Kirchen in schwierigen Wassern

Dr. Ulrich Ruh

Die Veröffentlichung der wichtigsten Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), an der sich erstmals auch die Deutsche Bischofskonferenz beteiligte, fällt in eine für die beiden großen Kirchen in Deutschland schwierige Zeit. Die katholische Kirche hat sich im Rahmen der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in ihren Reihen auf einen „Synodalen Weg“ mit ungewissem Ausgang eingelassen; in der evangelischen Kirche ging die seit zwei Jahren amtierende Ratsvorsitzende Annette Kurschus wegen vermeintlichen Fehlern im Umgang mit einem früheren Missbrauchsfall von Bord, kurz nach der Tagung der EKD-Synode, bei der Konsequenzen aus der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung auf der Tagesordnung standen.

Für aufmerksame Beobachter der religiös- kirchlichen Entwicklung in Deutschland hält die auf einer repräsentativen Umfrage Ende 2022 basierende Untersuchung keine wirklichen Überraschungen bereit. Sie macht aber deutlich sichtbar, wo für die Kirchen derzeit und in näherer Zukunft die größten Herausforderungen liegen. Sie sind mit einem starken Block an Menschen konfrontiert, die die Untersuchung als „säkular“ kennzeichnet: Diese bilden inzwischen mit 56 Prozent die Mehrheit der Bevölkerung (in Westdeutschland 53 und in Ostdeutschland 73 Prozent) und stehen meist allem Religiösen entweder ablehnend oder gleichgültig gegenüber. Die „Kirchlich-Religiösen“ stellen dagegen nur noch 13 Prozent der Bevölkerung, die „Religiös- Distanzierten“ 25 Prozent. Das Durchschnittsalter der Kirchlich- Religiösen ist besonders hoch, das der Säkularen niedrig.

Die Untersuchung räumt auch mit der Vorstellung auf, es gebe hierzulande eine zahlenmäßig ins Gewicht fallende Religiosität außerhalb der Kirchen. Noch schneller als der Bevölkerungsanteil der Kirchlich-Religiösen sei der der „Alternativen“, mehrheitlich esoterisch Orientierten geschrumpft (er umfasst derzeit nur sechs Prozent). Man solle deshalb mit Blick auf die Religionszugehörigkeit nicht von religiöser „Pluralisierung“ sprechen. Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung kommt zu dem Schluss: „Zwar ist es eine verbreitete Meinung, dass man auch ohne Kirche religiös sein kann. Das Ergebnis der empirischen Analyse lautet hingegen, dass dies zwar möglich ist, es aber weitaus wahrscheinlicher ist, dass Religiosität und Kirchlichkeit zusammengehen.“

Um die christliche Religiosität ist es allerdings in Deutschland eher schlecht bestellt, was angesichts des hohen Anteils an „Säkularen“ auch nicht Wunder nimmt. Der Untersuchung zufolge beten 47 Prozent der Befragten nie, 11 Prozent täglich und weitere acht Prozent bis zu einmal pro Woche. Nur zwei Prozent lesen täglich in der Bibel, neun Prozent mehrmals im Jahr und 64 Prozent nie. Der Anteil der Gesamtbevölkerung der angibt, mehrmals jährlich an Gottesdiensten teilzunehmen, ist zwischen 2010 und der neuen Untersuchung von 40 auf 24 Prozent gefallen. Und was den Kern des christlichen Glaubens betrifft: Nur 19 Prozent der Bevölkerung und ein knappes Drittel der evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder stimmen der Aussage zu. „Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat.“

Bemerkenswerter als solche Zahlen ist, dass sich in Deutschland inzwischen offensichtlich so etwas wie ein „Normaltyp“ von christlicher Religiosität herausgebildet hat, in dem sich Katholiken und Protestanten kaum noch unterscheiden. Die Untersuchung konstatiert, Evangelische und Katholische seien heute gleichauf „bei der Orientierung an der Bibel, dem Glauben an Gott, Jesus Christus oder höhere Mächte, bei eigenen religiösen Erfahrungen, beim Ausmaß des religiösen Relativismus, bei säkularen und szientistischen Orientierungen, beim Wunsch nach kirchlicher Bestattung“. Ähnliches lässt sich beim täglichen Gebet oder beim Kirchgangsniveau feststellen. Das lange klar erkennbare katholische Milieu mit seiner charakteristischen Religiosität hat sich also inzwischen so gut wie aufgelöst. Protestanten rangieren der Untersuchung zufolge beim Vertrauen in die eigene Kirche sogar vor den Katholiken, deren Kirche, so die Untersuchung, auf vielen Handlungsfeldern unter erheblich stärkerem Reformdruck stehe. Im Übrigen konstatiert die Studie, die hohe Zustimmung zu einer ökumenischen Orientierung deute darauf hin, dass konfessionell stark profiliertes kirchliches Leben abgelehnt werde.

