Dr. Stephan Eisel
Auch an diesem Novembermorgen 2022 beginnt für Yussuf* ein Tag staatlich verordneter Perspektivlosigkeit. Seine Geschichte verdeutlicht anschaulich, in welcher Sackgasse sich das Ausländerrecht in Deutschland steckt, weil es hinter allgemeinen Rechtsformeln den Menschen aus dem Blick verloren hat.
Yussuf ist 1992 im ländlichen Afrika geboren. 2011 brach in seinem Heimatland ein Bürgerkrieg aus. Vor den ihn auch persönlich bedrohenden Rivalitäten gegnerischer Milizen floh er 2014 aus seiner Heimat über die Balkanroute nach Deutschland. Schlepper hatten ihm unterwegs die Ausweispapiere abgenommen. Yussuf stellte in Deutschland einen Asylantrag, der 2017 abgelehnt wurde. Die Dokumentation der Anhörung durch Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vermittelt den Eindruck, dass der eingesetzte Übersetzer Yussufs Angaben nur sehr verkürzt und unzureichend wiedergegeben hat.
Wer als erfahrener deutscher Staatsbürger Erfahrungen mit Behördengängen gesammelt hat, kann sich vorstellen, wie sich jemand ohne Deutschkenntnisse bei dieser Erstbegegnung mit der deutschen Bürokratie gefühlt haben muss: Viele Papiere in einer kaum verständlichen Amtssprache (wobei Übersetzungen die Verständlichkeit nicht erhöhen) und das alles ohne Begleitung eines mit dem Verfahren Vertrauten.
Die Möglichkeit, gegen einen abgelehnten Asylbescheid Widerspruch einzulegen, war Yussuf zwar im Kleingedruckten mitgeteilt worden, aber wie er das bewerkstelligen sollte, war ihm nicht klar: Fristen verstrichen, der Verwaltungsvorgang wurde in typisch deutscher Bürokratenmanier abgeschlossen. Als abgelehnter Asylbewerber hätte Yussuf jetzt abgeschoben werden müssen. Ohne Pass war und ist das aber nicht möglich. So erhielt Yussuf einen Duldungsstatus, der seit fast acht Jahren alle drei Monate verlängert wird.
Als abgelehnter Asylbewerber ist Yussuf staatlicherseits zum Nichtstun verdammt. Er darf weder arbeiten noch ist es ihm gestattet, staatliche Integrationskurse zu besuchen. Er erhält Sozialleistungen, ist aber für Integrationsmaßnahmen aus den Augen und aus dem Sinn. Yussuf hat sich damit nicht abgefunden, sondern Deutsch gelernt, indem er regelmäßig Sprachkurse der Aktion „Neue Nachbarn“ des Kölner Erzbistums besuchte. Die Kirche finanziert solche Kurse für Flüchtlinge, die der Staat von seinen Maßnahmen aussperrt.
Yussuf bemühte sich auch von Anfang darum, seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit selbst zu bestreiten. Er absolvierte er eine dreimonatige „berufliche Erprobung“ bei einem Tischlermeister, und war dann mehrere Monate sozialversicherungspflichtig bei einem Gastronomiebetrieb beschäftigt. Corona-bedingt konnte dieses Beschäftigungsverhältnis nicht fortgesetzt werden. Daraufhin absolvierte Yussuf eine Beschäftigung als Einstiegsqualifizierer bei einem Metallbaubetrieb. Im Zeugnis des Betriebes heißt es: „Er zeigte ein hohes Maß an Einsatz bei der Erledigung seiner Aufgaben. Er konnte dabei sowohl mit Geschick, als auch mit Ausdauer überzeugen. Darüber hinaus zeichnen ihn Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft, hohe Belastbarkeit, Teamorientiertheit und Freundlichkeit gegenüber Vorgesetzten und Mitarbeitern aus.“
Ursprünglich zeigte sich das Ausländeramt von Yussufs Initiative beeindruckt und hatte 2018 das eigentlich für abgelehnte Asylbewerber geltende Beschäftigungsverbot aufgehoben. Mit dem Wechsel des zuständigen Sachbearbeiters setzte die Behörde jedoch im Sommer 2020 das Beschäftigungsverbot wieder in Kraft.
Dabei berief sich das Ausländeramt auf den Anfang 2020 neugefassten Artikel 60a des Aufenthaltsgesetzes, wo es in Abs 6 heißt: „Einem Ausländer, der eine Duldung besitzt, darf die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht erlaubt werden, wenn er sich in das Inland begeben hat, um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu erlangen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei ihm aus Gründen, die er selbst zu vertreten hat, nicht vollzogen werden können“.
Es ist allerdings widersinnig, jemanden, der wie Yussuf sozialversicherungspflichtig gearbeitet und Steuern gezahlt hat und nun vom Staat daran gehindert wird, vorzuwerfen, er sei in Deutschland, „um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu erlangen“.
Mit dem vom Bundeskabinett am 28. September 2022 in den Bundestag eingebrachten „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts“ sollen nun geduldete Ausländer, die sich zum 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland aufhalten, zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen und keine Straftaten begangen haben, ein einjähriges Chancen-Aufenthaltsrecht erhalten. In dieser Zeit sollen sie den Nachweis der eigenen Lebensunterhaltssicherung führen können. Damit können sie die Voraussetzungen für die Überführung der Duldung in ein Bleiberecht schaffen. Yussuf kann schon jetzt drei konkrete Stellenagebote vorlegen und würde diese Voraussetzung sicher erfüllen können.
