OSTERWORT 2015

Johannes Siebner SJ berichtet wie ihn eine Langspielplatte auf dem langen Weg zu Ostern begleitet. 

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Johannes Siebner SJ

Osterwort 2015

„Sie sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte.“ (Lk 24, 14)

Manchmal ist es ein bestimmtes Bild, das bleibt . . . über Jahre. In diesem Fall ist es ein Oster-Bild, das auch deutlich macht, dass ich selber in Jahre gekommen bin, denn im Zeitalter von CDs „funktioniert“ mein Bild vielleicht gar nicht mehr. Ich spreche von einer Schallplatte, ei­ner Platte aus Vinyl, die mein Leben symbolisiert und vor vielen Jahren in einer langen Grün­donnerstags-Nacht mit Jugendlichen das Gespräch geprägt hat.

Nach dem „Ölberg-Gang“ durch den Frankfurter Stadtwald und einer stillen Zeit des Gebets vor dem „leeren Grab“ kam es zu einer intensiven Diskussion mit den Jugendlichen über Tod und Auferstehung Jesu und über unsere je eigene Auferstehung. Wie kann ich mir das denn nun mög­lichst konkret vorstellen? „Das hilft mir nicht, wenn Sie sagen ‚jenseits unserer Vor­stellung von Raum und Zeit‘“, sagte einer der Jugendlichen. Und dann war dieses Bild gebo­ren, eine Vorstel­lung und zugleich der Versuch über „ewiges Leben“, „Gericht“, „Auferste­hung des Leibes“: Wenn mein Leben eine Schallplatte wäre, eine Langspielplatte natürlich, dann sehe ich den An­fang, an dem die Nadel zum Abspielen sich einfügen muss und es ist of­fensichtlich, dass dieses „mein Leben“ ein Ende hat.

Ich schaue aus ganz verschiedenen Perspektiven auf diese Platte und sehe bzw. höre die Schön­heit, die unterschiedlichen Stücke (Abschnitte), die Sprünge und Kratzer. An der einen Seite ist eine gefährlich große Delle drin, weil die Platte vielleicht zu lange der Hitze ausge­setzt war oder aus ganz anderen Grund. Da droht die Nadel beim Abspielen auch mal hängen zu bleiben. Da sind schnelle und langsame Lieder, Barock und Rock ´n´ Roll, mit Gesang und ohne . . . und, ja, ich stelle mir Erlösung, Gericht und Himmel so vor, dass Gott sich dereinst diese meine Platte immer und immer wieder anhört und Freude daran hat (auch an den Krat­zer und an der fiesen Delle). Wie das geht, dass er stets „meine“ Platte hört und auch die von unzähligen anderen, weiß ich nicht und interessiert mich nicht – Gott kann das. Und aus der Vorstellung der Freude Gottes an meinem Leben ziehe ich die Hoffnung auf wirkliche, wirk­mächtige, leibhaftige Versöhnung – liebevolle Annahme des ganzen Lebens. Nicht nur das Gute und Gelungene darf und kann vor Gott sein, sondern mein ganzes, mein konkretes, mein tatsächlich gelebtes Leben – Auferstehung des Leibes.

Vor einigen Wochen sprach mich hier in Bonn nach einem Sonntagsgottesdienst, über 25 Jah­re nach dieser Gründonnerstags-Nacht in Frankfurt ein ca. 40-jähriger Mann an. Ob ich mich an ihn erinnern würde? Nein, musste ich zugeben. Er erzählte von der Karwoche damals und dass wir eine halbe Nacht gebetet, diskutiert, gesungen und geschwiegen hätten. Er war noch Schüler da­mals, kurz vor dem Abitur, und sie waren als Gruppe damals dabei. Ich erinnerte mich dann na­türlich, wenn auch eher vage. Als er fragte, ob ich etwas Zeit hätte und ob wir uns in den Eingang der Kirche setzen wollten, stimmte ich gern zu. Es ergab sich und so wa­ren wir sehr schnell in­tensiv im Gespräch.

Der Mann erzählte vor allem, die Erzählung drängte gleichsam aus ihm heraus; das war zu­nächst etwas befremdlich. Er berichtete mir von seiner Krebserkrankung am Ende des Studi­ums, der mühsamen Therapie, der Heilung, dem Rückfall, der (eher schlechten) Prognose; er sprach ein wenig von Bekannten, Verwandten und Freunden und wie schwer Manchem die Treue ist. Und er erzählte von dem Glück der Liebe zu einer Frau, die jetzt seit einigen Jahren das Leben mit ihm teilt; sie würde sich bestimmt über einen Besuch freuen. Er habe ihr näm­lich schon einige Male seine Vorstellung vom Leben und eben auch vom Tod zu erklären ver­sucht. Und immer wieder komme er zurück auf das Bild von der Schallplatte, das damals in der Nacht von Grün­donnerstag auf Karfreitag das Gespräch bestimmte. Es freue ihn sehr, dass er mir jetzt davon be­richten kann.

Das Bild bedeutet ihm sehr viel. Es ist wahrscheinlich keine große Theologie, aber das mache ihm nichts aus. Er habe mal mehr und mal weniger Panik vor dem Sterben, aber kaum Angst vor dem Tod. Er grüble oft über den Sinn des Lebens und den Unsinn seiner Krankheit; er sei un­glücklich und froh zugleich, dass er seine Frau erst so wenige Jahre kennt und dass sie kei­ne Kin­der haben werden. Er sprach ganz ernst und dann wieder leicht und beschwingt; fast belehrend war sein Ton, als er mir von der tollen Arbeit der Pfleger und Ärzte seiner Onkolo­gie sprach . . . . wir haben lange beisammen gesessen im Windfang der Kirche und uns einige Tage später erneut getroffen.

