PRINZIPIENORIENTIERTES VERHALTEN UND SPIRITUELLES KAPITAL

André Habisch sieht eine inspirierende Kraft im gemeinsamen Ringen von Christen und Muslimen in der Moderne.

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André Habisch

Prinzipienorientiertes Verhalten und Spirituelles Kapital – zum gemeinsamen Ringen von Christen und Muslimen in der Moderne

Nach rund einem halben Jahrhundert ist in Deutschland der Auflösungsprozess religiöser aber auch humanistischer Spiritualität im öffentlichen Raum weit fort geschritten. Unabhängig davon, ob man dies als Befreiung zu ‚unverstellter’ individueller oder sozialer Rationalität begrüßen oder als Wer­teverlust bedauern mag, ist festzustellen, dass die Bindung an Religions- aber auch an Wertege­meinschaften etwa im Naturschutz, in der internationalen Solidaritätsarbeit oder auch im klassi­schen ‚Ehrenamt’ kontinuierlich zurück gegangen ist. Die häufig monierte ‚Ökonomisierung aller Lebensbereiche’ hat sicherlich auch damit zu tun, dass Werteorientierung als Alternative zum (loka­len oder universellen) Maximierungskalkül theoretisch und pädagogisch diskreditiert und auch poli­tisch unterminiert worden ist. Eine enge Anreizsteuerung, die ‚politisch korrekte’ Verhaltensweisen finanziell besser auszupolstern sucht, zeigt gerade hier unerwünschte Nebenwirkungen: denn sie leistet einmal mehr dem Vordringen strategischer Rationalität Vorschub. Demgegenüber hat die So­ziale Marktwirtschaft staatliches Handeln auch deshalb auf die Absicherung fundamentaler Rah­menbedingungen beschränkt, um eine Entmündigung von prinzipienorientiertem Verhalten freier Bürger (und damit seine Erosion) zu verhindern. Schon in Familie und Betrieb gilt: Wer jedes er­wünschte Verhalten ‚prämiert’, der wird schon bald nur mehr von einer Söldnermentalität umgeben sein. Bestimmte Rationalitätstypen können hier schnell zur ‚sich – selbst – erfüllenden Prophezei­ung’ werden.

In Zeiten zunehmender Einförmigkeit von Konsum- und Lebensstilen werden aber auch dem selbst ‚religiös unmusikalischen’ Beobachter zunehmend die gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Ent­wicklungen deutlich. Der Verlust von prinzipienorientiertem Verhalten führt nicht nur zunehmende Kontrolldichte und abnehmendes Vertrauenskapital im Schlepptau; auch die spannungsreiche Plura­lität ‚markanter Köpfe’ weicht einem Einerlei berechenbarer Verhaltensanpassungen an vor-findli­che Anreizkonstellationen. Solche Homogenisierungstendenzen haben ihrerseits ganz unterschiedli­che Folgen, sind aber in der Regel mit dem Verlust von Innovationskraft und Kreativität verbunden. Nicht zufällig sind ‚Lap-top’ und Lederhose häufiger als gedacht gemeinsam anzutreffen – sind also Regionen, in denen sich prinzipienorientierte Verhaltensweisen und Lebensstile konserviert haben, langfristig auch ökonomisch dynamischer als jene, die lange als ‚aufgeklärter’ und ‚moderner’ gal­ten.

Die ökonomische Theorie der Familie hat gezeigt, dass Führungskräfte der Wirtschaft stärker religi­ös geprägt sind als die Gesamtbevölkerung. Der ‚Eigensinn’ des mittelständischen Unternehmers wurzelt häufig auch in einer gefestigten Spiritualität. Beides leitet ihn dazu an, um einen politisch gängelnden Staat bzw. sein politisch-administratives Personal einen weiten Bogen zu machen. Die spirituell inspirierte Orientierung an Werten des eigenen Handelns erscheint aus dieser Perspektive als ‚kulturelles Kapital’ einer Person, einer Organisation oder gar eines Gemeinwesens: Es verhilft zum selbst bestimmten und damit häufig ‚alternativen’ Denken und Handeln. Ein weiterer, interessanter Befund der ökonomischen Theorie der Religion ist, dass dieses Potenzial oft gerade in heterogenen Kulturen gedeiht, in denen ein ‚Wettbewerb’ verschiedener gelebter Konfessionen oder Religionen existiert.

Wie ist auf diesem Hintergrund die in Zukunft sicherlich deutlich ansteigende Präsenz muslimischer Familien und Gruppen in Deutschland zu bewerten? Der führende amerikanische Religionswissen­schaftler Stephen Prothero hat in seinem interessanten Buch ‚God is not one’ (2010) den Islam als die wichtigste Religion unserer Zeit bezeichnet, weil sie stärker als alle anderen Großreligionen das Verhalten seiner Gläubigen effektiv beeinflusst. Gerade prinzipienorientiertes Verhalten wird hier täglich eingeübt, der Glaube greift stark in die persönliche Lebensführung ein. Diese Bereitschaft kann durchaus zu einer inspirierenden Kraft auch für Andersgläubige werden, sich wieder neu auf die Prinzipien ihrer Überzeugungen zu besinnen.

Zu diesem einander herausfordernden und wechselseitig Identität stiftenden Zusammenleben der Religionen wird es sicher nicht von selbst kommen: auch politische Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden. Um zu den dazu notwendigen Schritten zu finden, kann sich Deutschland an seiner einzigartigen Erfolgsgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts orientieren. Denn diese ist durch die Überwindung der jahrhundertealten Feindschaft von evangelischen und katholi­schen Christen gekennzeichnet. Die Gründung der CDU als konfessionsübergreifender Sammlungs­partei hat die politisch – intellektuelle Selbstblockade der Konfessionen in der Weimarer Zeit über­wunden (interessanterweise hat mit Maria D. Mitchell 2012 gerade eine US Autorin auf die epocha­le Bedeutung dieser Entwicklung für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts hin gewiesen). Resultiert ist sicherlich nicht immer eine harmonische und ideale Gemeinschaft der Konfessionen, aber doch eine wechselseitige Bereicherung traditioneller Orientierungen. Dies hat sich etwa ausge­drückt in der spannungsreichen Verbindung von Marktwirtschaft (Ludwig Erhardt bzw. protestanti­sche Freiburger Schule) und an Hilfe zur Selbsthilfe orientiertem Sozialstaat (katholisch-soziale Tradition) als den Grundpfeilern des Erfolgsmodells Bundesrepublik. Interessant ist, dass es hier nicht Theologen oder Kirchenleitungen waren, die diesen Prozess vorangetrieben haben, sondern engagierte Laien (Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler, Juristen etc.), deren praktische Klugheit jeweils an der Lösung (gemeinsamer) Probleme geschult ist.

Was bedeutet dies für die Zukunft? Jenseits von Kirchen, Zentralräten und offiziellen Religionsver­tretern sollten Christen und Muslime in Wirtschaft und Politik an der Erarbeitung gemeinsamer Po­sitionen arbeiten – und zwar durchaus auch in Parteien und parteinahen Stiftungen. Dabei stehen insbesondere Muslime vor der wichtigen Herausforderung, ihre Prinzipien in den veränderten Kon­text des 21. Jahrhunderts hinein zu übersetzen. Was bedeutet es in der Gesellschaft von heute auf dem Hintergrund einer globalen Marktwirtschaft mit Internet und pluralen Lebensformen seine isla­mischen Werte zu leben? Wird die Verpflichtung zur Gabe des ‚Zakad’ – ebenso wie die christliche ‚Nächstenliebe’ – unter modernen Bedingungen zur Bejahung entsprechender öffentlicher Systeme führen? Wie werden sich die familiären Beziehungen verändern, wie das Verhältnis zu anderen Tra­ditionen prinzipienorientierten Handelns? Auch im Bereich der Christlichen Soziallehre waren es ja nicht Religionsvertreter oder Theologen, sondern gläubige Laien, die diese Fragen beantwortet und damit christliche Existenz unter modernen Bedingungen neu ausbuchstabiert haben.

Auch wenn solche Gespräche christlicher und muslimischer Unternehmer und Wirtschaftswissen­schaftler, Politiker, Journalisten etc. noch Zukunftsmusik sind, so ist etwas anderes schon heute zu beobachten: Christen und Muslime lassen sich immer weniger gegeneinander ausspielen, sondern nehmen zunehmend ihre Gemeinsamkeiten wahr: ihre Orientierung an spirituell verankerten Prinzi­pien und am Versuch, ihr Leben als selbstbestimmte Personen an ihren Werten zu orientieren. In ei­ner säkularisierten und anreizgesteuerten Umwelt ist das nicht gerade wenig!

Prof. Dr. André Habisch (1963) verantwortet als Volkswirt und Theologe  an der  Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt seit 2013 ein DAAD-Kooperationsprojekt zur christlich-islamischen Wirtschaftsethik mit verschiedenen Universitäten im arabischen Raum. Er war Mitglied der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestages.

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