Jan Woischnik und Alexandra Steinmeyer beschreiben Brasilien als Land in der Krise und wie Olympia dies dem internationalen Publikum offenbart.
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Jan Woischnik / Alexandra Steinmeyer
Brasilien als perpetuum immobile
Kurz vor der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele steht die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung den Spielen kritisch gegenüber, und fast zwei Drittel glauben, dass die Spiele dem Land mehr Probleme als Positives bringen werden. Das verwundert kaum, wird das Land doch gerade von einer massiven wirtschaftlichen und politischen Krise erschüttert, dazu kommt die Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch das Zika-Virus. Übergangspräsident Michel Temer (PMDB) fehlt der lange Atem für dringend not-wendige politische Strukturreformen. Er verkörpert zudem nicht die politische Erneuerung, die zur Überwindung der Vertrauenskrise nötig wäre.
Als Brasilien im Jahr 2009 den Zuschlag für die Ausrichtung der Olympischen und Paralympischen Sommerspiele 2016 erhielt, war in weiten Teilen der Gesellschaft die Freude groß. Olympia verhieß nicht nur ein Konjunkturpaket und innovative Infrastrukturprojekte, sondern vor allem internationale Aufmerksamkeit, die das Land als selbstbewusstes Schwellenland wie selbstverständlich für sich beanspruchte.
Olympia-Vorbereitungen zeigten strukturelle Probleme
Zwar wird das Gastgeberland von Olympia 2016 aller Voraussicht nach einerseits positive Effekte verzeichnen können – doch die Vorbereitungen auf die Spiele zeigten andererseits strukturelle Probleme des Landes: Mitten in der Aufdeckung des „Lava Jato“-Korruptionsnetzwerks rund um den halb-staatlichen Ölkonzern Petrobras wurden auch im Zusammenhang mit den Bauprojekten für Olympia Korruptionsvorwürfe laut. Außerdem rief der Bundesstaat Rio de Janeiro im Juni den „finanziellen Notstand“ aus – ein Instrument, das üblicherweise zur Reaktion auf Naturkatastrophen oder dergleichen eingesetzt wird –, um finanzielle Unterstützung aus dem Bundeshaushalt zu erhalten. Diese Finanzhilfe wird allerdings keines der vielen bestehenden Probleme des Bundesstaats lösen, etwa in der Gesundheitsversorgung oder im Bildungssektor.
Zuvor hatte der Bundesstaat über Monate hinweg die Zahlungen für Gehälter von Staatsangestellten und Pensionen und Renten ausgesetzt oder reduziert. Auch Rios Polizei und Feuerwehr mussten und müssen in Teilen auf ihre Bezahlung warten, zudem wird an Treibstoff für Fahrzeuge und Helikopter gespart – in einer Stadt mit ohnehin prekärer Sicherheitslage angesichts von Olympia ein Spiel mit dem Feuer. Zwei Wochen vor der Eröffnung der Olympischen Spiele wurden zudem zehn Brasilianer fest-genommen, die mutmaßlich einen Terroranschlag während Olympia planten.
Brasiliens Politik gelähmt zwischen Präsidentin und Präsident
Wenn sich zur Eröffnung der Olympischen Sommerspiele am 5. August die Augen der Weltöffentlichkeit auf Brasilien richten, werden sie ein Land in der wirtschaftlichen wie politischen Krise erblicken, aus der Übergangspräsident Michel Temer (PMDB) sein Land nicht führen kann. Der ehemalige Vize übernahm das Präsidentenamt im Mai zu-nächst übergangsweise, nachdem die bis dato Staatspräsidentin Dilma Rousseff (Partido dos Trabalhadores (PT), Arbeiterpartei) vorübergehend ihres Amtes enthoben wurde. Sachgrund des Verfahrens waren Ungereimtheiten bei der Aufstellung des Bundeshaushalts (so sollen unter Rousseff Zahlungen an staatliche Banken systematisch verspätet geleistet worden sein, was Darlehen der Banken an die Regierung gleichkäme, die die brasilianische Verfassung untersagt).
Doch vorrangig hatte die Präsidentin den Rückhalt in Parlament und Bevölkerung durch mangelhaftes Krisenmanagement, unzureichendes Erklären ihrer Politik und unterlassene Reformtätigkeit verspielt. Ein Misstrauensvotum ist in Brasilien nicht vorgesehen, stattdessen wurde das Amtsenthebungsverfahren – entgegen seines verfassungsmäßigen Zwecks – eingesetzt. Die Abstimmung über Rousseffs endgültige Amtsenthebung im Senat wird für Ende August erwartet. Laut einer Umfrage der Zeitung Estadão gibt die Hälfte der Mitglieder des Senats an, für eine Amtsenthebung stimmen zu wollen, ein knappes Viertel werde dagegen stimmen, und ein gutes Viertel sei unentschieden oder äußert sich nicht – zwei Drittel wären nötig.