Es entspricht der Erfahrung vieler Menschen in Deutschland, wenn die neueste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung festhält, dass das kirchliche Engagement in diversen sozialen Bereichen vielfach auch von „Säkularen“ und „Distanziert- Religiösen“ geschätzt wird. Zusammenfassend wird formuliert: „Den Kirchen werden auch von Menschen, die mit Religion wenig anfangen können, wichtige soziale Aufgaben zugeschrieben.“ Es sei kein genereller Trend erkennbar, die Kirchen thematisch auf das Spielfeld der Religion beschränken zu wollen. Zum Verhältnis von Kirche und Zivilgesellschaft ergibt die Untersuchung, dass sich 61 Prozent der „Kirchlich- Religiösen“ ehrenamtlich engagieren, während diese Quote bei den „Säkularen“ nur 33 Prozent beträgt. Kirchen seien zur Mitarbeit einladende Organisationen, „die den sozialen Zusammenhalt empirisch nachweisbar wesentlich stärken“.

So ergibt sich insgesamt ein durch unübersehbare Ambivalenzen geprägtes Bild der religiös- kirchlichen Situation hierzulande. Die Bindung an die Kirchen wird ebenso schwächer wie die Vertrautheit mit dem Religiösen. Zu konstatieren sei eine Krise des religiösen Glaubens, der religiösen Praxis, des religiösen Erfahrens und der religiösen Kommunikation. Gleichzeitig sind die Kontaktfelder der Kirche und ihre soziale Reichweite in die Gesellschaft nach wie vor groß. Die soziale Reichweite der Kirche, so die Untersuchung, sei heute wesentlich größer als ihre religiöse Reichweite. Auf diesem Hintergrund skizziert die Auswertung der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung auch Perspektiven für das Handeln der Kirche, die allerdings vorsichtig ausfallen und an die Quadratur des Kreises denken lassen. Das wird etwa an der Formulierung deutlich, die Hinwendung zu Menschen, die der gegenwärtigen Kultur der kirchlichen Organisation bestenfalls lose verbunden seien, müsse jedoch gleichzeitig die nach wie vor relevante Gruppe der traditionell Verbundenen im Auge behalten.

Die Kirchen werden ein weit höheres Maß an Fantasie, Sensibilität und Frustrationstoleranz benötigen, um den tiefgreifenden Herausforderungen einigermaßen begegnen zu können. Katholiken, die immer noch leicht in der Versuchung sind,. ihre Kirche als ein „Haus voll Glorie“ zu betrachten, könnten dabei unter Umständen von den protestantischen Erfahrungen lernen, ebenso wie die westdeutschen Kirchen von denen in den neuen Bundesländern. Die Untersuchung verweist auf eine feststellbare positive Entwicklung bei der Kirchenbindung in Ostdeutschland und auf das vergleichsweise hohe Engagement der ostdeutschen evangelischen Kirchenmitglieder.


Dr. Ulrich Ruh

Dr. Ulrich Ruh (1950) ist Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau und war 1991 – 2014 Chefredakteur der „Herder Korrespondenz“. Er studierte Katholische Theologie und Germanistik in Freiburg und Tübingen und legte 1974 das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. Danach war er bis 1979 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät Freiburg (Prof. Karl Lehmann) am Lehrstuhl für Dogmatik und Ökumenische Theologie. 1979 wurde er in Freiburg mit einer Arbeit über Begriff und Problem der Säkularisierung zum Dr. theol. promoviert und trat im gleichen Jahr in die Redaktion der „Herder Korrespondenz” ein.

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