Dr. Arnd Küppers
Die Gründung des Deutschen Caritasverbandes am 9. November 1897 markiert die Einführung der organisationalen Struktur moderner Wohlfahrtspflege im Bereich der katholischen Kirche. Die gelebte Nächstenliebe aber war von Anfang an ein herausragendes Wesensmerkmal des Christentums. Hilfe für Arme und Notleidende wurde weder im antiken Griechenland noch im Römischen Reich als eine moralische oder religiöse Pflicht angesehen. Die praktizierte Nächstenliebe faszinierte Zeitgenossen und bescherte den christlichen Gemeinden, trotz der wiederkehrenden Phasen der Verfolgung, immer mehr Taufbewerberinnen und –bewerber. Insbesondere die neu entstehenden klösterlichen Gemeinschaften entwickelten sich zu Zentren der Armen- und Krankenfürsorge.
Erst mit dem Beginn der Neuzeit wurde die Armenfürsorge aus der nahezu exklusiven kirchlichen Domäne gelöst und zunehmend als öffentliche Aufgabe angesehen. Das hatte auch mit der Reformation zu tun. Obwohl die kommunalen Anstalten in den Städten die Strukturen kirchlicher Wohlfahrt weitgehend verdrängten, blieb doch der Großteil der Armenfürsorge, insbesondere in ländlichen Regionen, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in kirchlicher Hand. Das änderte sich mit dem Reichsdeputationshauptschluss (1803): Es wurden nicht nur die geistlichen Reichsstände aufgehoben, sondern auch viele bischöfliche Güter, Klöster und Kollegiatstifte enteignet. Damit fiel ein Großteil der Infrastruktur der kirchlichen Diakonie weg.
Das 19. Jahrhundert mit seinen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen wurde auch für den Katholizismus zur Epoche der Erneuerung. Die Glaubens- und Frömmigkeitspraxis, die Orden und Klöster und das katholische Vereinswesen erlebten einen gewaltigen Aufschwung. Ein Kurs des „Volksvereins für das katholische Deutschland“ gab 1894 den Anstoß, auch für den Bereich der Caritas einen zentralen Verband zu schaffen. Die evangelische Kirche hatte bereits seit 1849 einen „Central-Ausschusses für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche“. Der Kurs fand in Freiburg i.Br. statt und war von Lorenz Werthmann, dem Sekretär des dortigen Erzbischofs, vorbereitet worden. 1895 wurde ein „Charitas-Comité“ unter Wertmanns Leitung gegründet, das noch im selben Jahr ein Netzwerktreffen von Gleichgesinnten aus verschiedenen Diözesen in Bingen a.Rh. organsierte. Am 14. Oktober 1896 fand der erste deutsche Caritastag in Schwäbisch Gmünd statt. Im Rahmen des zweiten Caritastages am 9. November 1897 in Köln wurde dann der „Charitasverband für das katholische Deutschland“ mit Sitz in Freiburg und Werthmann als Vorsitzendem ins Leben gerufen.
Die Anfangszeit gestaltete sich zäh. Die Gründung diözesaner und örtlicher Caritasverbände – eine notwendige Bedingung für die Konzeption als Dachverband – ging nur schleppend voran. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs hatte noch nicht einmal jedes dritte Bistum einen eigenen Diözesancaritasverband. In dem sogenannten „Anerkennungsbeschluss“ von 1916 bestimmten die Bischöfe schließlich „den Caritasverband für das katholische Deutschland als die legitime Zusammenfassung der Diözesanverbände zu einer einheitlichen Organisation“. Mitte der 1920er Jahre betrieb die verbandliche Caritas reichsweit bereits über 10.000 Einrichtungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Gesundheitsfürsorge und der Altenpflege.
Zu der bischöflichen Unterstützung kam in der Weimarer Republik ein für den Deutschen Caritasverband (DCV; so die seit 1921 gültige Bezeichnung) äußerst günstiges politisches Umfeld. Die Zentrumspartei war an allen parlamentarischen Regierungen der Weimarer Republik beteiligt. Von 1920 bis 1928 hieß der für die Sozialpolitik zuständige Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns, ein ehemaliger Direktor des Volksvereins. Unter seiner Ägide erhielt Deutschland ein modernes Fürsorgerecht.
