Dr. Ulrich Ruh
Die Würzburger Synode war zweifellos das wichtigste kirchliche Ereignis für die katholische Kirche in der „alten“ Bundesrepublik der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Ihr offizieller Titel lautete „Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland“; sie tagte in acht Vollversammlungen von Januar 1971 bis Ende November 1975. Inzwischen ist diese Synode auch unter engagierten Katholiken hierzulande mehr oder weniger vergessen, was auch für die Umstände zutrifft, die zu ihrer Einberufung führten. In der damaligen Kirche in der Bundesrepublik gärte es gewaltig: Gerade war das Zweite Vatikanische Konzil zu Ende gegangen, das nach teilweise kontroversen Diskussionen unter den versammelten Bischöfen aus der ganzen Weltkirche in seinen Dokumenten Eckpunkte für eine kirchliche Erneuerung in der Welt von heute formuliert hatte. Die im Nachgang zum Konzil veröffentlichte Enzyklika „Humanae vitae“ Pauls VI. über eheliche Sexualität und Geburtenregelung hatte gerade auch unter deutschen, kirchenverbundenen Katholiken für Verunsicherung und Unverständnis gesorgt und zum Teil Widerstand ausgelöst. Er brach sich nicht zuletzt auf dem Deutschen Katholikentag von 1968 in Essen unübersehbar Bahn.
In dieser aufgeheizten Situation entstand von verschiedener Seite (nicht zuletzt vom „Bund der Deutschen Katholischen Jugend“) die Idee einer gemeinsamen Synode der (west)deutschen Bistümer. Sie wurde in verhältnismäßig kurzer Zeit in die Tat umgesetzt; schon am 14. Februar 1970 approbierte Paul VI. das Statut der Synode, das hinsichtlich der Zusammensetzung der Teilnehmer (die deutschen Bischöfe und von der Bischofskonferenz berufene Mitglieder, Vertreter aller Bistümer und vom „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“ gewählte Mitglieder, Vertreter der Ordensleute) Neuland betrat. Die Synode erarbeitete und verabschiedete nicht weniger als achtzehn Beschlüsse zu den verschiedensten Bereichen von Leben und Zeugnis der Kirche, außerdem sechs von Sachkommissionen verfasste Arbeitspapiere.
Die Würzburger Texte schlossen zum Teil offensichtlich an Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils an und bemühten sich um weiterführende Überlegungen und Empfehlungen angesichts der Verhältnisse in Deutschland. Das galt etwa für den Beschluss über den Gottesdienst, aber auch für die zum Auftrag und zum pastoralen Dienst der Orden und geistlichen Gemeinschaften oder zur Ökumene („Pastorale Zusammenarbeit der Kirchen im Dienst an der christlichen Einheit“). Andere behandelten spezifische Fragen und Themen der Kirche in der Bundesrepublik, etwa der Beschluss über den Religionsunterricht als schulisches Lehrfach oder der über die pastoralen Dienste in der Gemeinde, in dem es unter anderem um den hauptamtlichen Einsatz von Laien als Pastoral- oder Gemeindereferenten ging. Wieder andere griffen ausgesprochene „heiße Eisen“ auf, wie der Text zu „Christlich gelebte Ehe und Familie“ (er wurde durch ein Arbeitspapier über „Sinn und Gestaltung menschlicher Sexualität“ flankiert) oder der zu „Kirche und Arbeiterschaft“. Als theologisches Grundsatzdokument verabschiedete die Würzburger Synode einen so sperrigen wie mitreißend formulierten Beschluss mit dem Titel „Unsere Hoffnung. Ein Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit“.
Zu den Mitgliedern der Gemeinsamen Synode zählten führende Köpfe des im Zentralkomitee der deutschen Katholiken versammelten damaligen deutschen Laienkatholizismus, die im Hauptberuf wichtige politische Ämter bekleideten, wie der bayerische Minister Hans Maier und sein rheinland-pfälzischer Kollege Bernhard Vogel oder die damalige Staatssekretärin Hanna-Renate Laurien. Dazu kamen profilierte Theologen, sowohl solche der älteren Generation wie Franz Böckle, Karl Rahner, Rudolf Schnackenburg oder Otto Semmelroth, wie auch theologische „Jungstars“, etwa die aufstrebenden Dogmatiker Walter Kasper und Karl Lehmann (als sein Wissenschaftlicher Assistent durfte ich die Schlussphase der Würzburger Synode und seinen unermüdlichen Einsatz für sie aus der Nähe miterleben). Joseph Ratzinger, von der Bischofskonferenz berufenes Mitglied, schied dagegen auf eigenen Wunsch schon Ende 1971 aus der Synode aus. Vom deutschen Episkopat der Synodenjahre ist vor allem der Erzbischof von München und Freising, Julius Kardinal Döpfner, zu nennen, der damalige Konferenzvorsitzende und Präsident der Synode, der sich für das Gelingen des durchaus riskanten, weil in dieser Form erstmaligen Unternehmens in hohem Maß engagierte und kurz nach Abschluss der Synode plötzlich verstarb.
Liest man heute im Abstand von fünfzig Jahren die Synodenbeschlüsse, ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Nicht Weniges wirkt inzwischen etwas aus der Zeit gefallen, so die Ausführungen zum Sonntag und zur Sonntagspflicht im Beschluss „Gottesdienst“, zur Sakramentenpastoral etwa in Bezug auf das Bußsakrament oder zur vorehelichen Sexualität im Text über christlich gelebte Ehe und Familie. Im Beschluss über Kirche und Arbeiterschaft werden lange zurückliegende Schlachten geschlagen. Dagegen sind die Dokumente zur Ökumene und auch zum Religionsunterricht immer noch als Rahmenkonzepte für kirchliches Handeln hierzulande brauchbar und verdient der stark vom theologischen Denken von Johann Baptist Metz geprägte Text „Unsere Hoffnung“ durchaus eine Relecture.
Vor allem ist beim Rückblick auf Würzburg eines festzuhalten: Seit der Gemeinsamen Synode haben sich die kirchliche, religiöse und gesellschaftliche Landschaft im inzwischen wiedervereinigten Deutschland in einer Weise verändert, die damals nicht vorauszusehen war. Das katholische Kirchenvolk mit seiner Organisation in Gemeinden und Verbänden ist massiv zusammengeschrumpft, für den Weltklerus gibt es kaum noch Nachwuchs, die Ordensgemeinschaften müssen immer mehr Niederlassungen und Werke wegen Nachwuchsmangels aufgeben. In westdeutschen Großstädten nähern sich die Bevölkerungsanteile der Christen immer stärker der Situation in den östlichen Bundesländern an. Vor allem als Folge von Zuwanderung hat sich der Islam in Deutschland als zweitgrößte Religionsgemeinschaft nach den christlichen Kirchen etabliert; die christliche Szene ist durch eine Vielzahl neuer Gruppen und Gemeinschaften bunter geworden, was die Ökumene vor neue Herausforderungen stellt. Durch ihre caritativ-diakonischen Einrichtungen sind die großen christlichen Kirche in der Gesellschaft zwar nach wie vor präsent und werden durchaus geschätzt; aber der gesellschaftlich-politische Einfluss der Kirche als Institution und des organisierten Christentums ist deutlich zurückgegangen.
Gleich, wie das geplante neue synodale Gremium genau zusammengesetzt sein und welche Kompetenzen es im Einzelnen haben wird, braucht die katholische Kirche fünfzig Jahre nach der Würzburger Synode neuen Mut zur Zusammenarbeit im Interesse einer glaubwürdigen Gestalt im Inneren und einer ebenso glaubwürdigen Präsenz in der Gesellschaft. Hier liegt die Hauptaufgabe für die noch lebensfähigen Gemeinden und Verbände genauso wie für die wissenschaftliche Theologie, die um Schwerpunktbildung und Konzentration nicht herumkommen wird, aber auch für das kirchliche Amt und die Gremien auf den verschiedenen Ebenen. Dass diese Aufgaben nur im ökumenischen Schulterschluss angegangen werden können, versteht sich von selbst.
Dr. Ulrich Ruh (1950) ist Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau und war 1991 – 2014 Chefredakteur der „Herder Korrespondenz“. Er studierte Katholische Theologie und Germanistik in Freiburg und Tübingen und legte 1974 das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. Danach war er bis 1979 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät Freiburg (Prof. Karl Lehmann) am Lehrstuhl für Dogmatik und Ökumenische Theologie. 1979 wurde er in Freiburg mit einer Arbeit über Begriff und Problem der Säkularisierung zum Dr. theol. promoviert und trat im gleichen Jahr in die Redaktion der „Herder Korrespondenz” ein.