Klaus Mertes SJ fordert aus seiner Erfahrung als Schulleiter, dass Bildungspolitik den Vorrang der direkten Begegnung zwischen Lehrenden und Lernenden anerkennen und Bildungsinstitutionen Autonomie in einem geregelten Rahmen gewähren muss.
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Klaus Mertes, SJ
Menschenbild und Bildung
– Erfahrungen eines Schulleiters –
Zu den schwierigen Erfahrungen der letzten Jahre mit Bildungsreformen in Deutschland – insbesondere nach dem „PISA-Schock“ 2000 – gehört der Eindruck, dass sich die Diskurse auf der Makro-Ebene der Schulverwaltungen immer mehr ablösen von denen, die auf der Mikro-Ebene des Schulalltags stattfinden. Je tiefer der Graben wird, umso schneller kreisen die jeweiligen Diskurse um sich selbst, ohne mit den anderen in Beziehungen zu treten. Da die Makro-Ebene der politischen Bildungsverwaltungen messbare Kriterien finden muss, um ihre Entscheidungen vor der Öffentlichkeit zu verantworten, stützt sie sich auf die Aussagen derjenigen Bildungsforscher, Stiftungen und Institute, die Statistiken vorlegen, Pläne in quantitativ messbaren Zahlen ausdrücken und deren Implementierung überprüfen können. Andererseits geben dieselben Agenten auf der Makro-Ebene immer wieder zu, dass „Bildung im eigentlichen Sinne nicht messbar“ ist und sich deswegen der Planbarkeit entzieht; es gehe bei den plan- und messbaren Aspekten von Bildung also immer „nur“ um Teilaspekte, die das Ganze der Bildung natürlich nicht fassen. Dem kann der Praktiker vor Ort nur zustimmen, zumal er oder sie ja selbst auch weiß und konzediert, dass die Dimension der Planung und Messung zum Schulalltag hinzugehört. Aber was folgt daraus für die politische Relevanz von Erfahrungen eines Schulleiters vor Ort, sofern sie über die Dimension des Messbaren hinausgehen? Und dass sie dies tun, sollen die folgenden Überlegungen zunächst einmal deutlich machen:
1. Bildung und Würde
Bildung ist ein Dienst an der Würde des Menschen, konkret: an der Würde der Kinder und Jugendlichen. Kant hat den Begriff der „Würde“ von der Selbstzwecklichkeit der menschlichen Person her definiert: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck achtest.“ An anderer Stelle sagt Kant lapidar: „Die Menschheit ist eine Würde.“1
Wenn es sich so verhält, dann ist Bildung vorgängig zu gesellschaftlichen Zwecken, denen sie auch dienen können soll, zunächst einmal Selbstzweck. Dann bedeutet aber Bildung auch, jungen Menschen im Prozess der Bildung ihre Würde erfahrbar zu machen – oft genug auch gegen ihre eigenen Tendenzen zur Selbstentwürdigung unter die Diktate von Gruppen- und Anpassungsdruck, von Konkurrenz um den schönsten Körper, um die größte Beliebtheit oder den dicksten Geldbeutel.
Ich mache in der Schule die Erfahrung, dass der Begriff der „Würde“ bei den Schülern zwar zunächst positiv besetzt ist, dass er sich aber als hohlerweist, wenn es um die Konkretisierung geht. Es stellt sich dann schnell heraus, dass die meisten Schüler und Schülerinnen eher „ethische Egoisten“ sind, ohne es zu merken. Damit meine ich nicht, dass sie Egoisten im moralischen Sinne des Wortes sind, sondern dass sie intuitiv eine bestimmte Begründungsstrategie für ethische Normen favorisieren, die man den „ethischen Egoismus“ nennt. Das sagt allerdings auch etwas über die Gesellschaft aus, aus der sie kommen.
