Fritz Kronenberg erinnert an Klaus Hemmerle, der als Bischof 1975 – 1994 das Bistum Aachen leitete und dessen Rolle im Missbrauchsskandal in einem im November 2020 vorgelegten Gutachten untersucht wird, und plädiert in diesem Zusammenhang für eine Reform kirchlicher Institutionen.
Das Gutachten „Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker im Bereich des Bistums Aachen im Zeitraum 1965 bis 2019“ der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl – Spilker- Wastl Rechtsanwälte können Sie hier lesen.
Die Stellungnahmen des Aachener Bistums zum Missbrauchsgutachten finden Sie hier
Das Gutachten ergibt zu den für die Amtszeit von Bischof Hemmerle untersuchten Fallbeispielen ein differenziertes Bild. In einem Fall kommt das Gutachten in einem Fall zu dem Ergebnis, es sei den Akten nicht zu entnehmen, „ob und inwieweit der Bischof detailliert in die Behandlung dieser Vorgänge eingebunden war“. In einem anderen Fall sei „die schnelle Rehabilitierung und der uneingeschränkte Wiedereinsatz des betroffenen Pfarrers vor Ablauf der vom Bischof selbst gesetzten Bewährungsfrist … dem Bischof unmittelbar zuzurechnen.“
In der Gesamtbewertung heisst es über Bischof Hemmerle: „Zugunsten des Bischofs ist jedoch festzuhalten, dass er sich aus der Verwaltung des Bistums generell weitestgehend herausgehalten und diese Aufgabe seinem, nach Angaben sämtlicher hierzu befragter Zeitzeugen, durchsetzungsstarken und autoritären Generalvikar überlassen hat. Hinzu tritt die ebenfalls von vielen Zeitzeugen geschilderte Entscheidungsschwäche des Bischofs, die wohl die Kehrseite seiner charismatischen Fähigkeiten als Hirte und Seelsorger sowie seiner theologisch-wissenschaftlichen Aktivitäten war. Aus Gutachtersicht stellt dies zwar einen den Bischof entlastenden Umstand dar. Gleichzeitig aber kann dies nicht dazu führen, den Bischof von jeglicher Verantwortung freizusprechen.
Positiv zu bewerten ist zudem die Tatsache, dass der Bischof im Fallbeispiel 1 aktiv auf Opfer zugegangen ist und ihnen Unterstützung im Hinblick auf the- rapeutische Hilfe zugesagt hat. Dass er deshalb bistumsintern kritisiert wurde, zeigt aus Gutachtersicht darüber hinaus, dass zu diesem Zeitpunkt noch eine starke, bzw. offenkundig dominante, Strömung in der Bistumsverwaltung existierte, die das Leid der Opfer nicht zur Kenntnis nahm und ein eigenes seelsorgerisches Zugehen auf die Opfer vermissen ließ.
Zugunsten des Bischofs ist schließlich anzuführen, dass er jedenfalls in der Endphase seiner Amtsperiode die generelle und weit über die bloßen Einzel- fälle hinausgehende Problematik sexuellen Missbrauchs wohl erkannt haben dürfte und aufgrund dieser Erkenntnis ersten Schritten zur Veränderung des Umgangs mit der Thematik „sexueller Missbrauch“ aufgeschlossen gegen- überstand. Namentlich gilt dies im Hinblick auf die Hinzuziehung eines externen psychiatrischen bzw. psychologischen Fachmanns, der in der Personalkonferenz Ursachen und Folgen sexuellen Missbrauchs, insbesondere von Kindern, schilderte. Diesen Weg konnte der Bischof jedoch aufgrund einer schweren Krankheit, an der er in der Folge mit gerade einmal vierundsechzig Jahren verstarb, nicht mehr erfolgreich zu Ende führen.“
Den folgenden Text können Sie hier ausdrucken.