In der Zeit des Nationalsozialismus beanspruchte die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV) den Führungsanspruch im Bereich der Wohlfahrtspflege. Aber anders als das Deutsche Rote Kreuz, das gleichgeschaltet wurde, und die Arbeiterwohlfahrt oder der Paritätische Wohlfahrtsverband, die aufgelöst wurden, blieben der evangelische Zentralverband für die Innere Mission und der Deutsche Caritasverband als eigenständige Wohlfahrtsverbände bestehen. Sie mussten aber viele Repressalien hinnehmen. Ganze Aufgabenbereiche wie die Bahnhofsmissionen oder fast die gesamte Kinder- und Jugendhilfe zog die NSV an sich. Einrichtungen und dazugehörige Immobilien wurden enteignet. Die DCV-Zentrale in Freiburg wurde 42 Mal von der Gestapo durchsucht. Benedict Kreutz, seit 1921 als Nachfolger Werthmanns Präsident des DCV, stand unter permanenter Beobachtung, mehrere seiner Mitarbeiter landeten im Konzentrationslager.
Die Caritas war in der NS-Zeit aber nicht nur Opfer, sondern sie war an manchen Stellen auch in Verbrechen des Regimes involviert. So kam es in kirchlichen Einrichtungen mitunter zu dem Einsatz von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, in Diakonie und Caritas etwa in den Bereichen Hauswirtschaft und Krankenpflege.
Die zweifellos größte menschliche und moralische Niederlage war, dass die Caritas es nicht vermochte, tausende psychisch kranke und behinderte Menschen in ihren Einrichtungen vor der Ermordung aufgrund des geheimen „Euthanasie-Erlasses“ Hitlers von 1939 zu bewahren. Es blieb dem Mut einzelner Verantwortlicher in den Pflegeheimen überlassen, die ihre Schützlinge retteten, indem sie sie etwa vor der Deportation zu ihren Angehörigen entließen. In den meisten Fällen allerdings kam es dazu nicht. Die Bischöfe protestierten bei den zuständigen Innenministerien, auch Kreutz wählte diesen Weg. Als das nichts fruchtete, wendeten sich mehrere Bischöfe mit Stellungnahmen an die Öffentlichkeit, am prominentesten der Münsteraner Bischof Clemens August von Galen mit einer außerordentlich mutigen Predigt am 3. August 1941.
Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände konnten ihre Arbeit unmittelbar nach der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 fortsetzen. Bereits im Sommer 1945 baute der DCV im Auftrag der Bischofskonferenz einen Suchdienst für Nachforschungen nach Vermissten und Kriegsvertriebenen auf, der später als „Kirchlicher Suchdienst“ gemeinsam mit der Diakonie fortgesetzt wurde.
Die deutsche Teilung nach dem Krieg führte zu einer unterschiedlichen Entwicklung der Caritas in Ost und West. In der DDR, in der die SED auch das sozialpolitische Monopol beanspruchte, konnte die Caritas als freier Wohlfahrtsverband nicht fortbestehen. Sie konnte aber dadurch gerettet werden, dass die Bischöfe sie an ihre eigenen Diözesanverwaltungen angliederten. Im Vergleich zu Westdeutschland blieben die Strukturen der ostdeutschen Caritas in bescheidenem Rahmen. In den von der Caritas betriebenen Krankenhäusern, Kinder-, Behinderten- und Altenpflegeheimen sowie Kindergärten arbeiteten 1988 rund 10.000 hauptamtlich Beschäftigte. Arbeitsfähig blieb die Caritas in der DDR nicht zuletzt durch finanzielle Unterstützung aus Westdeutschland.
Die Bundesrepublik hingegen knüpfte nahtlos an das in der Weimarer Republik etablierte Nebeneinander von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege samt führender Stellung von Diakonie und Caritas an. Im Bundessozialhilfegesetz von 1961 wurde die Wohlfahrtspflege – auf Betreiben der alleinregierenden Union und gegen den erbitterten Widerstand von SPD und FDP – konsequent nach dem Subsidiaritätsprinzip geordnet.
Heutzutage ist die Caritas mit rund 690.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der größte soziale Arbeitgeber in Deutschland. In einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft ist die Verankerung all dieser Beschäftigten im christlichen Glauben – lange Zeit war das eine Einstellungsvoraussetzung – keine Selbstverständlichkeit mehr. Das christliche Profil der Caritas muss heute anders zum Ausdruck kommen als in der formalen Kirchenzugehörigkeit ihrer Angestellten. Manche meinen, dass die Kirchen sich angesichts immer säkularer werdender Gesellschaften wieder mehr auf „das Wesentliche“ beschränken müssten. Aber wer die Caritas nicht zum Wesentlichen zählt und für verzichtbar erachtet, verkennt das Wesen der Kirchen.
Der vorstehende Text ist eine stark gekürzte Fassung. Der Gesamttext ist in https://www.kas.de/de/einzeltitel/-/content/125-jahre-dienst-am-naechsten abrufbar.
Dr. Arnd Küppers, geboren 1973, Studium der Katholischen Theologie, der Philosophie und der Rechtswissenschaften in Bielefeld, Bonn u. Freiburg i.Br. Seit September 2010 Wissenschaftlicher Referent und Stellvertretender Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach.