HORIZONTSTIFTENDE BILDUNG

Matthias Burchardt fordert die Abkehr von der Bildungspolitik nach dem Motto „teaching to the test“ und unterstreicht die Ziele von Wis­sen, Können und Persönlichkeitsbildung.

Den folgenden Text können Sie hier ausdrucken.

Matthias Burchardt

Horizontstiftende Bildung statt „teaching to the test“

Es sind beinah 20 Jahre ins Land gegangen, seit die OECD mit dem ersten PISA-Test in der deutschen Öffentlichkeit einen Schock ausgelöst hat, der – so die Behauptung – zur Verbesserung der Bildungser­gebnisse beitragen sollte, weil Deutschland im internationalen Vergleich nicht mehr mithalten könne. Und so gab es massive Eingriffe in Abläufe, Inhalte, Modelle und Ziele. Das Schulwesen wurde gerade­zu schwindelig reformiert. Die Schulzeit wurde verkürzt, neue Lehrmethoden eingeführt, Absolventen­quoten erhöht. Statt Bildung oder Wissen sollten die Kinder nun Kompetenzen erwerben, Lehrkräfte sollten zu Lernbegleitern oder Coaches werden, Klassenunterricht sollte dem selbstgesteuerten Lernen weichen. Und die Hoheit über die Beurteilung guter Bildung verlagerte sich in die Hände der empiri­schen Bildungsforschung, die flankiert durch think-tanks und Stiftungen (z.B. die BertelsmannStiftung aus Gütersloh) der Politik die besten Rezepte an die Hand zu geben versprach. Vieles ist im Wirbel der kreativen Zerstörung in den letzten beiden Jahrzehnten verändert worden.

Die Erfolgsbilanzen der Reformen sind ausgesprochen mager. Zwar hat man z.B. die Zahl der Abiturien­ten und auch die Akademikerquote erhöhen können, doch um welchen Preis? Eine Studie der Kon­rad-Adenauer-Stiftung attestiert den Absolventen erhebliche Defizite in Ausbildungsreife und Studierfähig­keit. (Henry-Huthmacher/Hoffmann (Hrsg.) Ausbildungsreife und Studierfähigkeit. Berlin 2016.) Hoch­schulen und Handwerk beklagen gleichermaßen die negativen Folgen der Akademisierung, auf der einen Seite fehlen die guten Fachkräfte und Handwerker auf der andern Seite sinkt das Niveau an den Hoch­schulen.

Liegt es an den faulen Lehrern, die die Reformen falsch oder bloß unwillig umsetzen? Brauchen wir vielleicht noch viel radikalere Reformen, etwa die Ersetzung der Lehrkraft durch Roboter oder Lernsoft­ware? Oder ist die Bundesrepublik einer Clique von Scharlatanen aufgesessen, die der Soziologe Ri­chard Münch den „bildungsindustriellen Komplex“ nennt, ein Konglomerat aus OECD, Testindustrie und willfähriger Wissenschaft?

Die Agenda der OECD jedenfalls ist nur schwer in Einklang mit den Bildungszielen der bundesrepubli­kanischen Landesverfassungen zu bringen, sie möchte keinen Staatsbürger, kein gebildete Persönlich­keit, keine Aufklärung, keine soziale Verantwortung, keine Ehrfurcht vor Gott oder Heimatliebe, son­dern verwertbares Humankapital (https://www.oecd-ilibrary.org/education/human-capital_9789264029095-en).

Damit ist nicht nur der Bruch mit der christlich-humanistischen Bildungstradition vollzogen, sondern auch Buchstabe und Geist der Verfassungen verletzt. Dabei mangelt es allenthalben an gebildeten Men­schen, die in Demokratie, Kultur und Wirtschaft für ein gedeihliches miteinander sorgen. Der Zer­fall des sozialen Zusammenhalts, Verrohung und Radikalisierung, kulturelle Entwurzelung und postfak­tische, angsterfüllte Debatten sind bedenkliche Anzeichen einer gesellschaftlichen Krise, die neben ge­samtgesellschaftlichen Erosionsprozessen nicht zuletzt auf ein erhebliches Maß von persönlicher wie kollektiver Unbildung verweist. Eine gewisse Zeit lang konnte das PISA-Regime noch von der Kraft der traditieren Werte und Orientierungen in der Schule zehren, doch mit den Generationen der pensionierten Lehrer schwinden auch diese Gegenkräfte und die Reformschäden kommen nun erst zeitversetzt ganz massiv zum Vorschein.

Es ist höchste Zeit politisch gegenzusteuern. Doch wo kann man ansetzen? Ein wesentlicher Ansatz­punkt besteht in der Revision der Betrachtungsweise und der Leitbegriffe.

Zur Betrachtungsweise: Im Zuge der Reformen wurde das Instrument der output-Steuerung eingeführt, eine Form der Erfolgsmessung, die sich weniger um die Voraussetzungen (ausreichende Mittel und Aus­stattung, gut ausgebildete Lehrkräfte) oder die Prozesse (didaktisch wohlbegründetes pädagogisches Handeln), als um die Ergebnisse (Zahl der Absolventen oder Ergebnisse zentraler Lernstandeserhebun­gen) gekümmert haben.

Dieser Ansatz trägt zwei fatale Fehler in sich. Einerseits die Vorstellung, dass man Bildung in Zahlen abbilden könne. Zum anderen den daraus resultierenden Anreiz, nicht mehr Bildung zu ermöglichen, sondern gute Zahlen zu erreichen. Bildung ist aber ein qualitatives Phänomen, das sich zwar beurteilen, aber nicht messen lässt. Dasselbe gilt übrigens auch für das Handeln von Politikern. „Vom Wiegen wird die Sau nicht fett, aber sie lernt sich aufzuplustern“, sagt der Volksmund. Entsprechend verlagern Schu­len und Bildungspolitik in stiller Eintracht die Frage nach der Bildung in die Scheinwelt der Zahlen, sen­ken das Niveau, betreiben „teaching to the test“ und verteilen Zertifikate, die aber nicht mehr durch Wis­sen, Können oder Persönlichkeitsbildung gedeckt sind.

Zu den Leitbegriffen: In einem Eugenspiegelexperiment des Frankfurter Biologiedidaktikers Prof. H.-P. Klein kommt die ganze Misere des PISA-Zeitalters zum Vorschein. Klein hat eine Abiturklausur Leis­tungskurs Biologie einem unvorbereiteten 9. Schuljahr zur Bearbeitung vorgelegt und danach der vorge­schriebenen Korrektur zugeführt. Das Ergebnis war verblüffend: Ein Großteil der Schüler hat die Aufga­ben mit Leichtigkeit gelöst, es war sogar ein sehr gut im Notespiegel. Der Grund besteht nicht etwa in der überragenden Intelligenz der Gruppe, sondern im bescheidenen Aufgabenanspruch, das auf Kompe­tenzen ausgerichtet war. Biologisches Fachwissen war zum Bestehen des Abiturs nicht erforderlich.

Unter Kompetenzen versteht die Schule seit PISA nämlich ein Arsenal nach Problemlösefähigkeiten, mit welchem das Kind ausgestattet werden solle. (Vgl. J. Krautz: Kompetenzen machen unmündig. https://www.gew-berlin.de/public/media/20150622_streit1-kompetenzen.pdf) Wissen, Werte oder Per­sönlichkeitsbildung spielen kaum noch eine Rolle, weder in den Lehrplänen noch in den Prüfungsforma­ten. Dies zeigt sich Eltern z.B. darin, dass sie zwar den Unterrichtsstoff ihrer Kinder beherrschen, aber die Hausaufgabenformate trotzdem nicht verstehen, weil der Fokus sich verschoben hat. Ohne fachli­chen Leistungsanspruch ohne wertorientierte Ansprache, ohne Disziplin und verantwortungsbewusste pädagogische Autorität aber verkümmert die nächste Generation, sie wird nicht frei und selbstbestimmt, sondern desorientiert und unmündig.

Wenn ich nichts mehr wissen muss, sondern nur noch, wo es steht, bin ich demjenigen ausgeliefert, der es dort hingeschrieben hat. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wir der Schule vorgeworfen ha­ben, sie vermittele bloßes Faktenwissen, und jetzt beklagen, dass Debatten postfaktisch geführt werden. Der Leitbegriff der Kompetenz ist untauglich für die Schule. Die Begriffe Erziehung und Bildung müs­sen unbedingt wieder von der Tradition her scharf gezogen werden. Denn natürlich brauchen wir Wissen und Können, aber auch Selbsterkenntnis und Urteilskraft, Selbstbestimmung und Gemeinsinn. All dies aber kann nur zum Horizont einer verantwortlichen Lebensführung werden, wenn wieder Fachlichkeit, Leistungsansprüche, Persönlichkeitsbildung und Wertbindungen in der zwischenmenschlichen pädago­gischen Beziehung eines Lehrers zu seiner Klasse stattfinden.

Dr. phil. Matthias Burchardt ist Akademischer Rat an der Universität zu Köln. Seine Forschungsgebiete sind An­thropologie, Bildungstheorie und Bildungspolitik. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert