einem großen – man könnte auch sagen: hohen – C zu schreiben.

[4] Vgl. Freiheit in Verantwortung. Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, verabschiedet auf dem 5. Parteitag, Hamburg 20.-23. Februar 1994.

[5] Vgl. Forschungszentrum Generationenverträge, Langfristige Projektion der Kirchenmitglieder und des Kirchensteueraufkommens in Deutschland, Freiburg 2019.

[6] Die 10 Gebote der sozialistischen Moral und Ethik, punktuell auch „10 Gebote für den neuen sozialistischen Menschen“ genannt, wurden auf dem V. Parteitag der SED (10. – 16. Juli 1958) von Walter Ulbricht verkündet. Eine Übersicht der Gebote findet sich in dem FDGB-Lexikon der Friedrich-Eber Stiftung, verfügbar hier: http://library.fes.de/FDGB-Lexikon/texte/sachteil/z/10_Gebote_der_sozialistischen_Moral.html.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert