THESEN ZUR NEUEN PISA-STUDIE

Klaus Mertes SJ kritisiert das einseitig ökonomischen Bildungsverständnis der OECD und erinnert daran, dass Bildung ein ethisches Ziel hat, das „out-put-Messungen“ nicht erfassen.

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Klaus Mertes SJ

Thesen zur neuen Pisa-Studie 

Die neue PISA-Studie ist heraus, und es bleibt merkwürdig still. Offensichtlich ist Ernüchte­rung eingetreten. Die Inszenierung ist zwar immer noch die alte – so als ob den deutschen Schülern und allen anderen Schülern der Welt durch diese Studie eine Art Zeugnis von quali­fizierter Seite her ausgestellt würde. Doch in den Schulen interessieren sich immer weniger Lehrer und Schüler für die Ergebnisse. Gott sei Dank, könnte man hinzufügen – wenn man nicht an den Schulen vor Ort zugleich spüren würde, wie sehr das Messen und Evaluieren nach den Kriterien der OECD inzwischen vor Ort ermüdende Wirkungen hat.

Schlagzeilen wie „Deutschlands Schüler holen auf“, oder „Deutsche Schüler deutlich über­durchschnittlich“ erfreuen mich nicht. Das beflissene Lob basiert unausgesprochen auf der Anerkennung des Wettbewerbsprinzips, das PISA vorgibt. Die „Vergleichsstudien“ sind ei­gentlich Wettbewerbsstudien. OECD und die sich ihr unterwerfende Mentalität schicken Kin­der und Jugendliche auf die Rennbahn, um sie durch Konkurrenz für die Konkurrenz fit zu machen. So wird das dann auch in der Öffentlichkeit beifällig kommentiert, wenn die deut­schen Schüler „über dem Mittelfeld liegen“. Sage mir, wozu du applaudierst, und ich sage dir, wie du denkst.

Mit ihrem „Kompetenz“-Begriff maßt sich eine demokratisch nicht legitimierte und nament­lich nur in Spezialistenkreisen bekannte Elite an, überkulturelle und übersystemische Ver­gleichskriterien für Bildung zu erschaffen. So kann man dann Bildungsstandards von Mexiko über Deutschland bis China und Japan vergleichen. Der Abstraktionsgrad der überprüften „Kom­petenzen“ ist so hoch, dass die Ergebnisse für das einzelne System bedeutungslos sind. Zugleich meldet sich ein ebenso globaler wie inhaltsleerer Machtanspruch mit dem alten kapit­alistischen Motto zu Wort: Wenn alle beim Wettbewerb mitmachen und vorne sein wol­len, ist das für alle am besten.

Mit den Ergebnissen ihrer Studien liefern die Bildungs-Messer die Daten, auf die Bildungspo­litik dann ihre Entscheidungen aufbaut . Zugleich aber entziehen sich die Bildungs-Messer der Verantwortung für die politischen Entscheidungen: „Wir messen nur. Für das Handeln ist die Politik verantwortlich.“ Entsprechend ist das deutsche Bildungssystem in den vergange­nen Jahren einem chaotischen Reformzirkus ausgesetzt worden, der die Eltern in Panik ver­setzt, die Schüler und Lehrer immer mehr erschöpft, während die PISA-Messer ihre Glasper­lenspiele, die keine sind, mit Hilfe öffentlicher Gelder weiter spielen.

Die OECD überzieht das deutsche Schulsystem gebetsmühlenmäßig mit zwei widersprüchli­chen Rückmeldungen: 1. Das deutsche Schulsystem ist extrem ungerecht. 2. Die deutschen Schüler hinken im internationalen Vergleich hinterher (seit gestern nicht mehr ganz so sehr – aber wir dürfen uns nicht auf den „Erfolgen“ ausruhen). Mehr oder weniger alle Reformen, die nach dem PISA-Schock eingeläutet wurden, haben im Ergebnis den Zeit-, Test- und Leis­tungsdruck auf Lehrende und Lernende erhöht und zugleich das Lernniveau gesenkt. Inzwi­schen scheinen sich die deutschen Schüler auch den neuen Testformaten besser angepasst zu haben. Mit alledem ist kein einziges Problem der Bildungsgerechtigkeit gelöst.

