Primin Spiegel beschreibt Entwicklungspolitik als Gestaltung einer Idee von „Weltgemeinwohl“, die allen Menschen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, und fordert politische Rahmenbedingungen, die klare menschenrechtliche Vorgaben für das Handeln von Wirtschaft und Finanzen setzen.
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Pirmin Spiegel
Perspektiven der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit
Im Windschatten von steigenden Flüchtlings- und Migrantenzahlen, Konflikten, Terrorgefahren und weltweiten Verunsicherungen erlebt die Entwicklungspolitik in den letzten Jahren einen rasanten Bedeutungsgewinn. Entwicklungspläne mit und für Afrika, Hunger- und Seuchenbekämpfung schafften es bis auf die Tagesordnung der G20-Treffen und in die Hauptnachrichten. Das klingt zunächst positiv, könnte aber auch gefährlich werden, wenn es von den eigentlichen Fragestellungen ablenkt.
Was wir in all den Krisen und Diskussionen der letzten Jahre erleben, bis hin zum Wiedererstarken nationaler Tendenzen, ist im Kern eine Auseinandersetzung darüber, wie wir uns die Gestaltung der Globalisierung vorstellen. Wie wir gemeinsam auf diesem Planeten leben können und wollen. Nur in diesem Kontext werden wir eine Antwort auf die entwicklungspolitischen Herausforderungen, den Kampf gegen Hunger, Armut und Ausgrenzung finden. In diesem Kontext geht es in der Entwicklungspolitik auch um Geld, um Technik oder um Projekte. Aber es geht um weit mehr. Es geht um die politisch und gesellschaftlich kohärente Gestaltung einer Idee von „Weltgemeinwohl“, die allen Menschen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Wenn wir von den Perspektiven der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit sprechen, meint dies also, dass es um mehr als nur die Politik eines Ressorts gehen muss, und dass ein Ressort alleine nicht Probleme lösen kann, die andere womöglich (mit)-verursacht haben.
Ein zentraler Referenzrahmen, um dies umzusetzen, kann und muss in den nächsten Jahren die Agenda 2030 sein. Mit der Verabschiedung der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) und der Anerkennung der universellen Verpflichtung zur Umsetzung dieser Ziele hat die Weltgemeinschaft sich einen ambitionierten Plan für die vollständige Überwindung von extremer Armut und Hunger bis 2030 und die Gestaltung nachhaltiger Lebensbedingungen gegeben. Trotz bestehender Inkohärenzen zwischen einzelnen Zielen und Unterzielen und trotz unterschiedlicher politischer Bereitschaft, diese Agenda komplett umzusetzen, ist sie ein zentrales Element zukünftiger Politikgestaltung, das auch von Kirche und Zivilgesellschaft genutzt werden sollte und genutzt wird. Ein weiterer, damit im engen Zusammenhang stehender Bezugsrahmen, ist das Pariser Klimaabkommen. Entscheidende Impulse und Horizonte für das „gemeinsame Haus Erdplanet“ gehen von Papst Franziskus aus: Die 2015 veröffentlichte Enzyklika „Laudato si“ entwirft ein Verständnis von Entwicklung, bei dem sich soziale und ökologische Dimensionen der globalen Vielfachkrise unterscheiden, aber nicht trennen lassen. Auf dem Weg dorthin braucht es eine Haltung, die vor dem Leiden anderer und der Natur die Augen nicht verschließt. Dazu gehören die Achtung füreinander, die Verantwortung für künftige Generationen und der Schutz der natürlichen Mitwelt.
Sowohl für die Agenda 2030 als auch für das Klimaabkommen ist entscheidend, dass sie für alle Länder gelten, in und mit allen Ländern umgesetzt werden müssen und nicht mehr länger eine Agenda „für“ den Süden sind. Aus dieser Perspektive ist auch Deutschland ein Entwicklungsland, denn auch in Deutschland und anderen Industrieländern muss eine umfassende Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft eingeleitet werden. Mit Blick auf die nicht-nachhaltigen Konsum- und Produktionsweisen der Industrie- und Schwellenländer ist das dringend notwendig. Wir betrachten Teile von Asien, Afrika und Lateinamerika immer noch als kostengünstige Lieferanten von Rohstoffen, Textilien oder Nahrung. Menschen- oder Umweltrechte werden dabei oft übersehen – von den Produzenten, aber auch von uns, den Konsumenten. Wenn von einem T-Shirt, das bei uns 4,95 Euro kostet,die Näherin nur etwa 18 Cent erhält, läuft etwas gewaltig schief.
Die Bundesregierung hat im letzten Jahr den anerkennenswerten Versuch unternommen, ihre neugestaltete Nachhaltigkeitsstrategie an der Umsetzung der SDGs auszurichten. Die Diskussion um diese Strategie und die damit verbundenen Auseinandersetzungen zeigen uns, dass wir es im Kern nicht allein mit einer technischen oder finanziellen Auseinandersetzung zu tun haben. Solange unser weltweit prägendes Wirtschafts- und Wohlstandsmodell fixiert bleibt auf Wachstum und die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Volkswirtschaften, werden wir mit einzelnen Kurskorrekturen Hunger, Armut und Ungerechtigkeit nicht dauerhaft beseitigen.
Ohne Zweifel hat Wirtschaftswachstum Arbeitsplätze und Einkommen geschaffen, den materiellen Wohlstand vieler Menschen gemehrt und zur Minderung von (Einkommens-) Armut beigetragen. Die Kehrseite der herrschenden Wachstumspolitik sind aber häufig Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung und Armut, Vertreibungen, Umweltzerstörung, Raubbau an natürlichen Ressourcen, ein Rückgang der biologischen Vielfalt sowie ein lebensgefährdender Klimawandel.
Hinzu kommt, dass die Gewinne wirtschaftlichen Wachstums zusehends ungerecht verteilt sind. Zwar hat die Kluft zwischen traditionellen „Industrieländern“ und „Entwicklungsländern“ im Zuge der Globalisierung abgenommen. Zugleich bestätigen aktuelle Studien jedoch, dass die Ungleichheit der individuellen Einkommen und Vermögen in den letzten Jahrzehnten global massiv zugenommen hat. Als „Reduzierung der Ungleichheiten in und zwischen den Ländern“ formulieren dies die Nachhaltigkeitsziele.
Dieser skandalöse Reichtum einer globalen Oberschicht, aber auch das Konsumverhalten einer weltweit wachsenden Mittelschicht stehen im Kontrast zu dem fehlenden Zugang zu ausreichender und gesunder Nahrung, Bildung, Gesundheitsversorgung und anderen lebensnotwendigen Gütern für die halbe Menschheit. Oder, wie Papst Franziskus es zugespitzt formuliert hat: „Diese Wirtschaft tötet“.
Wenn also der Begriff „Entwicklung“ seine Unschuld verloren hat, weil er im Wesentlichen meint, ein nicht nachhaltiges westliches Lebensmodell zu kopieren, welches auf der anhaltenden Ausbeutung von Mensch und Natur basiert, dann gibt es aus entwicklungspolitischer Perspektive zwei zentrale Herausforderungen:
Wir brauchen politische Rahmenbedingungen, die klare menschenrechtliche Vorgaben für das Handeln von Wirtschaft und Finanzen setzen. Jeder Einzelne muss sich darauf verlassen können, dass das, was er kauft, nicht in anderen Teilen der Welt Hunger und Elend vergrößert. Das heißt auch: Wir brauchen wieder das Primat der Politik. Wir brauchen kulturelle und soziale Innovationen dergestalt, dass wir nicht nur über Effizienz, sondern auch über Suffizienz, Teilen und Verzichten in Solidarität mit unserem fernen Nächsten nachdenken.
Einem kirchlichen Werk für Entwicklungszusammenarbeit wie MISEREOR fällt hierbei eine besondere Herausforderung zu. Dies gilt sowohl für die direkte Kooperation mit den Partnern im Süden als auch für die Mitgestaltung gesamtgesellschaftlicher Entscheidungsprozesse in Nord und Süd durch Bildungs-, Advocacy- und Öffentlichkeitsarbeit. Auch die Frage nach der besonderen Bedeutung von Religionsgemeinschaften im Kontext von Entwicklung hat hier eine große Relevanz. Ebenso können Aufbruchstimmungen und Impulse in der katholischen Kirche eine katalytische Funktion haben, die auch in Politik und Gesellschaft hineinwirken können.
Msgr. Pirmin Spiegel (1957) ist seit 2012 Hauptgeschäftsführer des Werkes für Entwicklungszusammenarbeit MISEREOR mit Sitz in Aachen. Der gebürtige Pfälzer studierte in Frankfurt/St. Georgen Philosophie und Theologie.1986 zum Priester geweiht, blickt er auf 15 Jahre Erfahrung aus der Pastoral- und Entwicklungsarbeit in Brasilien zurück. Wegen seines humanitären und sozialen Engagements wurde er im März 2017 mit dem Hans-Rosenthal-Ehrenpreis ausgezeichnet.