Als weitere Bedingungen für ein solches Bleiberecht sind ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache und ein Identitätsnachweis vorgesehen. Für ersteres sollen endlich staatliche Sprachkurse und –prüfungen auch für geduldete Ausländer geöffnet werden. Für den Identitätsnachweis sieht der Gesetzentwurf vor, dass anstelle eines Passes „auch andere zuverlässige Dokumente oder Erklärungen des Staatsangehörigkeitsstaats herangezogen werden“ können. Auch davon wäre Yussuf unmittelbar betroffen. Die Botschaft seines Heimatlandes verweigert ihm nämlich die Ausstellung eines Passes, obwohl er den Auszug aus dem Geburtsregister und einen Staatsangehörigkeitsnachweis vorgelegt hat.
So würde das vorgeschlagene Chancen-Aufenthaltsrecht für Yussuf einen für alle untragbare Zustand beenden: Jemand, der seit acht Jahren in Deutschland lebt und seinen eigen eigenen Lebensunterhalt bestreiten kann und will, dürfte endlich arbeiten. Seine aus eigenem Antrieb erlernten Sprachkenntnisse könnten staatlich anerkannt werden und er würde gültige Identitätspapiere erhalten können.
Die Union sollte sich diesem Vorschlag der Ampel nicht verweigern. Subsidiarität als urchristliches Prinzip setzt auf die Eigenverantwortung der Menschen. Sie daran zu hindern, durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen und stattdessen in die staatliche Unterstützung zu zwingen, steht dazu in einem fundamentalen Widerspruch.
Unser Ausländerrecht muss endlich denjenigen Türen öffnen, die lange bei uns leben, für sich selbst sorgen und darüber hinaus als Steuerzahler zum Gemeinwohl beitragen wollen. Dabei führt die einseitige Fixierung auf Einwanderung von „Fachkräften“ (also Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung) in eine Sackgasse, denn Arbeitskräftemangel herrscht z.B. auch bei Servicekräften im Hotel- und Gaststättengewerbe. Außerdem lassen sich auch die beruflichen qualifizieren, die bereits hier sind. Es ist nicht logisch, Ausländer für die Arbeit in Deutschland anzuwerben, aber das Potential derer nicht zu nutzen, die bereits hier sind. Dabei geht es um helfende Hände ebenso wie um kluge Köpfe.
Vor allem aber fordert das christliche Menschenbild, Menschen Perspektiven zu geben und sie nicht an der Übernahme eigener Verantwortung zu hindern. Das gilt auch unabhängig von dem Weg wie sie ach Deutschland für Flüchtlinge, die länger bei uns leben. Man darf diejenigen, die arbeiten wollen nicht mit denen gleichsetzen, die auf Sozialleistungen aus sind. Auch die Verschiedenartigkeit der Menschen gehört zum christlichen Menschenbild. Alle über einen Kamm zu scheren, steht dazu im Widerspruch.
Das gilt auch für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Sie muss am Ende der Integration stehen, aber das spricht nicht gegen die Verkürzung der Wartezeit von acht auf fünf Jahre, wenn die Einbürgerungsvoraussetzungen ansonsten gegeben sind. Doppelte Staatsbürgerschaft sollte dabei die Ausnahme bleiben.
Dass Teile der Union sowohl beim Chancen-Aufenthalts- wie beim Staatsbürgerschaftsrecht Vorschläge der Ampel ebenso reflexartig wie pauschal ablehnen, führt in die Sackgasse. Man muss nicht alle Reformideen der Ampel unterstützten, sollte aber doch mit eigenen Vorschlägen in einen konstruktiven Dialog eintreten, wie diese verbessert werden können. Als jemand, der 50 Jahre der CDU angehört, und als ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestages erwarte ich das von meiner Partei. Das Thema ist wichtig genug, im Konsens der Demokraten gelöst zu werden.
* Zum Schutz des Betroffenen ist der Name geändert. Person und aufgeführte Fakten sind dem Autor persönlich bekannt.
Dr. Stephan Eisel war Redenschreiber und stellvertretender Leiter des Kanzlerbüros bei Helmut Kohl sowie später selbst Mitglied des Deutschen Bundestages. Bis 2021 hatte er verschiedene Leitungsfunktionen in der Konrad-Adenauer-Stiftung inne. Er ist vielfältig publizistisch tätig und war 2012 – 2022 war der Chefredakteur des Internetblogs kreuz-und-quer.de
Kluger Kommentar, lieber Stephan Eisel.
Gruß Thomas Rachel MdB
Es ist sehr gut, dass Dr. Eisel die „Subsidiarität als urchristliches Prinzip““ hervorhebt. Ebenso deutlich und richtig ist folgende Bemerkung: „Man darf diejenigen, die arbeiten wollen nicht mit denen gleichsetzen, die auf Sozialleistungen aus sind.“
Manche Äußerungen in den vergangenen Wochen seitens der Union, auch die des CDU-Vorsitzenden, sind erschreckend. Vom CSU-Vorsitzenden ist das Reden weit über den rechten Rand hinaus seit Jahren bekannt. Der ihm aus der eigenen Partei bescheinigte Charakterlosigkeit wird er ein ums andere Mal gerecht.
Inzwischen auch von CDU-Leuten diese unchristliche Sprache vernehmen zu müssen („Sozialschmarotzertum“ u.ä.) wird das Gegenteil dessen bewirken, was Herr Merz sich vorgenommen hat, nämlich die Wahlergebnisse der sog. AfD zu halbieren. Daran müssen indes alle Demokraten das größte Interesse haben, nachdem sich die sog. „Linke“ gottlob von selbst pulverisiert. Obendrein sind manche CDU-Einlassungen in ihrem „Wording“ äußerst unchristlich, weil spaltarisch, destruktiv und obendrein hetzerisch.
Herrn Dr. Eisel gilt Dank für seine deutlichen, an christlichen Werten orientierten Einlassungen.