Gedanken zum Osterfest
Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann, Speyer
In berührender Weise schildert uns der Evangelist Johannes, wie Maria von Magdala am Morgen des Ostertags aus ihrer tiefen inneren Leere heraus behutsam zum Glauben an die Auferstehung Jesu und zur erfüllenden Begegnung mit ihm geführt wird: Als es noch dunkel ist, geht sie an sein Grab. Dort sieht sie, dass der Stein weggerollt ist. Sie läuft zu Petrus und Johannes und sagt zu ihnen: „Sie haben den Herrn … weggenommen“ (Joh 20,2). Wenig später kehrt sie zum Grab zurück. Sie beugt sich hinein und sieht zwei Engel in weißen Gewändern. Auch ihnen antwortet sie auf die Frage, warum sie weint: „Sie haben meinen Herrn weggenommen“ (Joh 20,13). Gleich darauf sieht sie Jesus, den sie zunächst für den Gärtner hält. Und auch ihm zu ihm sagt sie: „Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast!“ (Joh 20,15)
Dreimal die gleiche Klage Marias, dass der Herr weggenommen bzw. weggebracht worden ist – ein Verlust, der sie bis ins Innerste trifft. Das Fehlen seines Leichnams macht ihr umso schmerzhafter bewusst, was Jesus für ihr Leben bedeutet hat und wie sehr sie sich nach seiner Gegenwart sehnt. Ähnlich geht es auch den Zwölf, die sich nach Jesu Tod ängstlich und resigniert hinter verschlossenen Türen zurückziehen (Joh 20,19-23). Ebenso den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus, die mit Jesus alle Hoffnung begraben mussten, die sie in ihn gesetzt hatten (Lk 24,13-35). Sie alle verspüren nach Jesu Tod eine tiefe innere Leere, die sich in der gähnenden Leere des Grabes Jesu widerspiegelt.
Umso größer ist ihre Freude, als Jesus sich ihnen als der Auferstandene zeigt: Die Klage Marias von Magdala verwandelt sich in neue, fröhliche Lebendigkeit. Aus den ängstlich-verschlossenen Jüngern werden frohe und glaubensstarke Zeugen der Osterbotschaft. Seither bekennen Christinnen und Christen die Auferstehung Jesu als Mitte und Fundament ihres Glaubens. Sie sind zuinnerst davon überzeugt, dass allein der Glaube an Christus unserem Leben Sinn und Richtung gibt, dass er allein unsere tiefsten Sehnsüchte stillt und unsere Leerstellen füllt.
Im vergangenen Jahr ist ein Buch von Jan Loffeld erschienen mit dem aufrüttelnden Titel: „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt“ [1]. Dem in den – von manchen als „Speerspitze der Säkularisierung“ bezeichneten – Niederlanden lehrenden praktischen Theologen zufolge unterscheidet sich die religiöse Erfahrung von immer Menschen in Westeuropa fundamental von den Erfahrungen der Jüngerinnen und Jünger Jesu vor 2.000 Jahren. Für sie bedeutet das Fehlen Gottes keinen Verlust an Sinn, Hoffnung oder Lebensfreude. In ihrer religiösen Gleichgültigkeit bezeichnen sie sich als „gottlos glücklich“.
Für die christlichen Kirchen stellt dieser ernüchternde Befund, den die jüngste Kirchenmitgliedschaftsstudie [2] statistisch untermauert, eine Situation dar, der unsere Glaubensüberzeugungen zum Wanken bringen kann: Kommt in unserer Zeit vielleicht eine Jahrtausende währende Epoche der Menschheitsgeschichte an ihr Ende, in der man jeden Menschen per se als „Homo religiosus“ ansah und Religion in ihrer sinnstiftenden, gemeinschaftsbildenden und moralbegründenden Funktion als unverzichtbar galt? Darüber hinaus rüttelt dieser Befund auch an den Grundfesten des Selbstverständnisses der Kirche als Hüterin der göttlichen Wahrheit und als Vermittlerin des von ihm kommenden Heils: Wenn schon das Fehlen Gottes für immer mehr Menschen keinen Verlust mehr bedeutet, um wieviel überflüssiger wird damit erst die Kirche als Ort, an dem der Glaube an diesen Gott bezeugt, gefeiert und gelebt wird?
Auch ich habe kein Patentrezept, wie wir als Kirche einer fehlenden Gottessehnsucht von immer mehr Menschen etwas entgegensetzen können. Vielleicht können uns aber die Ostererzählungen dafür den ein oder anderen Impuls geben.
Maria von Magdala und die Jünger mussten sich zunächst ganz der Leere des Grabes Jesu und damit ihrer eigenen inneren Leere aussetzen, um den Tod Jesu in seiner Endgültigkeit zu begreifen. Nur so wurden sie fähig, sich auf das radikal Neue des Geheimnisses der Auferstehung einzulassen. Für uns als Kirche kann das bedeuten, dass auch wir nicht die Augen vor dem verschließen, was nach unserer Überzeugung nicht sein darf. Sondern dass wir uns der Realität einer mehrheitlich säkularen Gesellschaft, in der immer weniger Menschen ausdrücklich an Gott glauben und die Kirche immer mehr an gesellschaftlicher Relevanz verliert, in ihrer ganzen Radikalität stellen. Erst dann wird es uns gelingen, uns von überkommenen kirchlichen Strukturen zu lösen, die heute keine glaubensstiftende Kraft mehr entfalten, und uns dem Neuen zu öffnen, das mit Jesus in die Welt gekommen ist und sich immer wieder neu entfalten möchte. (vgl. Offb 21,5)
Ein zweites: In den Auferstehungserzählungen erfahren Maria von Magdala und die Jünger, dass ihnen Jesus dann, als sie am wenigsten damit rechnen, begegnet. Und dass er das in anderer Gestalt tut, so dass sie ihn zunächst gar nicht erkennen. Auch wir sollen unser Vertrauen nicht zuerst in uns, in immer professionellere kirchliche Strukturen, ausgeklügeltere Pastoralkonzepte und innovativere Projekte setzen, sondern vor allem in Gott selbst. Letztlich liegt es nicht an uns, ob Gott sich durch unser Handeln den Menschen als Erfüllung ihrer Sehnsüchte schenkt. Nicht wir verfügen über Gott, sondern er allein bestimmt, wann er sich wem auf welche Weise als das „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) offenbaren will.
Und noch ein dritter Gedanke: Jesus begegnet Maria von Magdala und den Jüngern in großer Behutsamkeit. Schrittweise führt er sie an das Geheimnis der Auferstehung heran. Und er macht ihnen weder Vorwürfe, dass die meisten ihn am Kreuz kläglich im Stich gelassen haben, noch dass sie seiner Zusage, dass der Menschensohn zwar leiden müsse, jedoch von den Toten auferstehen werde (vgl. Lk 9,22; 9,43-45; 18,31-34), nicht vertraut haben. Genauso kommt es auch uns als Kirche nicht zu, Menschen zu verurteilen oder auszugrenzen, denen der Glaube abhandengekommen ist oder denen er nichts mehr bedeutet. Vielmehr gilt es, ihnen mit der gleichen uneingeschränkten Zugewandtheit zu begegnen wie Jesus, und in niederschwelligen Angeboten Räume offenzuhalten, die Gotteserfahrungen ermöglichen. Im Vertrauen darauf, dass Jesus auch heute Menschen in ihrem Herzen anrühren will, so wie er Maria von Magdala – allein durch die schlichte Nennung ihres Namens „Maria“ (Joh 20,16) – im Innersten getroffen, zum Glauben geführt und so für die anderen Jünger zur ersten Zeugin der Auferstehungsbotschaft gemacht hat.
[1] J. Loffeld, Wenn nichts fehlt, wenn Gott fehlt. Das Christentum vor der religiösen Indifferenz, Freiburg im Breisgau 2024.
[2] EKD (Hg.), Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, Leipzig 2023. SI-EKD, KAMP (Hg.), Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Relevanz von Religion und Kirche in der pluralen Gesellschaft. Analysen zur 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, Leipzig 2024.

Foto: Klaus Landry / Bistum Speyer
Dr. Karl-Heinz Wiesemann (geb. 1960) ist Bischof des Bistums Speyer. Nach seinem Theologie-Studium in Paderborn und Rom war er ab 1986 als Vikar, Pfarrer und Weihbischof in seinem Heimaterzbistum Paderborn tätig. Im März 2008 wurde er in sein Amt als Bischof von Speyer eingeführt. Von 2011 bis 2016 leitete er die Jugendkommission und von 2016 bis 2021 die Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz. Als Vorsitzender repräsentierte er von 2013 bis 2019 die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland.