Klaus Mertes befasst sich vor dem Hintergrund des Missbrauchsskandals mit „Vergebung“ und „Versöhnung“ als „Weihnachtsgeschenk des Himmels“.
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Klaus Mertes
WEIHNACHTSWORT 2019
„Christ ist erschienen uns zu versühnen“ – dieses beliebte und schöne Weihnachtslied ist schnell gesungen. Ebenso schnell ist übersehen, was für eine gewichtige Botschaft diese Zeile enthält. Da sich der kreuz-und-quer-Blog im Herbst intensiv an der Entschädigungsdebatte in der katholischen Kirche beteiligt hat, möchte ich diesen aktuellen Kontext heranziehen, um etwas zu der Botschaft von Weihnachten zu sagen, und zwar vermittelt über die beiden Schlüsselbegriffe „vergeben“ und „versöhnen“:
VERGEBEN
Wie schnell es anlässlich kirchlicher Verkündigung zur Explosion kommen kann, wenn die Abwesenheit der Opfer unreflektiert vorausgesetzt wird, machte im Sommer dieses Jahres ein Vorfall in der Diözese Münster deutlich, der bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Ein Pfarrer predigte über Vergebung und ermahnte die Gemeinde, man solle auch den priesterlichen Missbrauchstätern vergeben. Darauf standen mehrere Personen auf und verließen protestierend den Raum. Sie wollten – zu Recht, wie ich finde – darauf aufmerksam machen, dass Opfer von Missbrauch im Raum anwesend sind und dass aus dieser Perspektive unerträglich sei, sich solche Ermahnungen zumal aus dem Mund von Klerikern anzuhören.[1]
Opfer von Machtmissbrauch leiden oft unter Schuldgefühlen, Täter hingegen nicht – oder fühlen sich gar als Opfer, wenn ihre Taten auf sie zurückfallen. Besonders trifft Betroffene dann der Vorwurf, Tätern nicht vergeben zu wollen. Der Vorwurf tritt umso anmaßender auf, je weniger sich die Täter selbst schuldig fühlen. Vor diesem Hintergrund horchen Betroffene kritisch auf, wenn von Vergebung, Feindesliebe und Barmherzigkeit die Rede ist. Wenn eine unterkomplexe Predigt über Barmherzigkeit, Feindesliebe und Vergebung hinzukommt, drückt es sie tiefer in ihr Dilemma hinein, das sie selbst nicht verschuldet haben. „Werde ich schuldig, wenn ich nicht vergeben kann? Ist für mich als betroffene Person also in der Kirche kein Platz mehr?“ Es ist nur zu verständlich und berechtigt, dass sich dagegen Widerstand regt.
Es muss klar sein: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ (Lk 23,34) darf ergänzt werden mit dem Zusatz: „ … ich kann es nicht.“ Gewaltopfer dürfen die Täter ein Leben lang nicht mehr sehen und ihnen einen Leben lang nicht mehr die Hand reichen wollen, ohne deswegen moralisch verurteilt zu werden. Feindesliebe wird schon dann praktiziert, wenn Betroffene auf Rache verzichten: „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ – so Antoine Leiris, dessen Frau und Tochter beim Pariser Terroranschlag im November 2015 ums Leben kamen. Mit dem Gebot der Feindesliebe ist der Anspruch auf Gerechtigkeit nicht aufgehoben. Deswegen war und ist die Entschädigungsdebatte, die im Herbst dieses Jahres begonnen hat, notwendig – und auch noch keineswegs am Ende.
VERSÖHNUNG
Der Begriff der Vergebung hat die geschädigten Personen als Subjekte im Blick – sie sind es, die im Fall der Fälle vergeben dürfen/können/sollen. Der Begriff der Versöhnung hingegen nimmt den Prozess zwischen Opfern und Tätern in Blick. So kommt auch der Täter als Subjekt in den Blick. Ohne tätige Reue der Täter, ohne Übernahme von Verantwortung und von gerechter Strafe, und auch ohne Entschädigung kommt Versöhnung nicht zustande. A Weihnachten kommt Botschaft des Evangeliums hinzu, dass Gott sich aktiv an dem Versöhnungsprozess beteiligt: Das Kind von Bethlehem ist der Welt geschenkt, um zu „versühnen“. In der Eucharistiefeier ist der Begriff der Versöhnung grundlegend für deben dieses Geschehen: Gott versöhnt die Sünder mit sich und untereinander, Christus trägt als das Lamm Gottes die Sünde stellvertretend für alle.