Friedrich Kronenberg
Klaus Hemmerle – ein geistlicher Weggefährte
1968 – ich war seit zwei Jahren Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) – suchten wir einen neuen Geistlichen Direktor für das Generalsekretariat des ZdK. Karl Forster, der erste Sekretär der nach dem Konzil als eigenständige Institution neu gegründeten Deutschen Bischofskonferenz (DBK), mit dem ich eng zusammenarbeitete, brachte mich auf den Gedanken, Klaus Hemmerle hierfür zu gewinnen. Seine Begründung: das ZdK brauche nicht nur einen tatkräftigen Generalsekretär, sondern auch einen guten geistlichen Weggefährten im Generalsekretariat; Karl Forster, vor seiner Tätigkeit als Sekretär Gründungsdirektor der Katholischen Akademie in München, kannte Klaus Hemmerle, Gründungsdirektor der Katholischen Akademie in Freiburg, als Kollegen und war überzeugt, dass wir im ZdK angesichts der vor uns liegenden Herausforderungen einen geistlichen Weggefährten wie Klaus Hemmerle benötigten. Bis heute bin ich Karl Forster für diese Idee unendlich dankbar, ohne Klaus Hemmerle, als Direktor, nach der Statutenreform als Rektor im Generalsekretariat und später als Geistlicher Assistent des ZdK, hätten wir die Herausforderungen der folgenden Jahre kaum gemeistert.
Welche Herausforderungen? Ich nenne stichwortartig: die Enzyklika Humanae Vitae; den Essener Katholikentag 1968 als Versuch, das Meinungsforum Katholikentag in ein kirchliches Willensforum zu verwandeln; den Entschluss von ZdK und Bischofskonferenz, die Zukunft des Meinungsforums Katholikentag zu gewährleisten und für die kirchliche Willensbildung eine Gemeinsame Synode zu planen; die Gemeinsame Synode in Würzburg 1971-1975 rechtlich und inhaltlich vorzubereiten und mit dem Ziel der Umsetzung des Konzils durchzuführen; zur gleichen Zeit den Katholikentag Trier 1970 und Mönchen-Gladbach 1974 mit theologischem und sozialphilosophischem Gehalt auszustatten und geistlich zu gestalten und zu vertiefen; außerdem im Blick auf das Ziel ökumenischer Kirchentage das ökumenische Pfingsttreffen 1971in Augsburg mit vorzubereiten und durchzuführen. (Siehe auch: „Klaus Hemmerle – Weggeschichte mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken“ in: www.klaus-hemmerle.de/de/biografie-im-kontext.html).
Zum Katholikentag 1974 hatten die Katholiken von Mönchen-Gladbach als Gastgeber eingeladen. Offensichtlich waren sie stark geprägt von der Tradition des Volksvereins für das katholische Deutschland und von der Sozialen Frage, die dieser in der Kirche lebendig gehalten hatte. „Für das Leben der Welt“ lautete schließlich auch das Leitwort dieses Katholikentages sowie die Eröffnungsrede von Klaus Hemmerle.
Über diesen Katholikentag war Klaus Hemmerle im Bistum Aachen weit bekannt geworden. Als 1975 ein neuer Bischof gesucht wurde und die Wahl auf Klaus Hemmerle fiel, war die Freude, ja die Begeisterung im Bistum groß und man bereitete ihm einen herzlichen Empfang.
