INNERPARTEILICHE WILLENSBILDUNG

Wolfgang Jäger beschreibt die zwiespältigen Erfahrungen mit der direkten Demokratie in den Parteien und warnt davor, dass die in Deutschland vorherrschende Konsenskultur des Parlaments zu einem Repräsentationsdefizit führt, das die Tür für populistische und plebiszitäre Strömungen öffnet.

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Wolfgang Jäger

Innerparteiliche Willensbildung

In den Siebziger Jahren kritisierten konservative und liberale Politikwissenschaftler wie Karl-Dietrich Bracher und Wilhelm Hennis, dass die Parteien wie Kraken ihren Einfluss in immer weitere Bereiche des Staates und der Gesellschaft ausdehnten, statt sich auf den engeren Bereich der staatlichen Herrschaftsorganisation zu beschränken. Bundespräsident Richard von Weizäcker setzte 1992 der Parteienschelte gleichsam noch die Krone auf.

Manche Politikwissenschaftler wie Bracher sahen in der Demokratisierung der Binnenstrukturen der Parteien ein Heilmittel. Ernst Fraenkel hatte Ende der Fünfziger Jahre die These vertreten, dass gegen die Oligarchisierungstendenzen der repräsentativen Demokratie die „Demokratie in den Parteien“ gepflegt werden müsse. Innerparteiliche Demokratie wurde denn auch zum Schlagwort der Siebziger Jahre – nicht zuletzt im Gefolge von 1968 und der von der sozial-liberalen Regierung Willy Brandts ausgerufenen Demokratisierungskampagne („Mehr Demokratie wagen“). Ein zentrales Thema war die Spannung zwischen dem freien und dem imperativen Mandat der Abgeordneten bzw. Parlamentsfraktionen (Grundgesetz Art. 21 und 38).

Die Kontroverse beschäftigte jahrelang die Politikwissenschaft und unter den Parteien vor allem die SPD. Sie trug wesentlich zur Spannung zwischen der SPD und den von ihr gestellten Bundeskanzlern bei. Für die CDU hieß Demokratisierung zunächst Aufbau einer zur eigenen Willensbildung fähigen Parteistruktur. Dies geschah unter dem Parteivorsitz von Helmut Kohl seit 1973. Die Demokratisierungsbemühungen innerhalb der SPD erschienen in der Öffentlichkeit weitgehend als Rückfall in die Zeit vor dem Godesberger Programm, also in die Vor-Volkspartei-Zeit. Die Demokratisierungsanstrengungen der Union dagegen präsentierten sich als Modernisierung einer Volkspartei.

Es war kein Zufall, dass diese Jahre mit dem Gipfel der Politisierung der Wähler und der Parteimitglieder einhergingen. Bei der Bundestagswahl 1972 vereinigten CDU/CSU und SPD 90,7 Prozent der Zweitstimmen auf sich und 1976 91,2 Prozent. Die Mitgliederzahlen der SPD erreichten 1976 mit 1,022 Mio. und 1983 bei der CDU mit 735.000 ihren Höchststand in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. In der neuen Bundesrepublik war 1990 der Höchststand bei der CDU 789.609, bei der SPD 943.402. Danach ging es drastisch bergab.

Der Höhepunkt der Wähler- und Mitgliederpolitisierung in der alten Bundesrepublik war zugleich der Beginn einer neuen Partei, der Grünen, die 1980 zum ersten Mal in den Landtag eines Flächenlandes (Baden-Württemberg) einzogen. Die Grünen, die im Wesentlichen durch die Spaltung der SPD von unten entstanden (Bürgerinitiativbewegung und Friedensbewegung), hatten neben dem Umweltschutz vor allem die Basisdemokratie auf ihre Fahnen geschrieben.

Die etablierten Parteien (mit Ausnahme der CSU) zogen nach. Von den etwa 40 Personal- und Sachplebisziten von SPD, CDU, FDP, den Grünen und der Linken auf Bundes- und Länderebene seit 1993, als über den Bundesvorsitz der SPD eine Mitgliederabstimmung entschied, betrafen etwa die Hälfte Personalfragen, rund ein Drittel Sachthemen und der Rest Fusions- oder Koalitionsentscheidungen. Im Unterschied zu den anderen Parteien fanden CDU-Abstimmungen auf Bundesebene nicht statt.

Die Erfahrungen mit der direkten Demokratie in den Parteien sind zwiespältig. Auf der einen Seite erhalten die Mitglieder in bestimmten Fragen tatsächlich ein echtes Entscheidungs- und Legitimationsrecht, das die Herrschaft der auf den Parteitagen dominierenden mittleren Funktionärsschicht schwächt. Auf der anderen Seite sind Mitgliederentscheide sehr teuer. Vor allem aber erwecken die Entscheidungen der Parteiführungen für Mitgliederpartizipation häufig den

Eindruck der Willkür, je nach den Erwartungen bestimmter Ergebnisse. Sie stärken also die Parteiführungen.

