Prof. Dr. Julia Helmke
Die Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache hat „Zeitenwende“ als „Wort des Jahres 2022“ gewählt. Auswahlkriterium war, dass dieser Begriff das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in Deutschland sprachlich besonders bestimmt habe. Anders als manche „Jahres-Wörter“ (nicht zu verwechseln mit dem im ersten Monat des Folgejahres gekürten menschenrechtlich konnotierten „Unwort des Jahres“) hat sich das Datum 24. Februar 2022 in das kollektive Gedächtnis eingebrannt – ebenso wie der Begriff der Zeitenwende, mit dem Bundeskanzler Olaf Scholz drei Tage später in der Regierungserklärung vor dem an einem Sonntag zusammengerufenen Parlament den russischen Überfall auf die Ukraine zu deuten und einzuordnen versuchte.
Die Erschütterung war damals spürbar und sie ist seitdem geblieben. Mit etwas mehr Abstand ist vielen deutlich geworden, dass die sogenannten „Zeichen der Zeit“ schon vielfach vor dem vom Bundespräsidenten mit einem weiteren Begriff als „Epochenbruch“ deklarierten „turning point“ her sichtbar waren. Die bange Frage, welche Zeitenwenden in Zukunft noch auf Politik und Gesellschaft warten, prägt unsere Gegenwart. Mindestens bei mir hat der Begriff der Zeitenwende das Nachdenken über die Fragilität und Fragmentarität von Zeit, über die Endlichkeit alles Zeitlichen befördert und dabei viele sicher geglaubte Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt. Dabei müsste mir dies als Christin doch nur zu vertraut sein: An Weihnachten feiern wir ebenfalls eine (die!) Zeitenwende und vergegenwärtigen uns, dass alles Vertraute und sicher Geglaubte anfällig für das Gegenteil ist.
Im Weihnachtsevangelium des Evangelisten Lukas lesen wir „Es begab sich zu der Zeit“ – und schon denken wir: Es war einmal. Irgendwann in einer längst vergangenen Zeit… Für das jüdisch-christliche Zeitverständnis gibt es jedoch keine abgeschlossene Vergangenheit. Gott ist ein Gott der Gegenwart. „Ich werde sein, der ich sein werde“ – so lautet die einzige Übersetzung des Gottesnamen (2. Mose 3,14). An Weihnachten feiern wir mehr als die Erinnerung, dass Gott einst vor über 2000 Jahren den Menschen so nahekommen wollte, dass er in einem Kind geboren worden ist. Wir feiern jedes Jahr neu, dass Gott Mensch wird und wir uns dadurch (wieder) erinnern dürfen Menschen zu werden. Dieses Wunder ist im wahren Sinne ökumenisch. Wir glauben und feiern diese Glaubenswahrheit quer durch alle Konfessionen im westlichen und östlichen Christentum, vom hohen Norden bis in den tiefen Süden.
Die Zeitgeschichte wird seitdem und trotz aller Säkularisierung immer noch in eine Zeit vor und nach Christi Geburt eingeteilt. Christus, das hat der Evangelist Lukas deutlich gemacht, ist die Mitte der Zeit. Alles läuft auf ihn hin an Verheißungen und an Sehnsucht. Er ist Urbild und Vorbild alles Mensch-Seins. Sein Leben und Wirken bewegt Menschen bis heute und bleibt aktuell. Wenn man sich einmal vorstellt: Der allmächtig geglaubte Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde, wird geboren am Rand der Gesellschaft. Wahrscheinlich war es nicht ausreichend warm, es gab nicht genug zu essen und die Zukunft mehr als bedroht und ungewiss. Gott zeigt sich uns genau dort. Man kann das eigentlich nicht fassen und so wird Weihnachten oft kitschig und laut. Es gibt viel zu viel zu essen und alle wollen es sich endlich einmal gut gehen lassen und befürchten tief in sich, dass ihre Sehnsucht nach Heil-Sein, nach einem, der alles zum Besseren wendet, doch wieder enttäuscht wird und die erhoffte positive Zeitenwende an Weihnachten nicht eintritt. Dabei ist sie bereits geschehen. Immer wieder und jedes Jahr neu. Der schlesische Barockdichter Angelus Silesius hat es einmal so gefasst: „Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren“.
Es ist so schrecklich, was Menschen in der Ukraine und an so vielen anderen Orten dieser Welt auch an Weihnachten erdulden müssen. Es ist vielfach zum Fürchten, wenn wir an die eigene Zukunft und die Zukunft unserer Kinder denken. Weihnachten stellt uns inmitten dieser Welt eine andere Perspektive vor: „Fürchtet Euch nicht. Siehe, ich verkündige Euch große Freude“ (Lukas 2,10). Was für eine Wende! In und trotz aller Zeitenwende(n) gilt, was der Psalmbeter vor 3000 Jahren gesungen und gebetet hat: „Meine Zeit steht in Deinen Händen“ (Psalm 31,1) und in diesem Sinne: Frohe und gesegnete Weihnachten!
Prof. Dr. Julia Helmke (Jg. 1969) ist evangelische Pfarrerin und Filmpublizistin. Sie arbeitet zurzeit als Oberkirchenrätin für Theologie, Gottesdienst, Kirchenmusik und Geistliches Leben in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Von 2015-März 2017 war sie als Referatsleiterin im Bundespräsidialamt tätig und hat im Anschluss bis Ende 2021 den Deutschen Evangelischen Kirchentag als Generalsekretärin geleitet. Sie unterrichtet in ihrer Honorarprofessur Christliche Publizistik an der FAU Erlangen.