Im Zentralkomitee war die Freude darüber, dass unser Geistlicher Weggefährte nun auch Bischof von Aachen war, ebenfalls groß. Gleichzeitig wuchs in mir aber die Sorge, dass er auch vor Herausforderungen stehen könne, die zu bestehen ihm schwerfallen würden. Denn für das Volk Gottes im Bistum Aachen war er der „Episcopus“, aber für die Institution Kirche im Bistum war er auch der oberste Chef. Das war eine Aufgabe, für die er sich nicht gerade auszeichnete. Im Laufe der Zeit wuchs mein Eindruck, dass diese Sorge nicht unberechtigt war. Näheres in: „Westpfahl Spilker Wastl – Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker im Bereich des Bistums Aachen im Zeitraum 1965 bis 2019“! (Link auf www.klaus-hemmerle.de) Dort wird Klaus Hemmerle jedoch auch „als eine in hohem Maße charismatische und ausgewiesene und befähigte Persönlichkeit“ (S. 271) dargestellt. Während es sich bei seinem Generalvikar Collas „um einen in hohem Maße entscheidungsstarken und entscheidungsfreudigen Generalvikar“ handelte, für den „im Bistum der Spitzname ‚Bokassa‘ üblich gewesen“ sei. (Bokassa hatte sich 1966 als Militär in der Zentralafrikanischen Republik an die Macht geputscht und herrschte dort zunächst als Präsident und später als selbstgekrönter Kaiser bis 1979. Er hielt sich für den 13. Apostel).
Zum Verhältnis zwischen Bischof Hemmerle und Generalvikar Collas kann ich aus eigenem Erleben folgende Begebenheit berichten: Beim Beginn der Vorbereitungen des Aachener Katholikentages kam es zu Dissonanzen mit den Vertretern der Jugendarbeit im Bistum. Das ist, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, nicht außergewöhnlich, schließlich kommt es darauf an, die Vorstellungen der Jugendvertreter ernst zu nehmen und konstruktiv in die Planungen zu integrieren. Zu dieser Integration leistete der Generalvikar Collas keinen Beitrag, vielmehr betrachtete er das Agieren der Jugendvertreter als ein interessantes Spiel, förderte es sogar und beobachtete gespannt den Fortgang dieses Spiels. In dieser Situation habe ich Bischof Hemmerle aufgesucht und mit ihm gemeinsam die Lage analysiert. Schnell war klar, wir mussten den Generalvikar dazu bringen, konstruktiv mit den Vorstellungen der Jugendvertreter umzugehen und dazu beizutragen, dass sie in die Gesamtplanungen integriert werden. Aber wie konnten wir den Generalvikar dazu bewegen? Es überraschte mich nicht, eine gewisse Ratlosigkeit bei Klaus Hemmerle festzustellen. Ich schlug schließlich vor, er solle den Generalvikar und mich zu einem gemeinsamen Gespräch zu sich einladen. Ich würde bei diesem Gespräch mitteilen, ich beabsichtigte in den Gremien des ZdK zu beantragen, den Beschluss, den nächsten Katholikentag in Aachen durchzuführen, zu revidieren. Klaus Hemmerle stimmte meinem Vorschlag mit einem verschmitzten Lächeln sofort zu und so kam es zu dem gemeinsamen Gespräch zu dritt. Bei dieser Begegnung dauerte es nur wenige Minuten und Generalvikar Collas erklärte, er werde alles tun, um die Vorstellungen der Jugendvertreter in die Vorbereitung des Katholikentags zu integrieren. Was folgt hieraus? Diese Geschichte ist nicht nur amüsant, sie offenbart auch, dass ein Generalvikar als „alter Ego“ des Bischofs voraussetzt, dass der Bischof über ein entsprechendes „Ego“ verfügt. Dass dies nicht der Fall war, ist kaum zu bestreiten, vielmehr ist das mit ein Grund dafür, dass Klaus Hemmerle diese überragende charismatische, theologisch und philosophisch hervorragende Persönlichkeit war, als die er im Bistum geschätzt und bewundert wurde und als die er auch in dem Gutachten „Westpfahl Spilker Wastl“ festgehalten wird.