Aus der Opferperspektive ergibt sich bezüglich dieser zentralen Botschaft des christlichen Glaubens allerdings Klärungsbedarf. Vergibt Gott Tätern ihre Sünden an den Opfern vorbei? So verstanden es jedenfalls viele Täter, als sie ihre Sünden im Beichtstuhl beichteten und sich dann von Gott und vor Gott absolviert fühlten. Andererseits: Macht Gott seine Vergebungsbereitschaft abhängig von der Bereitschaft der Opfert zu vergeben? Auch das geht nicht, denn dann läge die ganze Last für das Gelingen des Versöhnungsprozesses bei den Opfern, und dann wird es wiederum verständlich, warum Opfer dem Begriff der Versöhnung mit ähnlichem Misstrauen begegnen wie dem Begriff der Vergebung.
Umgekehrt wird allerdings ein Schuh daraus. Die Täterseite muss auf die Opferseite zugehen, nicht umgekehrt. Die Täterseite muss eine Leistung für den Versöhnungsprozess erbringen – nebenbei: eine ziemlich „katholische“ Position. Versöhnung ist nicht nur „Gnade“, sondern setzt eine Leistung aus Seiten des „Sünders“ voraus. Gnade vom Himmel und Prozess auf der Erde gehören zusammen. Zugleich allerdings zwingt diese Leistung von der Täterseite die Opferseite nicht dazu, zu vergeben. Selbst wenn die Täter oder die Kirche in ihrer Mitverantwortung für das Geschehen der Gewalttat „geliefert“ haben – zum Beispiel Entschädigungsbeträge –, bedeutet das nicht, dass die Opferseite dann zur Versöhnung verpflichtet ist.
Es kann sein, dass es Opfern für sich selbst gut tut, sich auf Versöhnung einzulassen, oder sogar der Täterseite einen „Akt der Versöhnung“[2] vorzuschlagen. Denn Unversöhnlichkeit kann ja auch eine Falle sein, die das Opfer an den Täter kettet. Viele Betroffene berichten, dass Ver-Gebung, oder besser: Loslassen ihnen selbst gut tut, ohne dabei von Versöhnung mit dem Täter oder der Täterseite zu sprechen. Ob und wie und wann das geht, kann nur die einzelne betroffene Person jeweils für sich selbst entscheiden. Viele Betroffene ersehnen für sich diesen Moment, an dem sie für sich Frieden finden. Vergeben wäre dann in im gläubigen Kontext ein Loslassen, das dem Himmel weiteren Raum öffnet, eine Versöhnung zu wirken, wie das Opfer sie sich nicht vorstellen kann, nicht muss und vielleicht auch (jetzt noch) gar nicht will. In diesen offenen Raum steigt das Kind von Bethlehem ein – gewaltfrei und zugleich voller Leben und Bereitschaft zu vereinen, was durch Gewalt getrennt wurde oder gar zerstört wurde. „Christ ist erschienen uns zu versühnen“ – weil keine der beiden Seiten, weder Opferseite noch Täterseite, es allein kann. Versöhnung ist eben das Weihnachtsgeschenk des Himmels.
[1] Berichterstattung siehe katholisch.de, 9.7.2019
[2] Vgl. Norbert Denef, NetzwerkB, Akt der Versöhnung
Klaus Mertes SJ (1954) ist Kollegsdirektor am Kolleg St. Blasien. Er hat Slawisitik und Klass. Philologie in Bonn studiert und 1977 in den Jesuitenorden eingetreten. Anschließend studierte er Philosphie und kath. Theologie in München und Frankfurt a. M. und wurde 1986 zum Priester geweiht. Nach dem 2. Staatsexamen für Kath. Religion und Latein war er Lehrer an der St. Ansgar-Schule in Hamburg und am Canisius-Kolleg in Berlin, dessen er Rektor er 2000-2011 war. Klaus Mertes ist Redakteur der Jesuiten-Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ , war Mitglied im Zentralkomitee der dt. Katholiken und ist im Kuratorium Stiftung 20. Juli 1944