75 JAHRE CDU: DIE KÖLNER LEITSÄTZE

Michael Borchard erinnert an die Kölner Leitsätze vom Juni 1945 als einem der bedeutendsten Gründungsdokumente der CDU und sieht darin eine bleibende Beschreibung des Markenkerns der  Partei.

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Michael Borchard

Die Kölner Leitsätze der CDU – pathetische Gründungserinnerung oder bleibender Maßstab?

Es ist das gewohnte Muster bei einem ehrwürdigen 75. Geburtstag: Reden werden gehalten, vor allem die Verdienste des „Delinquenten“ werden ausgiebig gewürdigt, der Charakter des Jubilars wird ausgiebig gelobt, zumeist gewürzt mit freundlichen Anekdoten und manchen Zoten. Noch viele gute Jahre werden gewünscht. Die unmittelbaren Umstände der Geburt aber bleiben oft pietätvoll im Dunkeln. So viel Rücksicht ist im Fall des Geburtstagskindes CDU unangebracht. Ja vielleicht ist es nach 75. Jahren für die Zukunft des Jubilars sogar gelegentlich hilfreich, sich an die Geburtsstunde, an den eigenen Entstehungsgrund zu erinnern. Auch an die Tatsache, dass die Geburt alles andere als einfach war.

„Die Gründung einer neuen Partei war schwer bei der trostlosen Lage, die in Deutschland bestand. Die materielle Not war groß, die politische Not und die Gleichgültigkeit gegenüber politischen Angelegenheiten bei den meisten Deutschen waren entmutigend. Die Gegenwart war für uns Deutsche niederdrückend und die Zukunft unsicher und ungewiss. Das deutsche Volk war der Erbe der Schandtaten des Nationalsozialismus, verhasst in der ganzen Welt. Es gehörte viel Mut dazu, eine der früheren Parteien wieder aufzurichten, noch größerer Mut, eine neue Partei zu gründen.“ Diese Einschätzung stammt von jenem Mann, der das Schicksal dieses politischen „Kindes“ in einer Weise beeinflusst und geprägt hat, wie nur wenige andere nach ihm und den viele als „Vater“, manche gar als „Übervater“ dieser Partei betrachten: Konrad Adenauer!

Der Gedanke, eine überkonfessionelle Partei zu gründen, fiel nicht aus dem Himmel und war schon lange zuvor gedacht worden. Unter anderem auch von Konrad Adenauer, der damals, bereits einige Jahre im Amt des Kölner Oberbürgermeisters auch zunehmend auf der nationalen Ebene so etwas war wie das, was man heute einen „shooting star“ nennt. Der Zentrumspolitiker hatte, so wie kurz vor ihm Adam Stegerwald, schon 1922 auf dem Katholikentag in München erklärt, dass die Basis für eine christliche Partei nicht groß genug sein könne und die Katholiken sich in der Vergangenheit zu sehr von den Nicht-Katholiken abgegrenzt hätten. „Dadurch haben wir die gemeinsamen christlichen Ideale nicht gefördert“. Unverblümt spricht er später in seinen Memoiren von einem Versagen der Parteien in der Weimarer Zeit, schon lange vor der Machtergreifung. Daraus zog er den Schluss, „dass nur eine neue Partei, wurzelnd in dem weiten christlichen Boden, auf festen ethischen Grundsätzen und gestützt auf allen Schichten des deutschen Volkes in der Lage sein würde, Deutschland aus seiner Not wieder aufzurichten.“ Eine Partei, die eben nicht die Zersplitterung in Partikularinteressen, ganz gleich ob sie konfessionell oder ideologisch grundiert sind, fördert, sondern eine Sammlungsbewegung bildet, die möglichst viele Demokraten unter ihrem Dach vereint.

Umso absurder erscheint es auf den ersten oberflächlichen Blick, dass der rheinische Patriarch, dem man zumindest einen guten Anteil an der Vaterschaft für „seine“ CDU nicht absprechen kann, dann doch nicht an der Wiege der Parteineuschöpfung stand. Im Zusammenhang mit den Kölner Leitsätzen wird nicht selten der Fehler gemacht, hin und wieder sogar von der CDU selbst, dem berühmtesten politischen Sohn der Stadt Köln, eine entscheidende Rolle beim Gründungsakt der Partei und an den Kölner Leitsätzen zuzuschreiben. Aber dem war nicht so. Zur Wahrheit gehört sogar, dass er bereits im April 1945, als ihn der spätere Kölner Mitgründer Leo Schwering in seinem Rhöndorfer Haus aufsuchte und auf den Plan der Gründung einer Partei ansprach, mehr als zurückhaltend reagierte, weil er der Veranstaltung wenig Aussicht auf Erfolg eingeräumt hat.

