Ulrich Hemel benennt Sensibilität für das Heilige mit dem Ziel religiöser Kompetenz als wesentlichen Beitrag zur Dialogfähigkeit in einer offenen Gesellschaft, die die Vielfalt religiösen Wurzeln und Beheimatungen respektiert.
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Ulrich Hemel
Religiöse Kompetenz und Sensibilität für das Heilige
Ziele religiöser Erziehung im 21. Jahrhundert
Wozu religiös erziehen? Diese Frage beschäftigt Menschen nach wie vor, und besonders rund um die Geburt eines Kindes. Eine Antwort auf die Frage ist aber in Zeiten großer Krisen gerade der christlichen Kirchen nicht leichter geworden. In volkskirchlichen Zeiten, so wie sie bis vor etwa 50 Jahren üblich waren, stellten sich solche Fragen anders. Denn es war schlicht und einfach normal, kirchlich zu heiraten, Kinder als Säuglinge zu taufen, sie am Religionsunterricht teilnehmen zu lassen und zur Erstkommunion vorzubereiten. Die Teilhabe am kirchlichen Leben war dennoch von Familie zu Familie höchst unterschiedlich. Mischehen zwischen katholischen und protestantischen Ehepartnern standen unter Verdacht. Alleinerziehende wurden stigmatisiert, uneheliche Kinder ebenso.
Meine ersten beiden Kinder wurden 1980 und 1983 geboren. Ich war beim ersten Kind mit 24 Jahren ein eher junger Vater. Seit 1981 war ich am Lehrstuhl für Religionspädagogik und Katechetik an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Regensburg tätig und promovierte dort im Sommer 19i3. Für meine Habilitation wollte ich mich mit der Frage beschäftigen, welche Ziele religiöse Erziehung denn verfolgen solle.
So wälzte ich die einschlägige Literatur und wunderte mich. Denn zahlreiche Beiträge atmeten noch den Geist einer vergangenen Zeit. Einige wenige vertraten das hehre Ziel des „Glaubens“ als Ziel religiöser Erziehung. Theologisch ist dies kein legitimes Ziel, denn wenn Glauben ein Geschenk Gottes ist, kann er nicht durch noch so großartige Erziehungskunst herbeigeführt oder hergestellt werden. Trotzdem ist es richtig und verständlich, sich als überzeugter Christ zu wünschen, dass die Weitergabe des Glaubens im Sinn eines kontinuierlichen Tradierungsprozesses gelingt. Nur: Wunschvorstellungen und Hoffnungen von Erziehenden sind das eine, erreichbare Ziele das andere.
Andere Autoren erörterten „christliche Mündigkeit“ oder „religiöse Reife“ als Ziel. Im Hintergrund stand zum einen die Rezeption psychologischer Erkenntnisse, so dass eben reife und unreife oder gar pathologische Formen religiöser Erziehung zur Sprache gebracht wurden. Schwierig an einem solchen Zielhorizont war allerdings zweierlei: Denn zum einen sind Reife und Reifung stärker ein Ergebnis biologischer Reifungsprozesse als erzieherischer Hinwendung. Zum anderen handelt es sich im pädagogischen Kontext immer wieder um wertende Begriffe, so dass die „pädagogische Asymmetrie“ genau dann durchschlägt, wenn Eltern, Lehrerinnen oder Lehre in einer gegebenen Situation „definieren“, was reifes oder unreifes Verhalten genau sein soll.
In meinem Buch „Ziele religiöser Erziehung“ habe ich 1988 dann den Begriff der „religiösen Kompetenz“ eingeführt, der Urteils- und Entscheidungsfähigkeit im Umgang mit der eigenen Religiosität. Dazu entwickelte ich ein Modell mit verschiedenen Dimensionen von Religiosität, denen eigene Ziele zugeordnet waren: Religiöse Sprach- und Dialogfähigkeit in der kommunikativen Dimension. religiöse Bildung in der kognitiven Dimension, religiöse Handlungsfähigkeit in der pragmatischen, und religiöse Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit, aber auch Expressivität in der affektiv-emotionalen Dimension. Dabei galt es, die Steuerungsfähigkeit der Person ausreichend zu berücksichtigen, denn Menschen sind ja gewissermaßen Kapitäne und Kapitäninnen des eigenen Lebensschiffs.
Der Gedanke der religiösen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung kann bis heute ein Leitmotiv sinnvoller religiöser Erziehung sein, ob in der Familie, der Gemeinde oder der Schule. Da ab etwa 2000/2005 immer stärker der Gedanke der Kompetenzorientierung im schulischen Bildungsprozess zur Geltung kam, haben viele Religionspädagoginnen und Religionspädagogen auf mein damals schon über 15 Jahre alte Konzept religiöser Kompetenz zurückgegriffen. Dabei wurde manchmal der Unterschied zwischen Kompetenz im Singular und Kompetenzen im Plural übersehen. Religiöse Kompetenz im Singular achtete auf die Einzigartigkeit der Selbststeuerung jeder menschlichen Person. Bei den Kompetenzen im Plural kam es manchmal vor, dass mit dem Begriff der „Bildungsstandards“ eine pädagogische Normierung ins Spiel kam, die dem sehr speziellen Geschehen religiöser Erziehung kaum gerecht wird.
