Georg Schütte plädiert dafür, den Erwartungshorizont bei Forschungsvorhaben nicht zu eng anzusetzen, denn das Scheitern gehöre ebenso zur Wissenschaft wie glanzvolle Erfolge.
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Georg Schütte
Forschungsförderung als Zukunftsinvestition
Die Bekämpfung des Klimawandels, der schonende Umgang mit den natürlichen Ressourcen oder die Überwindung von Ungleichheiten sind Beispiele für drängende Zukunftsherausforderungen, die ein Zusammenwirken aller gesellschaftlicher Kräfte, von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft – und auch der Wissenschaft, erfordern, um überhaupt voranzukommen. Aufgrund der Komplexität dieser Herausforderungen kommt Wissenschaft dabei eine zunehmend wichtige Rolle und Funktion zu. Wird Wissenschaft so immer mehr in ihrer Problemlösekompetenz angesprochen, sind die Erwartungen der Gesellschaft entsprechend hoch. Gegen den Klimawandel sollen technische Lösungen entwickelt werden, neue Materialien oder Prozesse sollen helfen, die Ressourcen zu schonen, und der letzte Wirtschaftsnobelpreis ist für Forschung verliehen worden, die experimentelle Ansätze bietet, globale Armut zu lindern.
Zwischen dem, was Forscherinnen und Forscher machen, und dem, was in Anwendungskontexten dabei herauskommen kann, besteht aber mehr oder minder eine Kluft. Erkenntnisorientierte Grundlagenforschung zielt nicht automatisch auf einen bestimmten Nutzen oder eine spezifische Anwendungsmöglichkeit. Oftmals eröffnen sich solche Möglichkeiten erst nach Jahrzehnten – oder, wie im Fall des von Leibniz erfundenen binären Zahlensystems, das heutzutage die gesamte digitale Welt prägt, sogar erst nach Jahrhunderten. Was anfangs eher wie eine Spielerei des Geistes, unnützes Zeug oder Forschung aus dem Elfenbeinturm wirkt, kann – mit etwas Abstand oder aus einer anderen Perspektive betrachtet – schnell die Welt verändern.
Schon seit einiger Zeit rückt aber ein anderer Forschungstypus in den Vordergrund, der nicht mehr so viel Raum für Langatmigkeit und Geduld bietet, sondern schneller vorankommen möchte: die anwendungsorientierte Forschung oder „mission driven reseach“. Neben der reinen Erkenntnis tritt nun auch ein spezifischer Anwendungskontext oder der Blick auf ein konkretes Problem, das es zu lösen gilt, als Ziel hinzu, ja mehr noch, Wissenschaft soll selbst zu einem Akteur werden, der verändernd oder transformativ auf die Gesellschaft wirkt. Vorangetrieben wird diese Art der Forschung vor allen Dingen durch die Förderstrategien der nationalen und internationalen Wissenschaftsförderer. Angesichts der drängenden Herausforderungen und Probleme unserer Zeit ist dies auch nachzuvollziehen.
Dabei ist jedoch wichtig, den Erwartungshorizont nicht zu eng anzusetzen. Das Beschreiten von Irrwegen, das Scheitern von Experimenten und das Hinterfragen von gemeinhin anerkannten Hypothesen gehört zur Wissenschaft genauso dazu wie glanzvolle Erfolge, denen die Menschheit ihren Fortschritt verdankt. Für beides muss in der Wissenschaft Raum sein. Daher muss eine als Zukunftsinvestition verstandene Forschungsförderung auch beides berücksichtigen und letztlich zweierlei leisten: den Raum für freies Erproben, Erkunden und Explorieren offenhalten und die richtigen Impulse für einen möglichen Anwendungsbezug der Wissenschaft, ihre Problemlösekompetenz oder ihr Veränderungspotential setzen.
Stiftungen nehmen deshalb – neben dem Staat und der Wirtschaft – die Rolle eines in die Zukunft investierenden Wissenschaftsförderers ein. Aus der Wirtschaft initiierte Forschung muss sich immer auch der Erwartung der Profitabilität stellen, was den Raum für Ausprobieren, Scheitern oder Irrwege einengt. Und die staatliche Wissenschaftsförderung steht immer unter dem Vorbehalt, dass sie im politischen Prozess legitimierbar sein muss und sich der hohe Aufwand von Steuergeldern rechtfertigen lässt. Deutlich mehr Freiheiten kann da eine private Stiftung bieten und jenseits von Profitabilität, Wahlperioden oder Machtkonstellationen in die Eigenlogik von Wissenschaft und die Lösung von Zukunftsherausforderungen investieren. Mit ihrem eigenen Kapitalstock und den daraus gewonnenen Erträgen kann sie komplementär zu Wirtschaft und Politik weitere Förderziele und -ansätze verfolgen. Es ermöglicht ihr, einen deutlich längeren „Investitionshorizont“ in den Blick zu nehmen, langfristiger zu denken und Förderansätze zu wählen, die der Wissenschaft deutlich besser entsprechen.
Als Förderin kann eine Stiftung gewissermaßen Wagniskapital für die Wissenschaft bereitstellen und somit das Risiko tragen, dass die von ihr finanzierten Forschungsprojekte auch scheitern oder nicht die gewünschten oder erwarteten Ergebnisse liefern. Das macht sie offener für die Zukunft und wirklich neue, originelle oder kreative Lösungsansätze. Zugleich ist eine wissenschaftsfördernde Stiftung, wenn sie gemeinwohlorientiert ist, aber nicht vollkommen losgelöst von den Erwartungen, die die Gesellschaft zu Recht an die Wissenschaft heranträgt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie ihren Erwartungshorizont genauso eng stecken muss wie andere Akteure. Vielmehr kommt ihr die Aufgabe einer Mittlerin zu, die der Wissenschaft gezielt Impulse setzt, ihre gesellschaftliche Relevanz, ihre Problemlösekompetenz oder ihr transformatives Potential zu entdecken und freizusetzen. Zugleich sollte sie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dabei unterstützen, mit der Gesellschaft in einen wechselseitigen Dialog zu treten. Stiftungen können Brücken bauen, verschiedene Akteure zusammenführen, neuartige Kooperationen initiieren oder Plattformen für Debatten und Auseinandersetzungen bieten, für die man einen neutralen Boden braucht.
Die von mir seit Jahresbeginn als Generalsekretär geleitete VolkswagenStiftung engagiert sich auf allen diesen Feldern: Mit ihren „Freigeist-Fellowships“ bietet sie Postdocs einen langfristigen Förderhorizont, innerhalb dessen sie ihr eigenes Projekt mit der notwendigen Ruhe und viel Freiraum für Kreativität und Originalität verwirklichen können. Mit der Initiative „Experiment!“ begibt sich die Stiftung gezielt auf die Suche nach neuen, originellen und gewagten Forschungsideen, die nicht zwangsläufig auf einen Erfolg hinauslaufen müssen, sondern auch ein gewisses Risiko zu scheitern in sich tragen. Bewusst setzt sie daher neben dem klassischen Peer Review auch auf ein teilrandomisiertes Auswahlverfahren, also eine Art Losverfahren, das die Auswahl der Fachjury ergänzt und ein Tor für Ideen bietet, an die bisher noch keiner gedacht hat. Und mit dem Förderangebot „Global Issues – Integrating Different Perspectives“ regt sie – im Verbund mit europäischen Partnerstiftungen – kooperative Forschungsprojekte an, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerinnen aus Ländern mit hohem Einkommensniveau mit solchen aus Ländern mit mittlerem oder niedrigerem Einkommensniveau in symmetrischen Partnerschaften miteinander verbinden. Mit diesem Förderprogramm sollen unterschiedliche Perspektiven und Wissenschaftskulturen zu einem fruchtbaren Austausch über die Themen „soziale Ungleichheit“, „globale Gesundheit“ und dem Verhältnis von „Mensch und Umwelt“ zusammengeführt und integriert werden.
Forschungsförderung als Zukunftsinvestition bedeutet genau das: das Einräumen von Freiheiten und Freiräumen, das Zulassen von originellen Ideen und Forschungsansätzen jenseits des Mainstreams und das Ermöglichen von neuen Kooperationen und Konstellationen jenseits nationaler, institutioneller oder disziplinärer Grenzen.
Dr. Georg Schütte (1962) ist seit 1. Januar 2020 Generalsekretär der Volkswagen-Stiftung. Er hat Journalistik an der TU Dortmund sowie Television and Radio an der City University of New York studiert. Nach verschiedenen Stationen im In- und Ausland war Dr. Schütte von 2009 bis 2019 als Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung tätig.