Die eigentliche Begründung für sein Fernbleiben ist aber simpel: Zu diesem Zeitpunkt war Adenauer wieder in sein „altes“ Amt als Oberbürgermeister eingesetzt worden, allerdings verbunden mit einer strengen Auflage, die nach seiner Absetzung durch die britische Besatzungsmacht am 6. Oktober erst recht galt: Nämlich der Vorschrift, sich von aller politischen Betätigung fern zu halten. Erst mit der „Rehabilitation“ im Dezember wird der Weg frei für die Führungsposition, die Konrad Adenauer fortan in der CDU übernehmen sollte.

Eine wichtige Rolle hat er im Bezug auf die Kölner Leitsätze dann doch noch gespielt, allerdings sozusagen ex-post: Er war es, der die Hinweise auf planwirtschaftliche Ansätze und das Petitum für einen „wahren christlichen Sozialismus“, der sich in den Leitsätzen befand, wieder vom Tisch fegt. Diese Volte geschieht auf dem Weg zum ersten Parteiprogramm, das im Karolinen-Hospital in Neheim-Hüsten bei der Sitzung des Zonenausschusses der CDU das „Licht der Welt“ erblickt und im Wesentlichen die Handschrift Adenauers trägt. Er tut das damals mit dem lakonischen und typisch Adenauerschen pragmatisch-strategischen Hinweis, man gewönne mit dem christlichen Sozialismus im Programm fünf Menschen hinzu und „zehn laufen weg.“ Auch war dem Kölner Politiker der christliche Bezug in den Leitsätzen zu deutlich. Hier sah er als Politikprofi schlicht die Gefahr, dass ein Programm, das wie ein Glaubensbekenntnis wirke, eher abschreckende Wirkung auf eine breite Bevölkerungsschicht habe.

Diese etwas distanzierte Haltung Adenauers, verschleiert die Tatsache, dass vieles war da im Dominikanerkloster in Walberberg nach der ersten Zusammenkunft des Kölner Gründungskerns am 17. Juni im Kölner Kolpinghaus von ehemaligen Zentrumspolitikern, christlichen Gewerkschaftern als „Vorläufiger Entwurf zu einem Programm der Christlichen Demokraten Deutschlands“ erarbeitet worden ist, auch seinen Vorstellungen von einem neuen Staatswesen entsprochen hat. In den Beratungen des Verfassungskonventes in Herrenchiemsee, aber auch in den Beratungen des Parlamentarischen Rates tauchte vieles wieder auf, was in den Leitsätzen diskutiert worden war. Damit wurde zugleich die Grundlage gelegt für die Erfolgsge­schichte einer staatstragenden und staatsprägenden Partei, die in der europäischen Geschichte bis heute einzigartig ist. Es gehört ein wenig zu den Schattenseiten der über­mächtigen Bedeutung Adenauers, dass die Persönlichkeiten des Kölner Gründerkreises, aber auch der Berliner Gründung, bis heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Dazu gehört insbesondere auch der Name von Leo Schwering, dem späteren ersten Vorsitzenden der Kölner CDU, der wie Adenauer ein Zentrumspolitiker war und wie er dem Zentrum nach dem Krieg wenig Chancen auf einen Neubeginn eingeräumt hat. Eine Meinung, die übrigens auch die katholischen Bischöfe geteilt haben, die sich deutlich für eine einheitliche, überkon­fessionelle und vor allem starke Partei aussprachen, nicht zuletzt, weil sie darin ein Bollwerk gegen die aus dem Osten drohende Gefahr des Bolschewismus sahen.

Gleichwohl war das Zentrum dennoch so etwas wie ein Katalysator für die CDU-Gründung. Die Gründer der neuen Partei wollten nämlich einer Wiederbegründung des Zentrums zuvorkommen und setzten sich deshalb selbst unter einen gewissen Zeitdruck. Beeinflusst durch den Walberberger Dominikanerprovinzial Laurentius Siemer und seinen Protegé Pater Eberhard Welty entstehen in wenigen Tagen, beeinflusst durch die katholische Soziallehre, Grundsätze, die für das Selbstverständnis der Partei prägend geworden und geblieben sind: Dazu zählt, und das ist auch der Grund, warum in den Leitsätzen ein Vorläufer des Grundgesetzes gesehen wird, ein bis dato in der Politik nicht dagewesenes Bekenntnis zum christlichen Menschenbild und daraus abgeleitet zur Würde und Personalität des Menschen. Dazu gehören aber auch eine starke Betonung der Rechtsstaatlichkeit, der Religions-, Meinungs-, Koalitions- und Versammlungsfreiheit, des föderalen Staatsaufbaus, der Selbstverwaltung der Gemeinden und so fort. Dass der Mensch im Mittelpunkt steht wird besonders an den Stellen der Leitlinien deutlich, die sich auf die Rolle der Familien, aber auch auf das Elternrecht beziehen, das bei der Erziehung der Kinder wieder im Vordergrund stehen muss. An die Stelle der Übermacht der totalitären Diktatur wird die Verantwortung des Einzelnen gesetzt.

Während diese Festlegungen den Grundkanon der Christlichen Demokratie bilden, muss man die wirtschaftspolitischen Aussagen der Leitsätze vor allem als zeittypisch betrachten. Für den Nationalsozialismus wurde auch der Materialismus verantwortlich gemacht und der Grad der wirtschaftspolitischen Polarisierung, der in der Weimarer Republik geherrscht hat. Vor allem aber herrschte nach dem vollständigen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft der Eindruck, dass man den Mangel an elementaren Lebensgütern nur mit einer Vergesellschaftung der Wirtschaft und mit staatlicher Lenkung bewältigen kann. Wenn wir es für einen Moment wie Adenauer halten und die Aussagen zum christlichen Sozialismus ausblenden, dann stellt sich die Frage, was vom Geburtsimpuls der Partei heute geblieben ist: Nur eine vage Festtagserinnerung an längst vergangene Zeiten, ein verblassendes Dokument mit Aubruchpathos oder ein bleibender Maßstab? Darüber ließe sich eine halbe Doktorarbeit schreiben. Belassen wir es bei ein paar wenigen Hinweisen auf aktuelle Fragestellungen.

Aus dem 75. Geburtstag der Kölner Leitsätze, des Berliner Aufrufes und der Gründung der CDU kann dann für die Gegenwart ein neuer Kraftquell erwachsen, wenn sich die CDU auf ihre Geburtsstärke besinnt – und damit ist ausnahmsweise einmal nicht alleine die viel zitierte Überkonfessionalität gemeint, die die Union zu einer modernen Partei gemacht hat! Nein, die Stärke, um die es hier geht, ist ihre regionale Geburt. Es gab anders als bei anderen Parteien eben keinen zentralen Gründungsakt. Weder die Kölner noch die Berliner Gründungszellen haben je für sich beansprucht, die eine, die einzig gültige Gründung zu sein. Im Gegenteil: Aus den Kölner Leitsätzen und dem Berliner Aufruf sollten ganz selbstverständlich weitere lokale Parteibildungen in ganz Deutschland folgen. Das wirkt bis heute fort: Selbst jene, die nur allzu schnell Todesgesänge für die Volksparteien anstimmen, müssen konstatieren, dass die CDU noch immer über eine vergleichsweise gute regionale Verankerung verfügt. In diesem Sinne müsste man das gelegentlich zu hörende Postulat eines „back to the roots“ mehr als ein „back to the grassroots“ verstehen: Die CDU ist als Bewegung vor Ort entstanden, als etwas, was man heute soziologisch „Graswurzelbewegung“ nennen würde und sie sollte sich diesen Charakter erhalten und ihn neu aktivieren: Indem Sie mit neuen Beteiligungsmethoden den Dialog dahin trägt, wo sie als Partei entstanden ist, in die Mitte der Bürgerinnen und Bürger vor Ort.

Man muss kein Pessimist sein, um zu konstatieren, dass es eine Entfremdung zwischen der Politik und den Menschen vor Ort gibt. Daran sind auch die Parteien nicht ganz unschuldig. Der verräterische Terminus vom „vorpolitischen Raum“ oder „von den Menschen da draußen“ legt den Finger in die Wunde: Als ob es in einer Demokratie eine Trennlinie zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Politik geben kann. Diese Entfremdung hat allerdings zu einer Dynamik geführt, die allerdings auch auf der Seite der Bürgerinnen und Bürger zunehmend Maß und Mitte verliert. Und dabei muss eine Spezies besonders in den Blick genommen werden, die inzwischen – horrible dictu – im wahrsten Sinne des Wortes zu den bedrohten Arten gehört: Die des ehrenamtlichen Kommunalpolitikers, der sich für seine Mitmenschen engagiert und dennoch nicht selten an Leib und Leben bedroht wird, wie das tragische Beispiel von Walter Lübcke zeigt.

