Walter Osztovics beobachtet wie die Gesundheitsversorgung zum Daten-Business wird und prognostiziert, dass die Corona-Krise das Vordringen von Big Data in der Medizin weiter beschleunigen wird.
Den folgenden Text können Sie hier ausdrucken.
Walter Osztovics
Der Mensch ist die Summe seiner Daten
Anfangs war Thomas Krüger ziemlich entsetzt, als die Coronakrise über das Land hereinbrach und die Menschen hinter Gesichtsmasken und verschlossenen Türen in Deckung gingen. Krüger ist Diabetiker und leidet zudem an Herzrhythmusstörungen, weshalb er vor dem Lockdown sehr häufig seinen Arzt aufsuchte und in der Apotheke um die Ecke als umsatzstarker Stammkunde geführt wurde. Jetzt aber war er plötzlich Angehöriger einer gefährdeten Gruppe, der volle Wartezimmer ebenso meiden musste wie volle Läden. Schon die Fahrt mit dem Bus wäre ein ziemliches Risiko.
Wie sich herausstellte, war und ist das alles aber gar nicht nötig. Der Arzt hat auf Fernbehandlung umgestellt, meldet sich einmal in der Woche per Videokonferenz, führt ein Online-Patientengespräch und stellte danach Verschreibungen für Krügers Medikamente aus, die ebenfalls online direkt an die Apotheke gehen. Das Gespräch ist zwar vertraulich, trotzdem hört jemand mit, nämlich Alexa (ja genau, die sprechende Computerassistentin), die alles protokolliert und an einen Algorithmus weiterleitet, der aus dem Geplauder die diagnostisch relevanten Informationen herausfiltert.
Von seinem Arzt hat Thomas Krüger auch erfahren, dass er vollends in das seit kurzem angelaufene Fernbetreuungs-Programm überwechseln könnte. Da erhält er dann eine Art Fitness-Armband, das laufend seinen Puls misst und die Daten an den Computer des Arztes überträgt. Das gleiche geschieht mit den Glukosewerten, die Krüger ohnehin täglich misst. Lediglich den Blutdruck muss er händisch in ein Online-Formular eintippen, zusammen mit ein paar allgemeinen Angaben über seinen körperlichen Zustand. Sobald einer der erhobenen Werte Auffälligkeiten zeigt, verständigt der Computer den Arzt, der dann entscheidet, ob ein Anruf beim Patienten nötig ist oder ob er ihm eine Krankenschwester vorbeischickt.
Digitale Helfer wie die beschriebenen gehören in der Gesundheitsversorgung längst zur Realität. Fernüberwachung bewährt sich nicht nur bei Diabetes und Herzschwäche, sie hilft auch Asthmatikern und Allergikern, sogar bei Krebspatienten wird sie eingesetzt. Mit der Corona-Krise rückte aber eine Technologie, die bisher nur Mediziner und chronisch Kranke näher interessierte, ins allgemeine Interesse.
Ganz Europa diskutiert derzeit Tracking-Apps. Aber was wäre, wenn nicht nur die Bewegungen, sondern gleich die Gesundheitsdaten der ganzen Bevölkerung automatisch erhoben und zentral erfasst würden? Wäre das nicht eine Möglichkeit, den neuerlichen Ausbruch der Pandemie auch ohne Lockdown zu verhindern?
Spielen wir das Szenario durch: Alle Menschen im Land erhalten eines dieser tragbaren Mini-Messgeräte, die ganz harmlos „Wearables“ heißen und manchmal aussehen wie Fitnessarmbänder, aber auch in T-Shirts und Armbanduhren eingebaut sein können, ans Ohrläppchen geknipst oder als Pflaster aufgeklebt werden. Die messen den Puls, die Körpertemperatur und die Atemfrequenz, sie können auch registrieren, ob jemand oft hustet oder sogar die Sauerstoffsättigung der Atemluft erheben. Die Daten werden vom Computer des Gesundheitsministeriums ausgewertet, wer Auffälligkeiten zeigt, erhält einen Anruf vom Amtsarzt und wird allenfalls gebeten (verpflichtet?), sich testen zu lassen.
Ein Alptraum der totalen Überwachung, gewiss. Aber wenn die Alternativen dazu lauten, entweder ein Leben in Isolation und Social Distancing zu führen oder permanent von der Angst der Ansteckung begleitet zu werden – würden dann nicht viele lieber akzeptieren, dass ihnen die Behörden dauernd über die Schulter schauen? Ließe sich nicht sogar eine ethische Verpflichtung zur ständigen Kontrolle des eigenen Corona-Status argumentieren? Schließlich gefährdet jemand das Leben anderer, wenn er mit einer Infektion sorglos umgeht.