Der Vater des neuzeitlichen ethischen Egoismus ist Thomas Hobbes. Kurz zusammengefasst meint er, dass ethische Normen vom wohlverstandenen Eigeninteresse her zu begründen sind. Wenn alle ihre eigenen Interessen mit Sinn und Verstand folgen, dann ist am Ende allen am besten gedient. Hobbes führt sogar die goldene Regel („Was ihr von anderen erwartest, das tut auch ihnen“ – Mt 7,12) der Bergpredigt auf dieses Prinzip zurück.
„Würde“ im Sinne Kants oder auch im Sinne der Goldenen Regel ist aber im Kern eine Option für die Existenz eines gleichrangingen „inneren Wertes“ (Kant) auch beim anderen. „Ich“ bin nicht „besonderes“, sondern ich bin – in dem, was ich von anderen beanspruchen darf – mit ihnen gleich. „Ich“ kann nur beanspruchen, anständig behandelt zu werden, wenn ich allen anderen auch zugestehe, dass sie mir gegenüber denselben Anspruch haben. Es geht also nicht um Nutzenberechnung „für mich“. Die Goldene Regel ist eine Empathie-Regel, keine Regel der optimalen Berechnung des Eigeninteresses, welches dann wie von unsichtbarer Hand auch den optimalen Effekt für alle anderen bewirkt, wenn diese nur ihrerseits ihr Eigeninteresse optimal berechnen. Es ist bereits ein Dienst an der „Würde“ der Schüler, wenn ihnen die Bedeutung dieses Unterschiedes eröffnet wird. Das ist nicht nur eine Frage des Ethikunterrichtes, sondern betrifft breite Teile des unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Curriculums einschließlich des Umgangs mit den erzieherischen Fragen. Hier tut sich ein weites Feld auf.
2. Bildung und Ausbildung
Zweitens ist mit dem Hinweis auf die Würde der menschlichen Person eine Differenz markiert, die im Deutschen schön zum Ausdruck kommt in der Unterscheidung von Bildung und Ausbildung: Man kann Menschen ausbilden, aber nicht bilden. Peter Bieri: „Sich zu bilden ist tatsächlich etwas ganz anderes als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.“2
Die Unterscheidung zwischen Bildung und Ausbildung ist keineswegs manichäisch zu verstehen, so als stünden Bildungs- und Ausbildungsprozesse einander diametral entgegen. Das Gegenteil ist der Fall: In jedem Bildungsprozess geht es auch um methodisches Üben mit dem Ziel, ein Können, eine Kompetenz zu erwerben. Jeder Bildungsvorgang hat einen Ausbildungsaspekt. Es geht mir vielmehr um das Kantische „bloß“ – Bildung „bloß“ als Mittel zum Zweck. Wenn Bildung „bloß“ Mittel für Zwecke ist, die außerhalb von Bildung liegen, dann verschwindet Bildung im Sinne der Selbstbildung. Man kann das auch umgekehrt formulieren: Wenn es stimmt, dass man Menschen nicht bilden, sondern nur ausbilden kann, dann würde die Reduktion von Bildung auf Ausbildung bedeuten, dass der Mensch sich anmaßt, Menschen zu bilden. Das kann aber, theologisch gesprochen, nur Gott.