Diese Kluft können keine Werbesprüche, keine pfiffigen PR-Kampagnen, erst recht keine Sonntagsreden überbrücken, sondern nur der Versuch, immer wieder von neuem miteinander ins Gespräch zu kommen. Wer könnte das besser als eine Partei, die seit ihrer Gründung in Köln, Berlin und an anderen Orten den Löwenanteil ihrer Zustimmung vor allem aus dem ländlichen Raum gewinnt? Die CDU darf auch nach 75 Jahren nicht vergessen, dass sie als Kommunalpartei begonnen hat. Der 9. Kölner Leitsatz, der sich für die Selbstverwaltung der Kommunen ausspricht, ist bis heute eine Art „Lebensversicherung“ der CDU. Jene Partei, die ihren Anspruch aufgibt vor Ort zu gestalten, dort präsent und politisch sichtbar zu sein, die steht in der Gefahr, sich selbst aufzugeben.

Dieser Leitsatz, der so unscheinbar und fast banal daher kommt, hat es aber bis heute in sich: In den Zeiten des demographischen Wandels führt der damit einhergehende Verlust an finanziellen Handlungsspielräumen fast automatisch auch zu einem Verlust an kommunaler Selbstbestimmung. Wie soll sich die Distanz zwischen Bürgerinnen und Bürgern verringern, wenn die von den Bürgerinnen und Bürgern gewählten Vertreter nur noch den Mangel verwalten. Deshalb muss eine CDU, die ihre Wurzeln ernstnimmt, noch mehr dafür tun, die Finanzbeziehungen von Bund, Ländern und Kommunen transparent so neu zu ordnen, dass Kommunen von Sozialausgaben entlastet und wieder in die Lage versetzt werden, kraftvoll zu gestalten.

Schon das ist ein auch in den eigenen Reihen heftig umkämpftes Unterfangen und alles andere als trivial. Besonders viel Kraft erfordert es in diesem Zusammenhang aber heute dem 8. Kölner Leitsatz treu zu bleiben, weil es nicht erst seit der Corona-Krise zum guten intellektuellen Ton in Deutschland gehört, dem Föderalismus kritisch gegenüberzustehen. „Der Zentralismus wird als undeutsch abgelehnt“ heißt es in den Leitsätzen. Was den Gründern noch unmittelbar vor Augen stand, ist bei uns in den letzten sieben Jahrzehnten offenbar ein Stück weit in Vergessenheit geraten: Die negativen ja katastrophalen Folgen einer zentralistischen Steuerung, die jede kulturelle, soziale und wirtschaftliche Eigenheit vor Ort ausblendet, ja nivelliert und Machtmissbrauch dadurch erst möglich macht. Bis zur Machtergreifung war Deutschland immer ein föderal geprägtes Land. Erst die Nationalsozialisten setzten dieser Tradition ein jähes Ende.

Dass sich die Alliierten, aber auch die Kölner Gründer und später die Mütter und Väter des Grundgesetzes vehement für die Wiederherstellung dieser Tradition ausgesprochen haben, entsprang zunächst der Intention, Macht zu begrenzen. Aber auch das Vertrauen in die Effizienz dieses Ansatzes hat eine Rolle gespielt. Das Lamento über manches Elend des Föderalismus – wie Kompetenzgerangel, komplizierte Ausgleichsmechanismen, Defizite des Bildungsföderalismus – überdeckt allzu oft die Freude über den unbestreitbaren Glanz dieser Ordnung: Gerade in der gegenwärtigen Krise haben die Vorzüge des Föderalismus entscheidend dazu beigetragen, dass Deutschland die Krise bisher relativ gut meistert. Der „Wirtschaftsweise“ Lars P. Feld betont: „Eine föderale Ordnung kann lokale Krisen früh erkennen und ihre Folgen effektiv überwinden. Der praktizierte Verbundföderalismus setzt auf Kooperation zwischen Bund, Länder und Gemeinden – und lebt die Subsidiarität: Entsteht ein Problem vor Ort, dann springen das Land oder der Bund erst ein, wenn es sein muss. Die effektivste politische Einheit wird dann mit der Problemlösung betraut. Im Gegensatz zu einem zentralistischen Einheitsstaat in Frankreich, einem dezentralisierten Einheitsstaat Italiens und dem Autonomienstaat Spanien.“ Besonders für eine Partei mit regionaler Gründung sollte der Erhalt und eine kluge Reform des föderalen Systems, die solche Stärken zur Geltung bringt, auch weiterhin eine bleibende Verpflichtung sein, die aus den Leitsätzen erwächst.