Heißt das, Klaus Hemmerle hätte das Amt eines Bischofs besser nicht übernommen? Ganz im Gegenteil! Nicht die Person steht zur Disposition, sondern die Verfassung der Institution. Die Kirche als Volk Gottes benötigt in der gesellschaftlichen Wirklichkeit unserer Welt die kirchliche Institution. Aber die Institution Kirche hat dem Volk Gottes der Kirche zu dienen und nicht umgekehrt. Dass die Kirche sich im Laufe der Geschichte die kirchlichen Institutionen aus den Elementen gebildet hat, die sich in der Gesellschaft entwickelt hatten, ist nachvollziehbar. Aber diese Elemente haben sich im Laufe der Geschichte weiterentwickelt. Die kirchlichen Institutionen hingegen sind weithin in der monarchischen Verfassung verblieben. Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung in einer Person zu verankern ist völlig aus der Zeit gefallen. Ohne Gewaltenteilung sind Institutionen in Politik und Gesellschaft heute nicht mehr denkbar. In der Kirche, die nur in der Zeit zwischen Pfingsten und dem Jüngsten Tag besteht ist das nicht anders.
Wer wie Klaus Hemmerle und ich vor einem halben Jahrhundert an der Vorbereitung und Durchführung der Gemeinsamen Synode in Würzburg beteiligt war, weiß, warum die rechtlichen Fragen der kirchlichen Verfassung – mit Ausnahme des kirchlichen Verwaltungsrechts – dort nicht thematisiert wurden. Es wurde davon ausgegangen, dass die päpstliche Kommission zur Überarbeitung des Kirchenrechts das Konzil sachgerecht umsetzen würde. Erste Entwürfe untermauerten diese Beurteilung. Erst die Neufassung des Kirchenrechts von 1983 belehrte uns eines Besseren. Aber die Würzburger Synode war abgeschlossen. Das Projekt einer konzilsgerechten und die Zeichen der Zeit berücksichtigenden Kirchenverfassung blieb uns also erhalten.
Hier ist nicht der Raum, auf die Zeichen der Zeit einen umfassenden Blick zu werfen. Einige Stichworte mögen das Themenfeld beleuchten: christlich frei statt ideologisch fixiert, personale Freiheit statt patriarchaler Bevormundung, solidarisch statt individualistisch, subsidiär statt zentralistisch, teilhabend statt klerikalistisch, demokratiegemäß statt monarchisch, Nachfolge Christi statt Gefolgschaft, Gewaltenteilung statt Machtmissbrauch. Viele Zeichen der Zeit haben einen christlichen Wurzelgrund!
Der Blick auf das Wirken von Klaus Hemmerle als Bischof von Aachen bedarf einer Ausweitung des Blicks auf die kirchenrechtliche Verfassung der Institution Kirche. Wenn die Aufarbeitung des geistlichen und sexuellen Missbrauchs auch dazu beiträgt, dass die kirchlichen Institutionen gemäß den Zeichen der Zeit angepasst werden, dann können auch zukünftig Personen wie Klaus Hemmerle als geistliche Weggefährten zur Übernahme des Bischofsamtes Ja sagen, ohne dass sie Gefahr laufen, in einer aus der Zeit gefallenen Verfassung der kirchlichen Institution Schaden zu nehmen. Ansonsten müsste man in Zukunft auch von einem Missbrauch der Möglichkeiten der rechtlichen Verfassung der Institution Kirche sprechen, von Möglichkeiten, die nicht mehr zeitgerecht und deshalb fehl am Platz sind. Die Kirche existiert in der Zeit und nicht in der Ewigkeit!
Dr. Dr. h.c. Friedrich Kronenberg (1933) hat Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert. 1960-64 war er hauptamtlicher Leiter der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg, 1966 – 1999 Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) sowie stv. Sekretär der Würzburger Synode 1970 – 1975 und 1983-1990 Mitglied des Deutschen Bundestages. 1982 – 2003 war er Vorsitzender der Kommission für Zeitgeschichte und 2001 – 2009 Vorsitzender des Maximilian-Kolbe-Werkes. Er ist Mitherausgeber von kreuz-und-quer.de
Post scriptum zum Kommentar am 23.Juli 2021:
Seit Erscheinen des Aufsatzes Friedrich Kronenbergs auf „kreuz und quer“ bestätigen die jüngsten Entwicklungen nach der Veröffentlichung der Untersuchungsberichte in Köln (Kanzleien Westpfahl – Spilker – Wastl (WSV), Gercke – Wollschläger), in München (WSV) und in Frankreich (Bericht der Untersuchungskommission unter Richter Jan-Marc Sauvé) seine Auffassung und unterstreichen seinen Zuruf, die rechtlichen Bestimmungen über das Bischofsamt endlich zu reformieren. Nach dem „tria munera Schema“ des Kirchenrechts obliegen dem Bischof der Dienst der Verkündigung (canon 386), der Dienst der Heiligung (canones 387-390) und der Dienst der Leitung (canones 391-400) des kirchlichen Gesetzbuches Corpus Iuris Canonici (CIC) 1983. Der Dienst der Leitung umfasst Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung in der Person des Bischofs.
Das Versagen von (Erz-)Bischöfen im Leitungsamt verdunkelt in gravierender Weise ihren Auftrag zur „Verkündigung und Heiligung“ zu Lasten der Gemeinschaft aller Gläubigen. Das Ansehen der Kirche in der Öffentlichkeit und ihr missionarischer Auftrag leiden schwer. Es ist, um die These Friedrich Kronenbergs nochmals aufzugreifen, aus der Zeit gefallen, die Aufgaben der Leitung in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung in einer Person zusammenzufassen. Ein charismatischer Verkünder muss nicht zugleich ein guter Leiter einer Verwaltung sein. Wenn das Wort des Münchner Kardinalerzbischofs Marx am 27.Januar 2022, er sehe „systemische Ursachen des Missbrauchs“ (Süddeutsche Zeitung 28. Januar 2022, Seiten 1 und 30) nicht Makulatur sein soll, bedarf es neben vielen weiteren Schritten auch, wie von Friedrich Kronenberg intendiert, einer Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen. Dazu gehört auch, dass endlich nach 50 Jahren der Beschluss der Würzburger Synode über die Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit umgesetzt wird.
Kardinalerzbischof Marx führt wörtlich aus: „Mir ist noch klarer geworden, dass die Fragen und Bedürfnisse der Betroffenen im Mittelpunkt stehen sollten, dass es auch ein seelsorgerliches Angebot und eben noch mehr die persönliche Begegnung braucht, sowie ein aktives Zugehen auf Betroffene“ (Süddeutsche Zeitung 28.Januar 2022, S. 30).
Bischof Klaus Hemmerle handelte bereits vor dreißig Jahren vor seinem Tod am 23.01.1994 nach dieser Erkenntnis. Vor allem suchte er die Begegnung mit Opfern und deren Angehörigen, zeigte in seiner persönlichen Zuwendung, in Worten und Taten Empathie mit Opfern und Angehörigen. Diese Tatsachen sind dem Gutachten WSV Aachen zu entnehmen. Die Gutachter haben methodisch zunächst den ihnen vorgelegten Aktenbestand und den Briefwechsel des Bischofs mit Opfern und Angehörigen durchgesehen. In einem zweiten Schritt haben sie ergänzende Gespräche mit einer Reihe von Zeitzeugen geführt und die Gesprächsergebnisse mit den vorgefundenen Dokumenten abgeglichen. In Übereinstimmung der vorgefundenen Dokumente und der Zeugenaussagen kommen sie zu dem Ergebnis, dass der Bischof aktiv auf Opfer zugegangen ist und Ihnen Unterstützung im Hinblick auf therapeutische Hilfe zugesagt hat (WSV Aachen S.279, Typoskript der Ausführungen von Rechtsanwalt Dr. Wastl zu Bischof Hemmerle bei der