Ulrich Ruh
Der im März dieses Jahres beendete „Synodale Weg“ der katholischen Kirche in Deutschland hat unter anderem einen „Grundtext“ verabschiedet, der unter dem Titel „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“ den Stier bei den Hörnern packen möchte: Die katholische Kirche ist ja nicht nur die mitgliederstärkste Institution innerhalb der vielfältigen Christenheit, sondern hat auch eine spezifische rechtliche Struktur, mit dem Papst als Inhaber der „vollen, höchsten und universalen Gewalt über die Kirche“ und mit Bischöfen, denen das Zweite Vatikanische Konzil das „heilige Recht“ zuschreibt, in ihren Diözesen „Gesetze für ihre Untergebenen zu erlassen, Urteile zu fällen und alles, was zur Ordnung des Gottesdienstes und des Apostolats gehört, zu regeln“.
Dem Grundtext des „Synodalen Wegs“ geht es jetzt um eine „effektive Reform innerkirchlicher Machtverhältnisse“; er sieht darin eine entscheidende Voraussetzung für die Verwirklichung der Sendung der Kirche in der Welt von heute. Er unterbreitet zu diesem Zweck eine Reihe von Vorschlägen beziehungsweise Forderungen für alle kirchlichen Ebenen von der Pfarrei über die Diözese bis zur Weltkirche, die insgesamt „Synodalität als Prinzip der Kirche“ stärken und ihr so zu neuer Glaubwürdigkeit angesichts der in dem Text allgegenwärtigen Missbrauchskrise und ihrer „systemischen Ursachen“ verhelfen sollen.
Auch schon bei der inzwischen fast vergessenen „Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland“ („Würzburger Synode“), die von 1971 bis 1975 tagte, gab es einen Beschluss zum Thema „Verantwortung des ganzen Gottesvolkes für die Sendung der Kirche“. Dieser äußerte sich zu Ort und Funktion der katholischen Verbände und entwarf eine Rahmenordnung für Strukturen der Mitverantwortung in der Diözese, kreiste aber nicht in vergleichbarem Maß um die Machtfrage wie der neue Text aus dem „Synodalen Weg“. Die seinerzeit festgelegten Strukturen (wie Pfarrgemeinderat, Diözesanpastoralrat, Katholikenrat) sind bis heute in den deutschen Diözesen im Regelfall existent, bis hin zur „Gemeinsamen Konferenz“ von Deutscher Bischofskonferenz und Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Nach dem Grundtext sollen jetzt die bereits bestehenden gemeinsamen Institutionen von Bischofskonferenz und Zentralkomitee „im Sinn des synodalen Prinzips“ überprüft und weiterentwickelt werden.
Der „Synodale Weg“ setzt zur Verwirklichung seiner Zielvorstellungen zum einen auf Spielräume im geltenden Kirchenrecht, die es auszunutzen gelte. An anderer Stelle ist auch die Rede von der Notwendigkeit von „innovativen Verfahren, die den Dialog zwischen denen die Leitungsaufgaben wahrnehmen, und den anderen Mitgliedern der Kirche fördern“ sollen, oder davon, dass man „Änderungen des Kirchenrechts“ zu tiefgreifenden Veränderungen im Machtgefüge der katholischen Kirche anstoßen wolle. Es fehlt auch nicht an gut gemeinten, aber auch wohlfeil-frommen Appellen wie dem, dass sich Macht in der Kirche nicht verselbständigen dürfe, sondern „Lebenswege im Zeichen des Evangeliums und der der Liebe Gottes“ erschließen solle oder an Leerformen wie der, dass die Feier der Liturgie gestärkt werde, wenn die ganze versammelte Gemeinde beteiligt sei.
Dieses Nebeneinander von konkreten rechtlichen Reformvorschlägen und vagen Andeutungen für den zukünftigen Weg macht unfreiwillig deutlich, wo die Crux beim Thema „Synodalisierung“ der katholischen Kirche liegt: Es gibt kein schlüssiges Modell dafür, wie eine neue kirchliche Machtverteilung „auf katholisch“ aussehen könnte, das über kleinere Veränderungen des Rechts und der kirchlichen Praxis hinausgehen würde. Das Zweite Vatikanische Konzil hat zwar die Bedeutung des Bischofamtes und der Mitverantwortung des Bischofskollegiums neu akzentuiert, dabei aber gleichzeitig den vom Ersten Vatikanum verbindlich definierten päpstlichen Lehr- und Jurisdiktionsprimat in vollem Umfang bekräftigt und dadurch seine Innovationen grundlegend selber eingeschränkt. Zu Ende gedacht würden heutige Forderungen nach grundlegenden Veränderungen im kirchlichen Machtgefüge so etwas wie eine Überwindung des „Reformkonzils“ Zweites Vatikanum in zentralen ekklesiologischen Eckpfeilern verlangen und würde damit zwangsläufig die Frage nach Identität und Kontinuität im katholischen Selbstverständnis ins Spiel kommen.