In der kirchlichen und jesuitischen Pädagogik haben wir in den letzten Jahren versucht, diese produktive Spannung zwischen Ausbildung und Bildung im „Nutzenparadox“ zum Ausdruck zu bringen. Das Wort „Schule“ kommt bekanntlich von griechisch „schole“, lateinisch „otium“, und bedeutet „Muße“. Muße ist ein Privileg derer, die nicht unter dem Diktat der Arbeit stehen. Schulbesuch ist also ein Ausdruck von Freiheit. In der biblischen Tradition war es der Sabbat, an dem das ganze Volk vom Diktat der Arbeit, vom Regiment des Nutzens frei sein sollte, auch die Fremden, die Sklaven, ja sogar das Nutzvieh. Der Sabbat ist sozusagen der Schultag schlechthin, der Tag der Muße. Die katholische Kirche in Deutschland hat daraus in den letzten Jahren eine Bildungskonzeption entwickelt, die auf dem „Sabbatparadox“ basiert. Die Pointe lautet: Der Sabbat nutzt, weil er nicht nutzt – er ist nicht unnütz, sondern „übernützlich“ (Thomas Mann) ist. Das gilt für Schule, sofern sie sich als Bildungsinstitution versteht.3
Beispiel: Vor einiger Zeit erhielt ich einen Brief eines ehemaligen Schülers. Der Schüler war, aus kleinen Verhältnissen stammend, nach Abitur und Studium am Kolleg St. Blasien4 erfolgreicher Unternehmer geworden, hatte dann auf Unternehmensberatung umgesattelt und war schließlich in den letzten Jahren bei der Ausbildung von Führungspersonal in der Wirtschaft tätig gewesen – mit großer Breitenwirkung und Prominenz. Nun hatte ihn kurz vor Vollendung seines 65. Lebensjahres die Diagnose Krebs erreicht. Auf seinem Krankenbett liegend erinnerte er sich an seine alte Schule und dachte darüber nach, was ihm in seiner Schulzeit für seine erfolgreiche Karriere am meisten gegeben hätte. Dies teilte er mir in seinem langen Brief mit. Es war, wie er mir schrieb, vor allem das Schulorchester. Dort hatte er gelernt zuzuhören, sich einzuordnen, zum richtigen Zeitpunkt hervorzutreten, Geduld zu haben, sorgfältig zu sein, Qualitätskriterien zu entwickeln, zu üben, zu improvisieren, öffentlich aufzutreten, mit Lampenfieber umzugehen, andere mitzureißen, sich von anderen mitreißen zu lassen. Der Brief war eine Hymne an die erzieherische Bedeutung des gemeinsamen Musizierens, eine Hymne an den Nutzen des Nutzlosen im Sinne des Selbstzwecklichen.
Das pädagogische Geheimnis des Nutzenparadoxes besteht darin, dass man es nicht einseitig auflösen kann. Wer das Nutzlose nur deswegen anstrebt, weil es nutzt, verfehlt es. Man muss grundsätzlich aus der Nutzen-Logik aussteigen. Dann wird der Nutzen hinzugegeben. Im Übrigen gilt das für nicht nur für Musik, sondern für jedes Fach, für das man sich zweckfrei begeistern kann – und das gilt eigentlich wiederum für jedes Fach. Es gilt auch für den guten Lehrer: Nur wer begeistert ist, begeistert. Wer aber nur begeistert ist, um zu begeistern, begeistert nicht. Die Schüler merken die Absicht, das Kalkül, und schalten ab. Und es gilt auch umgekehrt: Jedes Fach kann entwertet werden dadurch, dass es dem Nutzenkalkül unterworfen wird. „Was bringt mir das?“, fragen die Schüler oft. Die Frage muss beantwortet werden und ist dennoch eine Versuchung, wenn man sie total und definitiv beantworten will. Ich erinnere mich an eine Schülerin, deren Eltern sie schon in jungen Jahren zur Starcellistin machen wollten. Als zwölfjährige spielte sie schon Dvorak und Saint-Sans. Sie war der ganze Stolz ihrer Eltern, die bei jedem Konzert und auch bei jeder Probe dabei waren und alles mitfilmten. Sie erhielt viel Anerkennung. Ihre Eltern sahen sie schon auf der Bahn des großen Erfolges. Auf mich machte das Ganze eher den Eindruck von Kindesmisshandlung. In späteren Jahren entzog sich die Schülerin der Karriereplanung ihrer Eltern und wechselte im Studium auf Medizin. Heute ist sie eine gute Amateurmusikerin und eine erfolgreiche Ärztin. Sie hat sich selbst und letztlich auch ihre Musik gerettet, in dem sie beide dem Diktat des Nutzenkalküls, in diesem Fall der Bildungsplanung der Eltern, entzogen hat.