Länderübergreifend wird das deutsche Schulsystem so umgebaut, dass das Abitur immer we­niger dem traditionellen „Standard“ verpflichtet ist, den bisher das Gymnasium für das Ab­itur vorgab: Sprach- einschließlich Fremdsprachenkompetenz, eigenständiges Denken (sa­pere aude), kulturelles Wissen und Wissenschaftspropädeutik. Auch damit ist aber auf Dauer keine bessere Zugänglichkeit von Bildung für bildungsferne Schichten garantiert. Immer mehr El­tern werden mit ihren Kindern in teure Privatschulen fliehen, notfalls ins Ausland, um ihren Bildungsstandard zu halten. Und im tertiären Sektor wird eine immer kleinere Elite auf Exzel­lenz-Universitäten, die finanziell besonders gefördert werden, nachholen, was sie schu­lisch nicht lernen konnte und durfte, um wissenschaftlich arbeiten zu können.

Warum ist eigentlich ausgerechnet die OECD für internationale Vergleiche zum Thema Bil­dung zuständig? Weil Ökonomie die Schlüsselwissenschaft für den Sinn und das Verständ­nis von Bildung ist? Offensichtlich ist das inzwischen Konsens. Bildung ist für die OECD das „Mega-Thema“, weil es das Mega-Instrument für Markt- und Wachstumspolitik ist. So kann man dann auch Gesellschaftspolitik in Bildungspolitik aufsaugen: Das entlastet wiederum die Politik. Beispiel: Man kann sich in Deutschland weiterhin weigern, eine geordnete Immigrati­onspolitik zu betreiben, indem man dem Bildungssystem die Aufgabe der Integration zu­schiebt und ansonsten die Hände in den Schoß beziehungsweise das Thema den Asylrich­tern zu Füßen legt.

Ich werde morgen wieder in den Unterricht gehen und dafür kämpfen, dass Schüler Zeit ha­ben zum Nachdenken. Ich werde mit erzieherischen Fragestellungen konfrontiert sein und mich ihnen widmen, Fragestellungen, über die im ganzen PISA-Rummel kein einziges Wort fällt. Ich werde zähneknirschend zusehen, wie den Kolleginnen und Kollegen von den Behör­den immer mehr Bürokratie aufgepackt wird, ohne dass Entlastung in Aussicht ist – während die Politik ein Institut nach dem anderen aufbaut, das weiter messen und messen soll. Und ich werde mich niemals von dem Gedanken verabschieden, das weitab von den inhaltslee­ren, glo­bal messbaren „Kompetenzen“ Bildung vor allem und zu allererst die Grundlage für eine hu­mane Gesellschaft ist – dass Bildung also ein ethisches Ziel hat, das man weder mit „Lernstra­tegien“ erreichen noch am Ende als „output“ in Form von Kompetenzen messen kann.

Klaus Mertes SJ (1954) ist Kollegsdirektor kam Kolleg St. Blasien. Er hat Slawisitik und Klass. Philologie in Bonn studiert und 1977 in den Jesuitenorden eingetreten. Anschließend studierte er Philosphie und kath. Theolo­gie in München und Frankfurt a. M. und wurde 1986 zum Priester geweiht. Nach dem 2. Staatsexamen für Kath. Religion und Latein war er Lehrer an der St. Ansgar-Schule in Hamburg und am Canisius-Kolleg in Berlin, des­sen er Rektor er 2000-2011 war. Klaus Mertes ist Mitglied im Zentralkommitte der dt. Katholiken und im Kura­torium Stiftung 20. Juli 1944

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