Dr. Ulrich Ruh
Anfang Oktober 2024 veröffentlichten die deutschen Bischöfe eine Erklärung mit dem prätentiösen Titel „Katholische Theologie als kulturelles Laboratorium“ zur Bedeutung der katholischen Theologie für Wissenschaft, Gesellschaft und Kirche. Der knapp gehaltene Text formuliert ein entschiedenes Bekenntnis zur Bedeutung der theologischen Forschung und Lehre an Universitäten und Hochschulen, zum „substantiellen Beitrag theologischer Forschung und Lehre für die Gesellschaft“ sowie zur Bedeutung theologischer Forschung und Lehre für die Kirche „in Deutschland und weltweit“.
Die Herausforderungen, auf die die Bischöfe mit dieser Erklärung reagieren, sind seit Jahren mit Händen zu greifen. Sie betreffen im Übrigen mutatis mutandis auch die in Deutschland mit seiner speziellen konfessionellen Prägung seit der Reformation gleichermaßen an Universitäten und Hochschulen vertretene evangelische Theologie, was jetzt in der katholischen Erklärung jedenfalls implizit mitthematisiert wird. Es geht letztlich um den massiven Bedeutungsverlust der traditionell großen christlichen Kirchen als Bestandteil unserer Gesellschaft und darüber hinaus um das fortschreitende, flächendeckende Schwinden des christlichen Glaubens und der von ihm geprägten Kultur als religiös-weltanschaulichem Deutungshorizont für die Mehrzahl der Menschen. Das gilt inzwischen nicht nur für die ostdeutschen Bundesländer mit ihrer vierzigjährigen DDR-Vergangenheit, sondern ist längst ein gesamtdeutsches Phänomen.
In den öffentlichen Debatten über gesellschaftliche Trends oder über den generellen Weg unserer „explosiven Moderne“ (so der Titel des neuesten Buchs von Eva Illouz) spielt heute weder die evangelische noch die katholische Theologie eine prominente Rolle; die meinungsbildenden Beiträge und kontroversen Anstöße stammen stattdessen weit mehr aus der Soziologe, der Politologie oder der Geschichtswissenschaft. Religionspolitisch wird aus aktuellem Anlass am ehesten über die Rolle des Islam in einer säkularen Gesellschaft westeuropäischen Zuschnitts diskutiert. Für den Umgang mit privaten Krisen, zur persönlichen Optimierung gibt es ein reiches Angebot aus populärer Philosophie und Psychologie.
In einer solchen Gemengelage tut sich die christliche Theologie gerade wegen ihrer konstitutiven Verbindung von Bekenntnisanspruch und intellektueller Offenheit schwer. Eine Formulierung in der bischöflichen Erklärung wie: „Die Anregungen, welche die Theologie aus dem Bewusstsein einer Jahrhunderte währenden Reflexion auf die Möglichkeiten gelingenden menschlichen Lebens in sozialen Bezügen liefert, wirken über den Rahmen der Universitäten und Hochschulen hinaus in die Gesellschaft hinein“ klingt mehr als – durchaus verständlicher – frommer Wunsch, als dass sie die derzeitige Wirklichkeit von evangelischer oder katholischer Theologie in der größeren Öffentlichkeit beschreiben würde.
Dennoch gilt es, realistisch wie sensibel die auf dem heutigen Hintergrund sich bietenden Chancen zu nutzen, sich gesellschaftlich bemerkbar zu machen, Theologie sollte ihre beträchtlichen Kompetenzen nicht hinter frommem Geschwurbel oder pastoraler Planungswut verstecken, sondern intelligent, verantwortlich und möglichst ansprechend von ihnen Gebrauch machen: Theologen, seien sie Exegeten, Kirchenhistoriker oder Dogmatiker, können der Öffentlichkeit brauchbare Angebote unterbreiten, indem sie Bestände der reichen und spannungsreichen christlichen Lebens- und Denkgeschichte seit der Spätantike und ihre sichtbaren und hörbaren Zeugnisse erschließen und verständlich darstellen – ob und wie die entsprechenden Ergebnisse dann von den Zeitgenossen angenommen, diskutiert und weitergedacht werden, steht selbstverständlich immer auf einem anderen Blatt! Das kann und sollte aber in Kooperation mit Wissenschaftlern anderer Fachrichtungen geschehen, ohne dass die Theologie auf ihre spezifische Perspektive verzichten müsste.
Allerdings: Dem weiteren Schrumpfen christlicher Traditionen und kirchlicher Milieus ist sicher auch durch intelligente und sorgfältige Theologie nicht abzuhelfen. Dennoch wird eine solche auch innerkirchlich gerade angesichts der gegenwärtigen und weiter absehbaren Veränderungsprozesse im kirchlichen Leben dringend gebraucht, auf katholischer wie auf evangelischer Seite. Auch wenn es in Deutschland keine „Volkskirche“ mehr gibt, sollte man die alten und neuen Reste des christlichen „Volks“ in den beiden großen Kirchen nicht für dumm verkaufen. Gleich ob es um die Gestaltung von Gottesdiensten, um Formen der Verkündigung oder um Orte der Diakonie geht, kann solides theologisches Werkzeug bei allen „Ständen“ und in allen Gremien der Kirche nicht schaden, ganz im Gegenteil!
Die Bischöfe erwähnen in ihrer Erklärung die wachsemden Finanzierungsschwierigkeiten und Sparzwänge im Blick auf die weitere Entwicklung der Standorte für das Studium der katholischen Theologie, sowie auch die rückläufigen Zahlen an Studierenden, Promovierenden und Habilitierenden in diesem Fach. Das teilweise jahrhundertealte, teilweise in den letzten Jahrzehnten entstandene, großzügige Netz an Ausbildungseinrichtungen für katholische wie für evangelische Theologie in Deutschland wird sich so höchstwahrscheinlich nicht halten lassen. Es ist angesichts der unsicheren Perspektiven für den konfessionellen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen einerseits und der zukünftigen Finanzsituation der beiden großen Kirchen mit deren Konsequenzen für die Einstellung von hauptamtlichem Personal für die Seelsorge andererseits auch nicht klar, wie die Berufsperspektiven künftiger Absolventen theologischer Studiengänge aussehen werden. Theologie könnte zu einem Orchideenfach für „happy few“ werden, möglicherweise mit erweiterter katholisch-evangelischer Kooperation. Man sollte sich von dieser Aussicht nicht schrecken lassen. Es ist für die Theologie noch nicht aller Tage Abend.
Dr. Ulrich Ruh (1950) ist Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau und war 1991 – 2014 Chefredakteur der „Herder Korrespondenz“. Er studierte Katholische Theologie und Germanistik in Freiburg und Tübingen und legte 1974 das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. Danach war er bis 1979 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät Freiburg (Prof. Karl Lehmann) am Lehrstuhl für Dogmatik und Ökumenische Theologie. 1979 wurde er in Freiburg mit einer Arbeit über Begriff und Problem der Säkularisierung zum Dr. theol. promoviert und trat im gleichen Jahr in die Redaktion der „Herder Korrespondenz” ein.