Annette Schavan
Tomáš Halík sagt, es sei sein wichtigstes Buch: „Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage“ – gerade im Verlag Herder erschienen. Manches deutete sich bereits in seinen Büchern aus den vergangenen Jahren an, vor allem die Überzeugung, dass das Christentum der Zukunft eine andere Perspektive braucht, in deren Zentrum der Glaube als eine neue Lebensart steht.
Dieses Buch ist in der Zeit der Pandemie entstanden; einer Zeit, die geprägt ist von tiefen Erfahrungen der Kontingenz. Waren zuvor schon traditionelle religiöse Sicherheiten ins Wanken geraten, so kommt nun „die Krise der traditionellen säkularen Sicherheiten“ hinzu. Wir dachten vor der Pandemie, mehr im Griff zu haben, als es sich dann als realistisch erwies. Die Verunsicherung ist groß, zumal niemand weiß, wann die pandemische Zeit zu Ende geht. Die Kriegsereignisse mitten in Europa beeinflussen die mentale Verfassung zusätzlich. Ein aggressiver Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit nahezu täglich neuen Grausamkeiten lässt uns auch die Kriege der vergangenen Jahre näherkommen. Gemeinsam beschlossene Vereinbarungen im Völkerrecht, Dialog und Kooperationen in vielen Bereichen – all das kann nicht verhindern, was gerade geschieht.
Halíks Zeitansage erscheint also in kirchlich und säkular fragiler Zeit, in der neue Perspektiven förmlich ersehnt werden. Er vermag Irrungen und Versagen in der Geschichte des Christentums ebenso herauszuarbeiten wie Größe und Kraft einer Glaubenstradition, deren jetzige Krise für ihn ein Scheideweg ist. Es scheint in dem Buch immer wieder die Deutung von Krise als Kairos auf. Halík lässt Hoffnung aufkommen und zeigt zugleich, dass die Aufgabe, den Kairos zu ergreifen, anspruchsvoll ist.
Vom Nachmittag spricht der Autor in Anlehnung an eine Metapher von C.G. Jung für den Verlauf des menschlichen Lebens. Der Nachmittag beschreibt die Zeit nach der Mittagskrise. Er beschreibt ihn so: „Der Nachmittag des Lebens ist ein Kairos, eine Zeit, die für die Entfaltung des geistig-geistlichen Lebens günstig ist, die Gelegenheit, den Reifungsprozess seines ganzen Lebens zu vollenden“. Auf die Geschichte des Christentums übertragen, endet die Jugend des Christentums mit dem Beginn der Moderne; die Mittagskrise beginnt mit der Neuzeit; ihr „Epizentrum“ verortet er in Mittel- und Westeuropa; Er ist davon überzeugt, dass „wir heute an der Schwelle zum Nachmittag des Christentums stehen“.
So entfaltet er eine neue Epoche und beschreibt einen Weg „der allmählichen Realisierung der ‚Katholizität des Christentums‘“, zu der auch die „Erweiterung und Vertiefung seiner ökumenischen Offenheit“ gehört. Er spricht von einer existenziellen Umkehr zum Glauben als einer Lebensart, wie es schon in seinen beiden letzten Büchern anklingt. (Titel: Die Zeit der leeren Kirchen. Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens. 2021. Sowie: Theater für Engel. Das Leben als religiöses Experiment. 2019.)
Zugleich prognostiziert er eine dritte Aufklärung, die aus „einem Gefühl der Ohnmacht des Menschen gegenüber der Irrationalität der Welt erwächst – gleichsam die Frucht der umfassenden Erfahrungen von Kontingenz. Er plädiert für einen reifen, erwachsenen Glauben, der frei ist von dem kollektiven Narzissmus und „der Selbstzentriertheit derjenigen religiösen Kommunitäten, die nicht fähig sind, ihren Status als Pilger einzugestehen“. Er fordert eine „Zeit der Selbsttranszendenz des Christentums“ und eine Kirche, die sich als „eine Gemeinschaft des Zuhörens und des Verstehens“ begreift.
Dieses Buch ist eine Ermutigung und zugleich visionär. Es sind viele neue Wege, die zu gehen sind. Sie betreffen die Strukturen und das Selbstverständnis der Kirche. Sie gehen zugleich jede Christin und jeden Christen an. Tomáš Halík sagt es so: „Über den Glauben eines Menschen gibt sein Leben eher Auskunft als das, was er über Gott denkt und sagt“. Der Nachmittag des Christentums ist dann nicht nur die Reformagenda anderer und der Kirche auf ihrem Weg vom Katholizismus zur Katholizität. Er ist auch mit einer Agenda für jeden von uns verbunden.
Tomáš Halík: Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage. Freiburg 2022.
Annette Schavan (1955), war 25 Jahre in Politik und Diplomatie tätig, u.a. als Ministerin für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg (1995-2005), als Bundesministerin für Bildung und Forschung (2005-2013) sowie als Botschafterin Deutschlands beim Hl. Stuhl (2014-2018). Sie lehrt seit 2014 als Gastprofessorin an der Shanghai International Studies University; zuvor lehrte sie von 2008-2014 als Honorarprofessorin am Seminar für Katholische Theologie an der Freien Universität zu Berlin. Heute wirkt sie in Stiftungen, international und veröffentlicht. Ihr jüngstes Buch „geistesgegenwärtig sein. Anspruch des Christentums, ist in 2. Auflage 2021 erschienen.