Vorstellung des WSV-Gutachtens am 12.11.2020 in Aachen). Bei allen zugestandenen Fehlern in der Wahrnehmung von Leitungsaufgaben war dieses Verhalten von Bischof Klaus Hemmerle ein wichtiger und vorbildlicher Schritt der Aufarbeitung sexueller Gewalt kirchlicher Amtsträger gegenüber Kindern und Jugendlichen. Bischof Klaus Hemmerle hatte es nicht leicht mit dem „Apparat“. Manche Schilderungen des ehemaligen Münchner Generalvikars Peter Beer haben mich sehr an Bischof Klaus Hemmerle erinnert. (https://www.katholisch.de/artikel/32882-beer-aufgabe-als-muenchner-generalvikar-hat-mich-krank-gemacht;https://www.zeit.de/2022/05/generalvikar-peter-beer-erzbistum-muenchen-katholische-kirche)
Angesichts des am 20.1.2022 veröffentlichten Gutachtens zu den Missbrauchsfällen und Vertuschungstatbeständen im Erzbistum München und Freising können Klarsicht und Entschiedenheit von Bischof Dr. Klaus Hemmerle vor rund 30 Jahren nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die dem Beitrag vorangestellte Gesamtbewertung Hemmerles aus dem Aachener Gutachten ist durch den Live-Kommentar des Gutachters Dr. Ulrich Wastl am 12.11.2020 in Aachen zu ergänzen:
“… als diese Vorgänge dann zu Beginn der 90er Jahre offenkundig wurden, war es Bischof Dr. Hemmerle, der zu den Opfern fuhr, und zwar nicht, um die Kirche zu retten, den Täter zu schützen. Nein, er fuhr dorthin. Er bot den Opfern Therapie an, natürlich die Kostenerstattung für die Therapie. Er führte mit den Opfern einen interessanten Briefwechsel, den wir lesen konnten, der von seelsorgerischer Zuwendung geprägt ist. Meine Damen und Herren, so etwas haben wir – ich glaube, ich kann es für alle sagen – ansonsten nicht gelesen.
Es kommt noch etwas hinzu. Gegenüber einem Zeitzeugen sagte er wohl zu dieser Zeit: “Auf die Kirche kommt Schlimmstes zu (er meinte den sexuellen Missbrauch). Wir müssen handeln.” Und er war der Erste, der es auch noch geschafft hat oder jedenfalls mitgetragen hat, dass in der Personalkonferenz zu Beginn der 1990er, Mitte der 1990er Jahre ein Psychiater den anwesenden Klerikern berichtete, was Sexualität ist aus Psychiatersicht, was sexueller Missbrauch bedeutet für die Opfer, und wir haben den Eindruck, dass es sehr gut gewesen wäre, wenn Bischof Dr. Hemmerle dann nicht im Januar 1994 verstorben wäre, sondern das fortgeführt hätte, was er hier begonnen hat.
Leider haben wir dann im Bistum sehr lange darauf gewartet, dass adäquate Maßnahmen und ein adäquates Zugehen auf Opfer möglich wird und man sich auch in dieser Deutlichkeit, ich betone schon 1993/94, mit Fragen der Sexualität beschäftigt und mit den Opfern und den Leiden, die aus psychiatrischer Sicht den Opfern zugefügt werden.” (Transkript des Videos https://vimeo.com/475793137 – Minute 53:50 bis 56:16)
Friedrich Kronenberg danke ich sehr für diese differenzierte Darstellung der Person und des Wirkens Bischof Hemmerles.
Klaus Hemmerle war kein Regent, der ex cathedra episcopi entschied. Er wollte im Dialog überzeugen! Diese Grundhaltung war seine große Stärke und zugleich in der Leitung der juristischen Körperschaft Bistum in manchen Situationen problematisch. Hier stimme ich der kritischen Analyse Friedrich Kronenbergs zu den Anforderungen an das Bischofsamt zu. Neben der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung obliegt dem Bischof vor allem die geistliche Leitung des Bistums. Alle Funktionen des Bischofsamtes in einer Person zu vereinen, ist, um mit seinen Worten zu sprechen, aus der Zeit gefallen. Klaus Hemmerle hatte seine überragende Stärke in der geistlichen Leitung und Begleitung des Bistums. Zusätzlich war er durch überdiözesane Aufgaben zeitlich sehr eingebunden. In der Verwaltung verließ er sich auf Mitarbeiter und war damit leider des Öfteren „verlassen“. Einige Aspekte sind dem WSV-Gutachten zu entnehmen.