Religiöse Erziehung- und damit komme ich zur Gegenwart des Jahres 2020- vollzieht sich in einer markanten Weise in der Dialektik von Selbstbildung und Erziehung. Menschen suchen von Haus aus nach Beziehung und Zugehörigkeit, aber auch nach Sinn und Orientierung. Sie stehen dabei in einer Generationenkette, deren Bedeutung heute fast generell unterschätzt wird.
Denn Menschen haben eine Lebensgeschichte, aus der sie nicht aussteigen können. So wie es beispielsweise Familien mit einer ungebrochenen christlichen Tradition gibt, so gibt es religiös unmusikalische Familien, in denen Religion kaum mehr eine erkennbare Rolle spielt. Häufig ist aber vor allem ein Muster religiöser Vielfalt. Da ist womöglich die Mutter religiös geprägt, der Vater weniger- oder umgekehrt. Da gibt es unterschiedliche religiöse Familientraditionen: katholisch, evangelisch, aber auch muslimisch, atheistisch, orthodox oder wieder anders. Da gibt es Großeltern, die einen ganz anderen Stil religiöser Verbundenheit leben als die eigenen Eltern. Und da kann es Geschwister oder Patchwork-Familienmitglieder geben, die ihrerseits andere Akzente setzen.
Dennoch gehört religiöse oder bewusst nicht-religiöse Identität bis heute zu den Grundpfeilern jeder Persönlichkeit. Wer wir sind, wohin wir gehen und was wir tun sollen, das sind bleibende Fragen in jedem individuellen Leben. Es gibt eine Art „Weltdeutungszwang“: wir können Welt nicht „nicht deuten“. Das Sinnangebot von Religion bleibt in diesem Zusammenhang trotz aller Kirchen- und Institutionenkrise von großer Bedeutung. Denn es verweist auf einen Zusammenhang des individuellen Lebens mit der Ganzheit menschlicher Welterfahrung, vom Anfang des Lebens bis zum Leben nach dem Tod.
Noch weiter gehend gilt, dass sich gerade unsere plurale, vielschichtige Gesellschaft mit dem Thema des offenen Identitätslernens sehr schwertut. Wir sind als Gesellschaft gut darin, „Professionalitätslernen“ zu organisieren, also fachliche Kompetenzen zu vermitteln, die in ein Berufsbild münden und die eine klare Antwort auf die Frage erlauben: „Was kannst Du?“ – Viel schwerer ist die Antwort auf die Frage: „Wer bist Du?“ Denn hier geht es um die Selbstdefinition einer Person, um ihre Besonderheit und Einzigartigkeit.
Zu diesem offenen Identitätslernen kann gute religiöse Erziehung einen wertvollen Beitrag leisten. Sie wird und muss nicht-religiöse Optionen der Lebensgestaltung respektieren. Sie darf aber auch Achtung einfordern für die Dimension des Geheimnisses, für eine Offenheit mit Blick auf spirituelle Erfahrung und für die Gottesfrage. Das Heilige ist aus dem Leben im 21.Jahrhundert nicht verschwunden. Es muss aber neu entdeckt, erfahren und zur Sprache gebracht werden.
Religiöse Erziehung mit dem Ziel religiöser Kompetenz ist in diesem Kontext ein wesentlicher Beitrag zu jener offenen Diskurs- und Dialogfähigkeit, die eine demokratische Gesellschaft auszeichnen sollte. Sie ist darüber hinaus- in der Vielfalt ihrer religiösen Wurzeln und Beheimatungen- ein Akt der Anerkennung menschlicher Würde und Einzigartigkeit.
Denn die diakonische Hilfe zur Gestaltung des eigenen Lebensweges, der Grundimpuls pädagogischen Handelns, umfasst auch die Dimension der religiösen Zugehörigkeit und der Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos. Die Antwort auf diese Frage bleibt trotz allen technischen Fortschritts eine je höchst persönliche. Für diese höchstpersönliche Antwort sensibel zu werden, das ist ein wesentliches Ziel religiöser Erziehung.
Ulrich Hemel (1956), ist Professor für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Regensburg. Nach Tätigkeiten als Unternehmensberater, Manager und Unternehmer ist er seit 2017 Bundesvorsitzender des Bundes Katholischer Unternehmer und seit 2018 Direktor des Weltethos-Instituts in Tübingen.