Ein Beispiel für die Instrumentalisierung des Mitgliedervotums durch führende Sozialdemokraten war die Wahl des Parteivorsitzenden 1993. Nach der verlorenen Bundestagswahl 1990 (Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine, Parteivorsitzender Hans-Jochen Vogel) und nach dem Rücktritt des kurzzeitig amtierenden Parteivorsitzenden Björn Engholm konkurrierten der rheinland- pfälzische Ministerpräsident Rudolf Scharping, der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder und die südhessische Bezirksvorsitzende Heidemarie Wieczorek-Zeul um das Spitzenamt der SPD. Ganz offensichtlich kalkulierten Scharpings Anhänger Johannes Rau und Oskar Lafontaine, dass der von ihnen nicht gewünschte Gerhard Schröder bei einer Mitgliederbefragung geringere Chancen hätte als auf einem Parteitag. Ihre Rechnung ging auf. Rudolf Scharping gewann den Parteivorsitz mit etwa 40 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von etwa 57 Prozent. Eine Stichwahl fand nicht statt.

Scharping verlor jedoch die Bundestagswahl 1994 als Kanzlerkandidat und wurde ein Jahr später von Lafontaine auf einem Parteitag – nicht durch einen Mitgliederentscheid – gestürzt.

Mitgliederentscheiden können für die Partei schädliche Wahlkämpfe vorausgehen. Ein krasses Beispiel ist die schmutzige Auseinandersetzung zwischen Günther Oettinger und Annette Schavan um das Amt des Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg 2004. Andere Fälle demonstrieren die grundsätzliche Spannung zwischen der Mitglieder- und der Wählerorientierung. Mangelnde Wählerorientierungen können zur Skepsis der Parteiführungen gegenüber der direkten innerparteilichen Demokratie führen.

Die Politikwissenschaft betrachtet die innerparteiliche Demokratie heute im Unterschied zu den siebziger Jahren eher als binnenorganisatorisches Problem denn als kompensatorische Komponente der repräsentativen Demokratie im Sinne von Ernst Fraenkel. Robert Michels‘ klassische Untersuchung Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie (2. Auflage 1925), dessen tautologische Thesen wir in den Siebziger Jahren eigentlich als obsolet verworfen hatten, feiert fröhliche Urständ. Trotz starken Mitgliederschwunds hält man daran fest, dass der Anreiz der Bürger, Mitglied einer Partei zu werden, der Wunsch nach politischer Partizipation sei. In Wirklichkeit zeigt die Mitgliederentwicklung deutlich, dass der Parteibeitritt im Wesentlichen ein nicht zuletzt emotionaler Akt der Zustimmung zu einer bestimmten Politik darstellt.

Sowohl in der Politikwissenschaft wie in der praktischen Politik das Repräsentationsprinzip vernachlässigt wird. Der 14 Artikel 38 des Grundgesetzes über das freie Mandat spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. Das eklatanteste Beispiel ist das Mitgliedervotum der SPD zum Koalitionsvertrag von Union und SPD im Jahr 2013. Nur wenige Stimmen sahen darin einen Widerspruch zum freien Mandat der frisch gewählten SPD- Abgeordneten des Bundestages. Die breite Öffentlichkeit begrüßte den Mitgliederentscheid als demokratischen Akt. Die ZDF-Moderatorin Marietta Slomka wurde geradezu verspottet, als sie im heute-journal am 28. November 2013 dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des Mitgliedervotums stellte. Gabriel bezeichnete den Einwand als „Quatsch“.

Das von einer Privatperson angerufene Bundesverfassungsgericht verwarf am 06. Dezember 2013 eine diesbezügliche Verfassungsbeschwerde als „unzulässig“, da es sich beim Mitgliederentscheid nicht um einen Akt der öffentlichen Gewalt handle. Das Gericht gab aber doch auch inhaltliche Hinweise. Fast zynisch kann man den Satz empfinden, dass die Mitglieder- Abstimmung den Abgeordneten nicht Verpflichtungen auferlege, „die über die mit der Fraktionsdisziplin verbundenen“ hinausgingen.

Zusammenfassend sei die These zur Debatte gestellt, dass die innerparteiliche Demokratisierung ein Stück Entparlamentarisierung beinhaltet. Das Parlament ist der Ort, wo die Parteien die von ihnen erarbeiteten Konzepte kontrovers zur Diskussion und Entscheidung stellen sollen. Innerparteiliche Demokratie kann die parlamentarische Auseinandersetzung nicht ersetzen, nur ergänzen. Die in Deutschland vorherrschende Konsenskultur des Parlaments führt allerdings zu einem Repräsentationsdefizit, das die Tür für populistische und plebiszitäre Strömungen öffnet.

Prof. Dr. Wolfgang Jäger (1940) studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Latein an den Universitäten Freiburg, München und an der London School of Economics and Political Science. 1969 schloss er sein Studium bei Dieter Oberndörfer mit der Promotion ab. Jäger habilitierte sich 1973 mit der Arbeit Öffentlichkeit, Parlamentarismus und Parteienstaat. Zur Kritik an einem deutschen Demokratieverständnis. 1974 erhielt er eine Professur für Wissenschaftliche Politik an der Universität Freiburg. Rufe an die Universitäten Köln, Tübingen und Mainz lehnte er ab. Von 1995 bis 2008 stand er als Rektor an der Spitze der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

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