Zu Recht hat Friedrich Kronenberg auf die von Klaus Hemmerle mitgeprägte Würzburger Synode und die mit ihr verbundenen und enttäuschten Hoffnungen verwiesen. Große Hoffnungen verbanden sich z.B. mit dem Synodenbeschluss zu einer „Verwaltungsgerichtsordnung“, den die deutschen Bischöfe nach Beendigung der Synode 1975 in Rom vorgelegt haben und der bis heute auf seine Umsetzung wartet. Ich teile die Resignation Friedrich Kronenbergs, dass durch den Corpus Juris Canonici 1983 nach dem 2.Vaticanum eine mit großen Erwartungen begonnene Entwicklung und Chancen zu einer rechtlichen Neugestaltung der Ämter des Pfarrers und des Bischofs abgeschnitten wurden.
Klaus Hemmerle übernahm als Bischof nach Aufdeckung eines schrecklichen Missbrauchsgeschehens Anfang der neunziger Jahre ohne Ausreden die Verantwortung für Fehler in der Personalverwaltung, die teilweise vor seiner Amtszeit gemacht wurden. Hemmerle ist auf Opfer und Angehörige zugegangen, hörte sie an, führte mit ihnen Gespräche und Korrespondenz, sagte seelsorgliche und psychotherapeutische Hilfen zu. Materielle Hilfen finanzierte er nach meiner Kenntnis sub sigillo aus eigenem Gehalt. Hemmerle war zutiefst von den Berichten der Opfer und ihrer Angehörigen erschüttert. Wichtig war es ihm, Reformen in der Personalverwaltung und Priesterausbildung einzuleiten. Bereits auf der Rückfahrt von einem Gespräch mit betroffenen Angehörigen missbrauchter Kinder und Jugendlicher skizzierte er mir gegenüber Konsequenzen aus diesem Gespräch und der Kette der Fehlentscheidungen seit 1969. Ein Psychiater wurde zur Personalkonferenz hinzugezogen, um die Personalverantwortlichen über Pädophilie aus fachlicher Sicht zu informieren. Hemmerle versuchte in der sehr kurzen ihm noch verbliebenen Lebens- und Amtszeit (+23.01.1994), seine Konsequenzen zu erkannten Fehlern im Einzelfall und im System umzusetzen. Anfang der neunziger Jahre zeigte Klaus Hemmerle aus meiner Sicht damit Reaktionen auf Missbrauchstatbestände, die nach 2015 nicht bei allen Bischöfen zum Thema Missbrauch selbst unter Berücksichtigung des heutigen Erkenntnisstandes festzustellen sind.
Friedrich Kronenberg erwähnt Generalvikar Collas. Der von ihm zitierte Spitzname zielte auf ein machtbewusstes Auftreten des Generalvikars. Das geschilderte Beispiel zeigt exemplarisch einen Versuch Hemmerles, auf seinen Generalvikar einzuwirken. Zwei völlig unterschiedliche Charaktere trafen aufeinander. Hemmerle suchte subtile Wege, zu einem guten Ergebnis zu kommen. Kardinal Lehmann beschrieb Klaus Hemmerle zutreffend: „Keine Spur von Herrschaft und Machtgelüsten, Versöhnung war ihm wichtiger als Erfolg“ (Predigt im Trauergottesdienst am 29.01.1994 im Aachener Dom). Die Persönlichkeit des Generalvikars wird durch den Spitznamen unvollständig abgebildet und überzeichnet, er hatte z.B. große Stärken im sozialkaritativen Bereich in der Hilfe für Einzelpersonen, Familien und Alleinerziehende in Not.