Aus den Kölner Leitsätzen lässt sich in Kombination mit den Beiträgen die die CDU auch später zur Entstehung des Grundgesetzes geleistet hat im Übrigen eine besondere Verantwortung der CDU für diese Verfassung insgesamt ableiten, die obgleich als Provisorium geplant, nicht nur zum Rückenmark unseres politischen Systems geworden ist, sondern auch international Sogwirkung als leuchtendes Beispiel entfaltet hat. Diese Verantwortung der CDU für die deutsche Verfassung umfasst, zeitbezogenen Verwässerungen und neuen „Aufladungen“ außerordentlich skeptisch gegenüber zu stehen. Nicht jede Staatszielerweiterung der letzten Jahre hat automatisch zur Steigerung der Konsistenz dieser Verfassungsordnung beigetragen.

Die Eigenschaft der Leitsätze als Vorläufer des Grundgesetzes kommt besonders im expliziten Bezug auf den Menschenwürdegriff zum Ausdruck, der in den Leitsätzen an erster Stelle eine prominente Rolle einnimmt. Für die CDU war bei der konkreten Interpretation des Menschenwürdebegriffes immer die Frage wichtig, wie man vor diesem Hintergrund mit den ethischen Grenzfragen umgeht, die sich insbesondere am Lebensanfang und am Lebensende stellen. Man mag nicht mit allen Beschlüssen einverstanden sein, die die CDU in den siebeneinhalb Jahrzehnten in diesem hochkomplexen Feld getroffen hat. Aber nicht einmal die schärfsten Kritiker würden der CDU absprechen, dass sie sich diese Fragen so schwer gemacht und diese Diskussionen so ernsthaft geführt hat, wie keine andere Partei in Deutschland, weil sie für keine andere Partei so an die Grundlagen ihres Selbstverständnisses heranrühren. Die lebensethischen Fragen bleiben der Lackmustest für das christliche Menschenbild.

Diese unvollständige Aufzählung einiger Aktualitäten bringt uns abschließend gleichsam zur christlich demokratischen „Königsdisziplin“ oder wenn man so will zur Urwurzel der CDU, die in den Leitsätzen erstmals so konsequent herausgearbeitet wird und die Partei noch immer aufregend modern macht: Der klare Bezug auf das christliche Menschenbild, der im Übrigen nicht exklusiv ist, sondern gleichsam als „Überkonfessionalität 2.0“ heute auch jenen gegenüber die Hand ausstreckt, die nichts mit dem christlichen Glauben am Hut haben, weil sie säkular sind oder einer anderen Glaubensrichtung angehören. So heißt es im geltenden Grundsatzprogramm von 2007: „Das christliche Verständnis vom Menschen gibt uns die ethische Grundlage für verantwortliche Politik. Dennoch wissen wir, dass sich aus christlichem Glauben kein bestimmtes politisches Programm ableiten lässt. Die CDU ist für jeden offen, der Würde, Freiheit und Gleichheit aller Menschen anerkennt und die hieraus folgenden Grundüberzeugungen unserer Politik bejaht. Auf diesem Fundament baut unser gemeinsames Handeln in der CDU auf“

Wenn man nach dem viel beschworenen Markenkern der CDU sucht, dann liegt er vor allem hier. Das was ganz maßgeblich die Christliche Demokratie von anderen politischen Richtungen unterscheidet, ist der „Blick auf das Wesen des Menschen: auf die vernunftbegabte und zur Freiheit berufene Person.“ Das schließt eine Absage an jene politischen Richtungen wie den Sozialismus oder einen Laissez-faire-Liberalismus ein, die nicht das Wesen des Menschen, sondern den Traum von einer Ordnung in den Mittelpunkt stellen. Das christliche Menschenbild geht eben nicht von einer fertigen Ordnung aus, sondern von der Notwendigkeit, die Lebensumwelt auf der Grundlage einer ethischen Grundüberzeugung immer wieder neu zu gestalten. Vielleicht hat gerade dieser pragmatische und unideologische Ansatz die Christliche Demokratie nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges zur erfolgreichsten politischen Strömung Europas gemacht. Erfolg hat viele Väter und Mütter, aber dass sich ein Strang dieser Erfolgsgeschichte nach Köln zurückverfolgen lässt, dürfte außer Frage stehen.

Michael Borchard (1967) ist Leiter in der Konrad-Adenauer-Stiftung das Archiv für Christlich-Demokratische Politik. Zuvor war er Leiter des Büros der Stiftung in Jerusalem und der Hauptabteilung Politik und Beratung sowie Redenschreiber für Helmut Kohl und Bernhard Vogel. er studierte Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Öffentliches Recht an der Universität Bonn.

 

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