Löwe, Lamm, Kind

P. Klaus Mertes SJ

Zwischen der mühsamen Gegenwart und der Vision der Versöhnung, von der in den großen prophetischen Texten des Advents die Rede war, steht ein Zwischenschritt: Ein gerechtes Gericht. Darauf weisen die adventlichen Texte des Evangeliums hin. Es bedarf tatsächlich einer Taufe mit „Feuer und Geist“ (Mt 3,10), um die Wunden von Bürgerkrieg und Krieg, Gewalt und Hass zu verbinden. Versöhnung steht nicht am Anfang, sondern am Ende eines Prozesses.

Gerichtet wird, so die Hoffnung des Advents, „nicht nach dem Augenschein, und nicht nach dem Hörensagen, sondern die Geringen werden in Gerechtigkeit gerichtet, und für die Armen des Landes wird entschieden werden, wie es recht ist.“ (Jes 11,3f) Der neue Spross Isais wird das Land allerdings auch „mit dem Stock seines Mundes schlagen und den Frevler mit dem Hauch seiner Lippen töten.“ (Jes 11,4) Löwe und Lamm, die nach dem Gericht beieinander lagern sollen, werden im Gericht nicht gleich behandelt, weil es da ein Problem gibt, das der Versöhnung zwischen beiden im Wege steht: Der Löwe frisst gerne Lämmer, das Lamm umgekehrt keine Löwen. Deswegen ist der Löwe es, der mit dem Stock des Mundes „geschlagen“ und mit dem Hauch der Lippen „getötet“ wird, nicht das Lamm. Der Löwe wird im Gericht mit seinem gefräßigen Tun konfrontiert und verurteilt. Da ist Feuer drin. Aber auch Geist, denn der Sinn des Urteils ist nicht die Vernichtung des Löwen, sondern seine Ausrichtung auf die Versöhnung hin. Er wird, wenn alles Nötige im Gericht geschehen ist, „beim Lamm liegen … und Stroh fressen wie das Rind.“ (Jes 11,6f) Was für eine gewagte Vision! Kann das wahr werden? Ja. Aber es muss noch etwas hinzukommen. Das Gericht alleine reicht nicht. Es muss noch etwas Unvorhergesehenes passieren. Die Theologie nennt es Gnade. Das ist der Punkt, an dem der Advent in die Weihnacht einmündet.

Eine Frau erzählte mir im Advent dieses Jahres von ihrer Freundin: Als Mädchen erlebte diese das Ende des Krieges im Sudetenland. Die Familie floh vor den sowjetischen Truppen. Als die Soldaten weitergezogen waren, kehrte die Familie in ihr Haus zurück. Einige Monate später kamen Tschechen. Mit der Pistole in der Hand forderten sie die Familie auf, sofort das Haus zu verlassen, ohne Gepäck, nur mit dem, was sie anhatten. Seitdem hasste die Freundin alle Tschechen. Sie floh nach Deutschland, heiratete, bekam einen Sohn. Zwischen dem Vater und dem Sohn kam es zu einem Zerwürfnis. Der Sohn verließ das Vaterhaus und ließ jahrelang nichts von sich hören. Der Vater verstarb, verbittert. Doch eines Tages klingelte das Telefon. Sie nahm ab, und siehe da, es war ihr Sohn am anderen Ende des Apparats. Er wollte der Mutter das neugeborene Enkelkind zeigen. Einige Tage später klingelte es an der Tür. Eine Frau mit einem Baby stand vor der Tür. Eine Tschechin, die Schwiegertochter. Sie hatte ihren Mann überredet, den Kontakt zur Mutter wieder aufzunehmen. Das Kind solle doch eine Oma haben dürfen. So geschah es.

Das Kind, das versöhnt, wird auch heute noch geboren. So weihnachtlich möge es im kommenden Jahr in vielen Geschichten zwischen Menschen und Völkern zugehen.

 

Klaus Mertes
Foto: pro/Norbert Schäfer

P. Klaus Mertes SJ (1954) ist Superior der Jesuitenkommunität in Berlin-Charlottenburg. Er hat Slawistik und Klassische Philologie in Bonn studiert und ist 1977 in den Jesuitenorden eingetreten. Anschließend studierte er Philosophie und Katholische Theologie in München und Frankfurt a.M. und wurde 1986 zum Priester geweiht. Nach dem zweiten Staatsexamen für Katholische Religion und Latein war er Lehrer an der St.-Ansgar-Schule in Hamburg und am Canisius-Kolleg in Berlin, dessen Rektor er von 2000 bis 2011 war. Von 2011-2020 war er Direktor des internationalen Jesuitenkollegs in Sankt Blasien. Klaus Mertes ist Redakteur der Kulturzeitschrift STIMMEN DER ZEIT und gehört dem Kuratorium Stiftung 20. Juli 1944 an.

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