Schon deshalb ist kaum damit zu rechnen, dass es in absehbarer Zeit zu grundlegenden Veränderungen des kirchlichen Machtgefüges kommt, die ja im Konsens erfolgen müssten, schon aus Angst vor kleineren oder größeren Spaltungen. Hier lohnt auch der Blick auf andere christliche Kirchen: In den evangelischen Kirchen Deutschlands brauchte es die tiefe Zäsur durch das Ende des landesherrlichen Summepiskopats als Ergebnis des Ersten Weltkriegs, bevor die Synoden im heute vertrauten Maß zu einem selbstverständlichen und in mancher Hinsicht auch für die katholische Kirche herausfordernden Element der Kirchenleitung werden konnten. Der Missbrauchsskandal ist, ohne ihn in irgendeiner Weise verharmlosen zu wollen, für die katholische Kirche und ihr Amt insgesamt kein vergleichbarer Einschnitt. Es wird daher kaum zu vermeiden sein, dass in Sachen Machtverteilung/Synodalität bis auf weiteres vorsichtige Schritte in der Weltkirche an der Tagesordnung sein werden, unter den jeweils spezifischen Herausforderung in den einzelnen Ländern und Regionen – also nach der offensichtlichen Methode von Papst Franziskus.
Für Deutschland formuliert der Grundtext des „Synodalen Wegs“ die Herausforderungen in wünschenswerter Klarheit: „Spirituelle und religiöse Bedürfnisse beanspruchen weiterhin Raum, doch Kirchenbindungen lockern sich. Grundlegende christliche Glaubensvorstellungen, namentlich der Glaube an den dreieinen Gott, verflüchtigen sich. Die Bekenntnis-, Symbol- und Sozialgestalt des christlichen Glaubens verlieren zunehmend an Plausibilität.“ Es bleibt die Frage, ob der Fokus auf der kirchlichen Machtstruktur und ihrer Veränderung im Sinn des Grundtextes aus dem „Synodalen Weg“ überhaupt das angemessene Mittel darstellt, um diesen Krisenerscheinungen sinnvoll und glaubwürdig zu begegnen.
Wäre nicht eher eine Art „konzertierte Aktion“ angesagt, von Kirchenleitungen, Theologen und engagierten Laienvertretern in Gemeinden und Verbänden, eine gemeinsame Kraftanstrengung ohne gegenseitige Verdächtigungen? Müsste man nicht im derzeit gegebenen Rahmen, aber mit möglichst viel Phantasie und Mut zum Experiment, alles dafür tun, um die „Sache mit Gott“ und mit Jesus Christus gesellschaftlich wie im weithin lahmen innerkirchlichen Betrieb im Gespräch zu halten? Hier könnten übrigens personell und finanziell noch verwöhnte westdeutsche Bistümer von den ressourcenärmeren in Osten Deutschlands Manches lernen. Wenn die Prioritäten im deutschen Katholizismus in allen seinen Fraktionen deutlicher in Richtung christlicher Präsenz und Ausstrahlung gesetzt würden, könnte man strittige Fragen nach Machtverteilung und Synodalität entspannter angehen Nicht um sie abwiegelnd zu relativieren, sondern um sie möglichst frei von ideologischen Verstiegenheiten seriös anzugehen.
Dr. Ulrich Ruh (1950) ist Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau und war 1991 – 2014 Chefredakteur der „Herder Korrespondenz“. Er studierte Katholische Theologie und Germanistik in Freiburg und Tübingen und legte 1974 das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. Danach war er bis 1979 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät Freiburg (Prof. Karl Lehmann), am Lehrstuhl für Dogmatik und Ökumenische Theologie. 1979 wurde er in Freiburg mit einer Arbeit über Begriff und Problem der Säkularisierung zum Dr. theol. promoviert und trat im gleichen Jahr in die Redaktion der “Herder Korrespondenz” ein.