3. Schule und Zwang
Schule ist ein Zwangssystem. Schüler sind nicht freiwillig in der Schule, sondern auf Grund der Schulpflicht. Schüler sind – systemisch gesehen – auch dann nicht freiwillig in der Schule, wenn sie gerne in der Schule sind. Daraus folgt, dass in der Gestaltung von Schule immer auch eine Dimensionen Disziplin, Struktur5 und Durchsetzungsmacht mitzudenken sind, gerade auch dann, wenn es um die Beziehung von Lehrern und Schülern geht. Das kann sowohl untertrieben als auch übertrieben werden. Schule als Machtmissbrauchs-System erkennt man an totalitären Ansprüchen – an dem Anspruch, Menschen „kneten“ zu wollen oder sich „kneten“ zu lassen, wie es Rudi Palla in einem eindrucksvollen Überblick über pädagogische Experimente aus vielen Jahrhunderten gezeigt hat.6
Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist die, dass Bildung und Freiheit zusammengehören, und Freiheit wiederum mit Würde. Bildung ist Selbstbildung auch in dem Sinne, dass es um eigene Erkenntnis in Freiheit geht, nicht nur um das Erkennen von Dingen, von denen Schule, Eltern und Gesellschaft wollen, dass ich sie erkenne. Selbst wenn das, was ich selbst erkenne, mit traditionellen, familiären oder gesellschaftlichen Erkenntniserwartungen übereinstimmt, ist es doch ein Unterschied, ob ich es wirklich selbst erkenne, oder ob ich es bloß übernehme. Deswegen ist – nebenbei gesagt – die grundlegendste Investition von Eltern und Schule in den Bildungsprozess von Jugendlichen, ihnen Vertrauen zu schenken; ihnen also zutrauen, dass sie selbst erkennen können.7
Zu eigenen Erkenntnissen zu gelangen ist keine Selbstverständlichkeit, geschieht nicht automatisch. Ich gehe nach aller Erfahrung eher davon aus, dass Menschen lieber wissen wollen, was sie übernehmen sollen, um es dann zu können und gegebenenfalls reproduzieren zu können, als sich der Mühsal eigener Erkenntnisprozesse zu unterziehen – der kritischen Prüfung von Meinungen, Anforderungen und vorgegebenen Prägungen. Umgekehrt ist es ein Fest für einen Lehrer, wenn er sehen darf, dass ein Schüler oder eine Schülerin wirklich zu einer eigenen Frage, zu einer eigenen Erkenntnis kommt.
Beispiel: Wie Sie vielleicht wissen, haben wir am Kolleg St. Blasien seit mehr als 20 Jahren einen Austausch mit zwei chinesischen Schulen. Zu dem Austausch gehört auch, dass chinesische Schüler in der Mittelstufe zu uns in das Internat kommen, dort zunächst deutsch bis zum B2-Abschluss lernen und dann in die Kursphase einsteigen, um nach vier Semestern das deutschsprachige Abitur abzulegen. Immer wieder bewundere ich den Mut und die Ausdauer dieser Jugendlichen, sich auf diese immense Herausforderung einzulassen. Sie sind unglaublich fleißig und lernbegierig. Die größte Herausforderung ist für sie letztlich nicht der Spracherwerb, sondern der Eintritt in eine andere Kultur, auch in eine andere Lernkultur. Sie vermissen im deutschen Schulbetrieb den Drill und manchmal auch die klaren Vorgaben, was sie lernen sollen. In den Klausuren fällt ihnen die Realisierung von Operatoren wie „erörtern“, „erwägen“ und „diskutieren“ besonders schwer. Kürzlich fuhr ich mit einigen unserer chinesischen Schüler in das Freiburger Konfuzius-Institut, um dort einem Vortrag zu lauschen. Auf der Fahrt fragte mich eine chinesische Schülerin in schüchternem Ton nach längerem Schweigen: „Sagen Sie mal, warum loben die Chinesen immer Deutschland, und Deutsche kritisieren immer China?“ Da war sie, die Warum-Frage! Die Entdeckung der Warum-Frage ist eine Freiheitserfahrung: Vorgegebenen Inhalte und Zwecke können Frage gestellt werden: Warum soll ich dies und jenes lernen? Warum ist dieses oder jenes Ziel erstrebenswert, auf das hin ich mich ausbilden lasse? Überhaupt: Stimmen die Meinungen und Positionen des Lehrers, der Eltern, der Partei, der Tradition? Menschen sind Lebewesen, die Warum und Wozu fragen können. Bildung führt Menschen dazu, die Warum-Frage zu stellen. Da beginnt dann auch die Freiheit.
Warum dann aber Zwang? Kant hat es in seiner Pädagogikvorlesung das pädagogische Paradox einmal so formuliert hat: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“8 Die zynische Antwort lautet: „Lasst ihn (den Zögling) immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht.“9 Wenn dies das Programm ist, dann wäre das Paradox zugunsten des Zwanges aufgelöst, die Bahn frei für das „Kneten“. Doch die Alternative besteht nicht darin, Schule bloß als „Treibhäuser“10 des Wachsens zu inszenieren. Einige neuere Ansätze insinuieren, dass Schule mit ihren notwendigen Zwangsaspekten Bildung gerade verhindere. Aber das stimmt so einfach nicht.
Junge Menschen kommen ihrerseits aus Kontexten in die Schule, die sie bereits prägen, und nicht alle Kontexte, aus denen sie kommen, machen sie frei. An dieser Stelle bin ich versucht, einen kleinen Exkurs zur christlichen Erbsündenlehre und überhaupt über Verstrickungen einzuschieben, den ich aber gleichfalls aus Zeitgründen unterlasse. Jedenfalls braucht die Schule ihre Macht- und Zwangsmittel, um das Werden von Freiheit schützen zu können. Auch die allgemeine Schulpflicht wurde nicht eingeführt, um junge Menschen zu unterwerfen und zu unterdrücken, sondern um sie aus Situationen der Unfreiheit herauszuführen, in der sie ohne Bildung stecken bleiben würden.
4. Lehrer-Schüler-Beziehung
Menschen sind soziale Lebewesen – „zoon politikón“ lautet die klassische Definition des Menschen bei Aristoteles. Da in der jüngeren pädagogischen Debatte oft mit neueren Erkenntnissen aus der Hirnforschung argumentiert wird, erfreut es den Praktiker, dass gerade neuere Untersuchungen aus diesem Bereich eine intuitive Lehrererfahrung bestätigen: Entscheidend für den Lernerfolg ist die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung. Lernmethoden und angemessene Strukturen sind zwar notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen.
Der Freiburger Hirnforscher Joachim Bauer11 knüpft an die Forschungsergebnisse des Neurobiologen Thomas Insel an, nach denen das menschliche Gehirn ein auf gute Beziehungen angewiesenen Organ ist. Aus dieser Erkenntnis wurde der Begriff des „social brain“ entwickelt. „Bedeutung für einen anderen Menschen haben, gesehen und wertgeschätzt zu werden ist, wie sich herausstellen sollte, weit mehr als ein psychologisches Desiderat. Es ist die Voraussetzung für die biologische Aktivierung der sogenannten „Motivationssysteme“ im menschlichen Gehirn.“
Nun ist die Haltung der Wertschätzung etwas, wofür man als Pädagoge manchmal täglich kämpfen muss. Aber hier hilft eine andere grundlegende Kategorie für die Bestimmung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses: Es ist ein asymmetrisches Verhältnis. Es beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Es liegt ein unvermeidliches Machtgefälle vor, dass akzeptiert werden muss, vor allem von der Lehrperson: Lehrer müssen Schülern wohlwollen, Schüler Lehrern nicht – ungeachtet der Tatsache, dass es angenehm ist, wenn sie es tun. Lehrer benoten Schüler, Schüler Lehrer nicht – jedenfalls nicht mit dienstrechtlichen Konsequenzen für die Lehrer. Die größere Verantwortung für das Gelingen der Lehrer-Schüler-Beziehung liegt bei der Lehrperson. Aber genau dadurch kann sie auch anleiten, voranschreiten und führen.
5. Schlussbemerkung
Was könne solche Überlegungen den Bildungsplanern auf der Makro-Ebene sagen? Als Väter und Mütter, die sie ja in vielen Fällen auch sind, werden sie den genannten Überlegungen gerne zustimmen. Doch für die politisch relevanten Entscheidungen – was bedeuten sie da?
In Deutschland sind seit 2000 an den Schulen eine Menge von Reformen in Gang gesetzt worden, die im tertiären Sektor über BOLOGNA fortgesetzt wurden. So ungern man das auch auf der Makro-Ebene der OECD hören mag: Die Reformen waren zum allergrößten Teil politisch und ökonomisch und nicht pädagogisch motiviert. Bei der Kürzung des Gymnasiums von neun auf acht Jahre wurde das auch offen zugegeben. Die Kompetenz-Orientierung verdankte sich der Ermöglichung internationaler Vergleichbarkeit, stand und steht also mehr im Dienst der Bildungsforschung und der Bildungsplanung als im Interesse der Bildung selbst. Die out-put-Orientierung beurteilt Bildungssystemen eher an der quantitativen Menge der Abschlüsse als an der Qualität der Abschlüsse. Gewollt ist der Abschluss. Aus der Tatsache aber, dass die 1,0-Durchschnitte beim Abitur immer häufiger werden, kann man keine Rückschlüsse auf pädagogische Qualitätssteigerung bei der Hinführung zum Abitur schließen.
Auch beim Thema Bildungsgerechtigkeit schiebt sich ein gesellschaftliches Interesse in die Bildungsplanung. Es ist ja – jedenfalls aus der deutschen Perspektive – aufschlussreich, dass die OECD das deutsche Schulsystem nicht nur verstärkt einem an ökonomischen Interessen orientierten Bildungsbegriff unterworfen hat, sondern es zugleich rituell einer Fundamentalkritik unterzogen hat unter dem Kriterium der Bildungsgerechtigkeit. Aber auch hier schlägt das Sabbat-Paradox zu: Schule ist nicht einfach nur ein Instrument für Gesellschaftspolitik: Inklusion, Integration, „eine Schule für alle“ mit dem Ziel der Überwindung aller gesellschaftlichen Gegensätze macht am Ende aus Schule ein Herrschafts-Instrument der Politik. Neben der Überforderung von Schule hat solche Bildungspolitik am Ende die größere Ungerechtigkeit zur Folge, weil die entsprechenden Schichten in die privaten Systeme fliehen, die ihrerseits in dem Maße florieren, wie die Nachfrage nach ihnen steigt. Der Staat hat zweifelsohne eine unverzichtbare Rolle bei der Einforderung und Organisation von Solidarität. Aber erzwungen Solidarität führt, wenn sie zum Prinzip wird, zu Desolidarisierung.
Die Makro-Ebene der Bildungsplanung muss anerkennen, dass Bildungsprozesse konkret auf der Mikroebene der direkten Begegnung zwischen Lehrenden und Lernenden und auf der Meso-Ebene der Leitungen der Institutionen stattfinden. Diese brauchen vor allem Vertrauen, um arbeiten zu können, Luft zum Atmen, Autonomie in einem geregelten Rahmen. Die katholische Lehre kennt dazu ein Prinzip, dass auf die Organisation nationaler und internationaler Bildungsorganisation zu übertragen wäre: Subsidiarität. Die Begründungspflicht für Eingriffe in Vorgänge und Zuständigkeiten auf der Mikro-Ebene und auf der Meso-Ebene liegt bei der jeweils höheren Ebene. Bildung braucht Vertrauen. Ohne Vertrauen funktioniert in der Bildung nichts.
Klaus Mertes SJ (1954) ist Kollegsdirektor am Kolleg St. Blasien. Er hat Slawisitik und Klass. Philologie in Bonn studiert und 1977 in den Jesuitenorden eingetreten. Anschließend studierte er Philosphie und kath. Theologie in München und Frankfurt a. M. und wurde 1986 zum Priester geweiht. Nach dem 2. Staatsexamen für Kath. Religion und Latein war er Lehrer an der St. Ansgar-Schule in Hamburg und am Canisius-Kolleg in Berlin, dessen er Rektor er 2000-2011 war. Klaus Mertes ist Mitglied im Zentralkommitte der dt. Katholiken und im Kuratorium Stiftung 20. Juli 1944
1 Weiter: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anders als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, sondern einen inneren Wert, d.i. Würde … Personen sind nicht bloß subjektive Zwecke, deren Existenz las Wirkung unserer Handlung, für uns einen Wert hat; sondern objektive Zwecke, d.i. Dinge, deren Dasein an sich selbst Zweck ist, und zwar einen solchen, an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt werden kann, dem sie bloß als Mittel zu Diensten stehen sollten.“ (Metaphysik der Sitten, BA 77 und 66/65) Dagegen: „Der Wert oder die Würde eines Menschen besteht vor allem anderen in seinem Preis, das heißt in dem, was ihm für die Benutzung seiner Kraft gegeben wird, und ist deswegen nicht absolut, sondern abhängig vom Bedürfnis und vom Urteil eines anderen. Und wie bei anderen Dingen so auch beim Menschen bestimmt der Käufer den Preis und nicht der Verkäufer.“ (Hobbes, Leviathan I, S.57)
2 Ähnlich akzentuierend die Unterscheidung zwischen „Aneignung“ und „Anverwandlung“: „Unter Aneignung verstehe ich ein Begehren nach dem Haben eines Dinges: So, das habe ich jetzt. So kann ich mir auch Kompetenzen aneignen. Ich kann das Gedicht interpretieren und habe das richtige Reimschema erkannt. Oder ich kann in Mathematik oder Physik eine Formel anwenden. Aneignung ist also eine Art von Bereicherung im Sinne von Kompetenz- und Ressourcenerweiterung. Ich verfüge dann über eine Ressource, die ich instrumentell einsetzen kann. Anverwandeln bedeutet hingegen, ich mache mir eine Sache so zu eigen, dass sie mich verwandelt.“ (Rosa/Endres, Resonanzpädagogik, Basel 2016, S.17)
3 Vgl. Kongress „Tempi – Bildung im Zeitalter der Beschleunigung“, Berlin, 16.11.2000
4 Vgl. www.kolleg-st-blasien.de
5 Jedes zweite Aufnahmegespräch, das ich für das Kolleg St. Blasien für das Internat führe, beginnt mit dem Satz: „Mein Kind braucht Struktur“ – oder auch von den Jugendlichen selbst: „Ich brauche mehr Struktur.“
6 Rudi Palla, Die Kunst Kinder zu kneten, Frankfurt/M 1997
7 In der ignatianischen Pädagogik kommt das in der Knappheitsregel zum Ausdruck: Man soll den Stoff nur in knappen Punkten vorlegen, denn wenn der Schüler „das wirkliche Fundament der Geschichte nimmt, es selbstständig durchgeht und bedenkt und (selbst) etwas findet … so ist das von mehr Geschmack und geistlicher Frucht.“ (Ignatius von Loyola, GÜ 2)
8 Kant, Über Pädagogik, in: Kant-Werke, Darmstadt 1966, S.710 (A32)
9 Jean-Jaques Roussau, Emile, zitiert nach Palla, aaO, S.9
10 Reinhard Kahl verzauberte mit seinem filmischen Beitrag unter dem Titel „Treibhäuser der Zukunft“ eine Generation von Bildungsplanern nach dem PISA-Schock.
11 Joachim Bauer, Die Bedeutung der Beziehung für schulisches Lernen und Lehren, Pädagogik 7-8/10, S.6ff