Menschenrechte kennen keine Nationalflaggen

Prof. Dr. Ulrike Kostka, Diözesancaritasdirektorin Erzbistum Berlin

Der Ukrainekrieg geht in seine fünfte Woche. Er hat eine erschreckende Routine bekommen. Jeden Tag sehen wir im Internet oder im Fernsehen die Bilder zerstörter Städte, sind entsetzt über die Propaganda Russlands und fragen uns, wie das wohl weitergeht. Doch im Normalfall bleibt die Mattscheibe dazwischen und wir leiden nur still mit den Menschen in Maripol, Kiew und an vielen Orten der Ukraine mit. Doch der Krieg wird konkret – am Hauptbahnhof in Berlin, bei der Ankunft von geflüchteten Frauen und Kindern in den Landkreisen und im Engagement unzähliger Menschen, Gruppen und Initiativen, auch vieler Kirchengemeinden.

Für mich wurde der Krieg ganz konkret, als wir innerhalb von 30 Stunden eine Caritas-Notunterkunft in einem ehemaligen Pflegeheim in der Pappelallee in Berlin aufgemacht haben. Um kurz nach Mitternacht kam ein zweiter Bus mit Geflüchteten an und wir zeigten ihnen ihre Zimmer. Wie groß war die Erleichterung der Frauen und Kinder eine Dusche zu sehen und endlich irgendwo anzukommen, auch wenn es für viele nur eine Zwischenstation ist. Ihre Gesichter waren gezeichnet von Erschöpfung, Traumatisierung und unzähligen stillen Sorgen um Angehörige und die Zukunft.

Dieser Krieg hat eine Grundkonstante unseres Lebens und unserer Gesellschaft verändert. Das Gefühl von Sicherheit, das wir seit Jahrzehnten gewohnt waren, ist verschwunden bzw. stark beeinträchtigt. Wir erleben, wie Menschen um ihr Land und auch die Demokratie kämpfen, die sie sich mühsam seit 1991 aufgebaut haben. Der Krieg ist nur knapp 1000 Kilometer entfernt und jetzt auf einmal in unserer Nachbarschaft, weil wir so viele Menschen aufgenommen haben. Das ist auf der einen Seite faszinierend, auf der anderen Seite auch zwiespältig.

Denn auch 2015 kamen Menschen aus Kriegsgebieten und hatten Terror und Gewalt erlebt. Es entstand eine enorme Hilfsbereitschaft, doch vielen waren die geflüchteten Menschen fremd. Die Ukraineflüchtlinge sind uns vertrauter, gehört die Ukraine doch zu Europa. Aber was ist der Unterschied, wenn Menschen Terror und Gewalt erleben? Wir sollten Menschen, die fliehen mussten, nicht in Klassen aufteilen. Alle brauchen eine Zukunftsperspektive und sehnen sich nach Heimat, Ankommen und Sicherheit. Integration, Arbeitsmöglichkeiten und eine breite Unterstützung sind beste Möglichkeiten, dass Menschen ankommen können – sei es auf Zeit oder für immer. Natürlich ist das ein gegenseitiger Prozess.

Ich bin beeindruckt, wie effizient und wirksam in so vielen Orten auf Flüchtlingsinitiativen und Strukturen zurückgegriffen werden kann. 2015 hat Deutschland bewiesen, dass es gastfreundlich ist, bei allen Problemen, die es gab und auch jetzt gibt. Deswegen stehen 2015 und die Flüchtlingshilfe jetzt in einer engen Verbindung. Wir sollten sie auch politisch so nutzen, dass für geflüchtete Menschen, die sich noch immer in einer Warteschleife des Lebens befinden, Perspektiven entstehen.

Denn Menschenrechte kennen keine Nationalflaggen. Regimen wie Putins Machtapparat kann man nur entgegenstehen, wenn Menschlichkeit und Demokratie für alle gelten. Erst recht sollten wir in dieser Zeit, als demokratische Staaten zusammenstehen und Demokratie und Humanität als beste Abwehr einsetzen – natürlich mit aller Klarheit und den notwendigen Maßnahmen gegenüber Diktatoren, die die Menschenrechte mit den Füßen treten.

Der Ukrainekrieg zeigt auch, welchen Beitrag die kirchlichen Netzwerke leisten können. Bei aller Kirchenkrise zeigt sich Kirche hier von der stärksten Seite – auch im Zusammenschluss mit der polnischen Kirche, wo sonst manche Meinungsverschiedenheiten bestehen. Ich bin fasziniert, was wir gemeinsam mit ganz vielen auf die Beine stellen können als Kirchen und als Zivilgesellschaft. Ich hoffe und bete, dass diese Kräfte ausdauernd sind und nicht im Alltag untergehen. Unsere Gesellschaft hat Corona mit Zerrissenheiten halbwegs bewältigt, aber ihren Kern nicht verloren – Humanität und Demokratie. Diesen Kern müssen wir mit allen Kräften stärken und auch verteidigen durch Taten, Worte und auch die notwendigen politischen Entscheidungen.


Foto: Maurice Weiss

Prof. Dr. Ulrike Kostka, Diözesancaritasdirektorin Erzbistum Berlin und außerordentliche Professorin für Moraltheologie/Universität Münster

Ein Gedanke zu „Menschenrechte kennen keine Nationalflaggen“

  1. Liebe Frau Professor Kostka, zunächst möchte ich der Caritas und allen anderen Hilfsorganisationen Dank sagen für die Hingabe, mit der versucht wird, den traumatisierten Flüchtlingen, besonders Frauen und Kindern, bei ihrer Ankunft Deutschland zu helfen. Jede Art von Hilfeleistung ist nicht nur ein Zeichen der Solidarität sondern auch des Trostes im Augenblick von Orientierungslosigkeit.
    Aber mindestens genauso wichtig ist Ihr Aufruf, politisch aktiv zu werden und die Einhaltung der Menschenrechte noch aktiver, als zuvor einzufordern!
    EuroISME versucht mit Worten und Taten auf die Erziehung und Ausbildung nicht nur der Soldaten, sondern aller Entscheidungsträger im Umfeld von Streitkräften aller Nationen einzuwirken.
    Friedensethik und ethisch verantwortbares Verhalten sind noch lange nicht in allen Ausbildungsprogrammen und Einsatzgrundsätzen verankert… EuroISME setzt sich trotz vieler Rückschläge immer wieder unüberhörbar dafür ein, dass sich hier etwas grundlegend ändert.
    Ihr Diskussionsbeitrag bestärkt uns in unserem Engagement, mit dem wir bei der kommenden Jahrestagung 2022 in Budapest ein starkes Signal setzen wollen.

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