Temer repräsentiert das Establishment
Bevor der heute 75-jährige Michel Temer 2011 unter Rousseff Brasiliens Vizepräsident wurde, war er 20 Jahre lang Mitglied des Abgeordnetenhauses, dem er zweimal als Präsident vorstand, und als Anwalt und Generalstaatsanwalt des Bundesstaats São Paulo tätig. Seit 1981 ist er Mitglied des Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB, Partei der brasilianischen demokratischen Bewegung). Deren Vorgängerpartei wurde 1966 als einzig zugelassene Oppositionspartei unter der Militärdiktatur gegründet und damit zum Sammelbecken oppositioneller Kräfte. Mit dem Ende der Militärdiktatur konnte sich die PMDB als pragmatische Partei ohne programmatische Grundlage etablieren, aktuell ist sie die mitgliederstärkste Partei des Landes.
Seitdem der Kandidat der PMDB bei den Präsidentschaftswahlen 1994 grandios scheiterte, hat die Partei keinen eigenen Kandidaten mehr aufgestellt. Stattdessen setzt die Partei auf die „Königsmacher-Strategie“: Dank ihrer starken Präsenz im Parlament ist ihre Unterstützung so gut wie unerlässlich für jede Regierung. So war die PMDB, von 2001 bis April dieses Jahres unter der Führung von Temer, Teil fast aller Regierungskoalitionen. Aufgrund von Temers Einsatz trat sie der Regierungskoalition von Luiz Inácio „Lula“ da Silva (PT) in dessen zweitem Mandat bei – was schließlich den Grundstein legte für Temers Vizepräsidentschaft unter Lulas Nachfolgerin und Protégée Rousseff. Mit Michel Temer stellt die PMDB bereits zum dritten Mal den Staatspräsidenten – der Vizepräsident übernahm das Amt wegen Tod, Rücktritt oder nun (bisher vorübergehender) Amtsenthebung des Staatspräsidenten bzw. der Staatspräsidentin.
Mit mehr als drei Jahrzehnten Politik-Erfahrung ist Übergangspräsident Temer ein Vertreter des politischen Establishments. Er beherrscht die politische Klaviatur Brasiliens, in dessen extrem fragmentiertem Parlament Mehrheiten permanent neu ausgehandelt werden müssen, besser als Rousseff. Allerdings steht er nicht für politische Erneuerung – doch genau danach sehnt sich ein großer Teil der Bevölkerung, da die Politik des Landes noch immer von den Protagonisten der Zeit der Redemokratisierung 1985 geprägt wird und Korruptionsskandale das Vertrauen in die Politik erschüttern.
Der Übergangsregierung fehlt langer Atem
Mit der Aufstellung seines Kabinetts sorgte der Übergangspräsident in Brasilien und international für große Verwunderung, enthielt es doch keine einzige Frau. Stattdessen präsentierte Temer seinem jungen und ethnisch-kulturell vielfältigen Land ein Kabinett alter, weißer Männer. Das zeigte, dass das oberste Anliegen des Übergangspräsidenten nicht der Rückhalt in der Bevölkerung ist, sondern im Senat, der ihn vom Übergangs- zum definitiven Staatspräsidenten machen könnte. Anschließend traten innerhalb eines Monats drei Minister zurück: Dem Tourismusminister Henrique Alves wurde Korruption vorgeworfen; Planungs-minister Romero Jucá und – ausgerechnet – der ehemalige Transparenzminister Fabiano Silveira hatten mutmaßlich versucht, die Ermittlungen im „Lava Jato“-Korruptionsskandal zu behindern, wie aus geleakten Tonaufnahmen hervorging. Weitere Minister stehen unter Korruptionsverdacht. Temers Haltung zur Aufklärung des Korruptionsskandals ist umstritten, und einige befürchten eine Eindämmung der Aufklärung. Auch die Kommunalwahlen im Herbst dieses Jahres begünstigen politischen Stillstand. Zudem prüft das Oberste Wahlgericht Unregelmäßigkeiten im Wahlkampf, aus dem Rousseff und Temer siegreich hervorgingen. Es könnte die Wahl für ungültig erklären und Neuwahlen ausrufen. Bei all diesen Ungewissheiten fehlt Temers Regierung der lange Atem für Veränderung.
Anzeichen wirtschaftlicher Erholung
Positiver hat sich die brasilianische Wirtschaft entwickelt, dem Internationalen Währungsfond zufolge habe das Land die Talsohle der Wirtschaftskrise bereits durchschritten: 2016 werde die brasilianische Wirtschaft weniger stark schrumpfen als im Vorjahr, und für 2017 wird gar ein leichtes Wachstum erwartet. Der brasilianische Börsenindex Bovespa hat im laufenden Jahr um mehr als 30% zugelegt (der Dax verlor im gleichen Zeitraum gut 2%), was einerseits der extrem schlechten Ausgangslage zuzuschreiben ist, andererseits haben Brasiliens Währung Real und seine Börsen externe Schocks wie Großbritanniens Brexit-Referendum kaum gespürt. Die Wirtschaftspolitik war und ist ein Schwerpunkt von Temers Übergangsregierung: Mit Henrique Meirelles wählte er einen Finanzminister, der zuvor in wirtschaftlichen Boomjahren Chef der Zentralbank war und das Vertrauen der internationalen Märkte genießt. Der starken Binnenorientierung des Landes – in nur fünf Ländern weltweit macht der Außenhandel einen geringeren Teil der Wirtschaftsleistung aus – begegnet Temers Regierung mit Vorhaben zur Senkung der hohen Importzölle und Investitions- bzw. Handelsabkommen. Auch Privatisierungen und strengere Haushaltsdisziplin (von der allerdings bisher wenig zu spüren ist) sollen das Vertrauen von Investoren stärken.
Doch grundlegendere Reformen sind gefordert: Nach dem Ende des Commodity-Booms muss Brasilien seine Industrie stärken und Standortfaktoren verbessern – Stichwort Bürokratieabbau und Korruptionsbekämpfung –, um nicht ausschließlich zum Rohstofflieferanten für China zu werden. In Ermangelung eines Wohlfahrtsstaates lassen Arbeitslosigkeit und Inflation die Bevölkerung die massive Wirtschaftskrise täglich spüren – Temer braucht also sichtbare Erfolge, und zwar bald.
Fazit: Olympia kommt und geht, Brasiliens Probleme bleiben ungelöst
Brasilien befindet sich seit Beginn der massiven Wirtschaftskrise 2014, die die politische Krise einläutete, im politischen Stillstand. Zwar deutet sich momentan ein Silberstreif am wirtschaftlichen Horizont an, doch die politischen Unwägbarkeiten könnten auch diesen zunichte zu machen. So werden Brasiliens Probleme auch nach Olympia ungelöst bleiben – oder sich, etwa im Bereich der öffentlichen Sicherheit, wohl noch verschlimmern. Übergangspräsident Michel Temer ist bisher nicht in der Lage, den Zustand des politischen „perpetuum immobile“ zu beenden. Auch wenn ihn eine endgültige Amtsenthebung Rousseffs definitiv zum Staatspräsidenten machen sollte, fehlt ihm voraussichtlich der lange Atem für mutige Strukturreformen, die Brasilien so dringend braucht.
Große Teile der brasilianischen Politik haben sich durch täglich neue Korruptions-Enthüllungen nachhaltig selbst diskreditiert, und auch Temer ist keine Ausnahme: Gegen ihn sind Verfahren wegen Korruption und Ungereimtheiten in der Wahlkampffinanzierung anhängig. Sollte er in Letzterem für schuldig befunden werden, könnte er sich acht Jahre lang nicht zur Wahl für ein politisches Amt stellen. Das Land braucht endlich eine handlungsfähige und reformbereite Regierung – strukturelle Probleme gibt es schließlich genug. Zu erwarten ist allerdings, dass sich der politische Stillstand noch bis zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 hinziehen wird.
Dr. Jan Woischnik (1970) ist Volljurist und seit zwanzig Jahren in der internationalen Arbeit tätig mit Stationen bei der Adenauer-Stiftung, dem Auswärtigen Amt und der Max-Planck-Gesellschaft. Seit November 2015 leitet er das Auslandsbüro der Adenauer-Stiftung in Brasilien.
Alexandra Steinmeyer (1990) ist Politikwissenschaftlerin und Betriebswirtin mit Expertise in den Bereichen lateinamerikanische Politik und soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Auslandserfahrung sammelte sie über Studienaufenthalte in den USA, Mexiko und Spanien, sowie über Praktika bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in Chile und bei einer guatemaltekischen zivilgesellschaftlichen Organisation. Seit Februar 2016 ist sie Trainee der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brasilien.“