Es ist wichtig, solche Fragen jetzt zu diskutieren, wo das Dilemma zwischen Freiheit und Sicherheit, um das es hier letztlich geht, besonders deutlich sichtbar wird. Denn auch im Gesundheitswesen gilt inzwischen: Der Mensch ist nichts anderes als ein Konglomerat von Daten, die sich messen und auswerten lassen, und zwar dank der erwähnten Wearables rund um die Uhr. Viele Menschen mögen das, sie können dann am Abend nachlesen, wie viele Schritte sie zurückgelegt haben, wie fit sie sind oder wie schnell ihr Puls nach dem Treppensteigen wieder auf Normalwert absinkt.
Wahrscheinlich wird die Gruppe der besonders Gesundheitsbewussten auch freudig zugreifen, wenn neue Geräte zusätzlich Blut, Schweiß, Harn und Lymphflüssigkeit analysieren. Schließlich bringt es eine Menge an Komfort, wenn die regelmäßige Vorsorgeuntersuchung gar nicht mehr nötig ist, weil sie sozusagen laufend automatisch durchgeführt wird. Die Kehrseite der Medaille wird spätestens dann sichtbar, wenn mir meine Bank erklärt, dass ich den gewünschten Kredit erst erhalte, sobald ich – ganz freiwillig und selbstbestimmt – diese Gesundheitsdaten vorlege. Oder wenn mir die Krankenversicherung einen günstigeren Tarif anbietet, sofern ich die Dauerüberwachung durch Wearables akzeptiere.
Aber selbst wenn strenge Gesetze so etwas verbieten, bleibt immer noch die anonyme Auswertung. Die Hersteller der Wearables und der Apps lesen nämlich mit (Sie haben doch dieses unauffällige Kästchen zur Zustimmung ganz unten im Kaufvertrag angekreuzt, erinnern Sie sich…). Diese Big Data Algorithmen im eigentlichen Sinn interessieren sich nicht für den einzelnen Menschen, der kann ruhig unerkannt bleiben. Vielmehr geht es darum, Milliarden von Gesundheitsdaten von 80 Millionen Bundesbürgern auszuwerten. Daraus kann ungeheuer viel an statistischem Wissen über den Gesundheitszustand des Landes abgelesen werden, über regionale Unterschiede, Jahresverläufe, Gefahrenpotenziale – wertvolle Informationen für die Planung von Kassenstellen, Spitalskapazitäten, Medikamentenvorräten und noch mehr.
Das Prädikat „wertvoll“ gilt auch im marktwirtschaftlichen Sinn: Solche Daten werden von Pharmakonzernen, Spitalsbetreibern oder Herstellern von Heilbehelfen gern gekauft, weil sie zeigen, wo sich künftige Investitionen lohnen dürften.
Darin liegt nichts Verwerfliches, klar. Aber es sollte uns stören, dass diese Geschäfte völlig intransparent ablaufen, dass wir nichts über die Verwendung unserer Daten erfahren, dass es keine ernsthafte Diskussion über das Für und Wider all dieser Anwendungen gibt. Big Data im Gesundheitswesen wird sich nicht aufhalten lassen, dafür sind die möglichen Vorteile zu groß. Umso wichtiger wird es sein, dieses Milliardenbusiness durch kluge Regelung in Bahnen zu lenken, sodass die Bürger und Bürgerinnen (vielleicht eher: die Patienten und Patientinnen) tatsächlich die Nutznießer der Vorteile sind – und nicht nur die ungefragten Gratislieferanten der Daten.
Walter Osztovics (1965) ist Public Affairs Consultant beim Beratungsunternehmen Kovar & Partners in Wien und Co-Autor der jährlich erscheinenden Arena Analyse. Diese Studie analysiert bevorstehende politische und gesellschaftliche Entwicklungen und beruht auf Beiträge und Tiefeninterviews von rund 50 Expertinnen und Experten. Osztovics studierte Politikwissenschaften und Publizistik an der Universität Wien und arbeitete jahrelang als Journalist bei den österreichischen Zeitungen Kurier, Format und Wochenpresse sowie bei der Wirtschaftswoche in Düsseldorf.