„Sie sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte.“ (Lk 24, 14) Die Emmaus-Jüng­er. Sie gehen weg aus Jerusalem, ja sie fliehen fast nach den dramatischen Tagen; sie ma­chen auf den Weg und reden über das, was sie erlebt haben, was sie bedrückt und wovon das Herz voll ist. Sie sind so sehr vertieft in ihren Gedanken und so sehr bei sich selbst, dass sie den Fremden, der sich ihnen an­schließt gar nicht wahrnehmen, geschweige denn, ihn erken­nen: „wie mit Blindheit geschlagen“, eingebunden in allzu komplizierte Zusammenhänge, überwältigt von der eigenen Betroffenheit. Auf der scheinbar sachlichen Ebene („was sind das für Dinge“) lassen die beiden sich dann ansprechen, und die ganze Enttäuschung und Trauer platzt aus ihnen heraus. Sie riskieren ja nichts; in der Be­ziehung mit dem Fremden kann nichts kaputt gehen; dem Frem­den können sie sich in der ganzen Aufgewühltheit ih­rer Gedanken und ihres Herzens zumuten.

Die Beiden erzählen also, was ihnen wichtig ist und was sie beschäftigt. Leidenschaftlich wird ihr Erzählen und Erinnern, es bekommt Zeugnischarakter: da war so viel Aufbruch und Hoff­nung, so viel religiöse Sehnsucht, so viel politisches Erwachen. Dieser Jesus hätte die Wende bringen oder mindestens doch einleiten können. Aber es hat nicht sollen sein. „Unsere Füh­rer“, die eigenen Leute also, haben dem Traum vom Neuanfang ein brutales Ende ge­setzt. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Einige aus un­serm Kreis hoffen wei­ter, ja sie glau­ben, dass in diesem Scheitern ein neuer Anfang liegt und dass im Tod unseres Hoffnungsträgers der Keim zu neuem Leben liegt. Aber wir sehen keinen Anlass zu dieser Hoffnung – ganz im Gegen­teil.

Ebenso ungeschminkt kommt dann auch die Re­aktion des Fremden. Er konfrontiert die beiden Männer mit ihrer eigenen Tradition, mit ihrer eigenen Überzeugung, mit ihrem Glauben. In weni­gen Sätzen deutet er einen mög­lichen Sinn des Geschehens an; aber das überzeugt nicht – oder fehlt es den beiden an Vertrauen?

Der Weg, der dies offene Gespräch möglich mach­te, geht zu Ende – die Zufallsbekanntschaft auch. Da stem­men sich beiden innerlich auf: sie wollen nicht schon wie­der verlieren, was so hoffnungsvoll begonnen hat, nicht schon wieder scheitern. In einer Mischung aus selbstverständl­icher Gastfreundschaft und hilfloser Verwirrung ge­hen sie ein zweites Mal auf den Fremden zu. Sie laden ihn ein zu bleiben.

Schließlich erkennen sie ihn wieder, als er das Not-wendige mit ihnen teilt. Sie erkennen im Be­gleiter „ihrer“ Wege den Begleiter aller Wege und können ihn doch nicht halten, nicht ein­binden, nicht nutzbar machen für sich, nicht „haben“. Fragend tasten die Beiden sich an die eben ge­machte Erfahrung heran; wieder verleihen sie ihrer alten und jetzt so neuen Sehnsucht Ausdruck. Und sie brechen auf; sie machen sich erneut auf den Weg – ein Weg, der sich im wahrsten Sinne des Wortes als Umkehrweg gestaltet. Wie­der geben sie Zeugnis

Fast alles passiert in dieser Geschichte auf dem Weg, und doch ist der Weg nicht das Ziel. Die Jünger haben ein Ziel: Emmaus. Lukas überliefert uns die Erzählung vom Weg nicht, um sich über das schein­bar bescheidene Ziel der Beiden zu erheben. Emmaus ist das konkrete Ziel dieses konkreten Weges. Das Ziel verändert sich aber auf dem Weg bzw. aufgrund des Weges. Das Ziel verändert seinen Charakter auf dem Weg; ein neues Ziel tut sich auf: die Be­gegnung mit dem Herrn, dem auferstandenen Herrn, dem Herrn all unserer Ge­schichten und all unserer Wege.

„Mir hat das oft geholfen, das Bild von der Schallplatte und unsere durchwachte Nacht da­mals“, sagte der Mann. Er habe sich, ich möge nicht lachen, einige alte Schallplatten der El­tern aufgeho­ben und online einen Plattenspieler gekauft. Nicht gerade ein „Herrgottswinkel“, denke ich; keine Ikone; aber da ist eine starke Hoffnung, da ist ein starker Glaube und da ist großes Vertrauen auf einen Gott, der treu ist. Unsere teilweise hitzige Diskussion vor vielen Jahren, der jugendliche Versuch eines theologischen Diskurses atmet plötzlich die eiskalte Luft der Ölbergnacht, die Dunkelheit des Karfreitags, die Gottverlassenheit, ja Hölle des Kar­samstag („descensus ad infe­ros“) und das Licht des Ostermorgens.

Da ist jemand auf dem Weg, einem langen Emmaus-Gang. Und er gibt Zeugnis, das der Weg gangbar ist, dass er möglich ist und nicht im Nichts enden muss. Dieser Weg ist schon einmal ge­gangen. Es sind ja gar nicht so sehr die zwei Emmäuser, die von sich aus dem Herrn begeg­nen, die den Fremden annehmen, die den Neubeginn wagen. Der Herr ist ja schon auf dem Weg, die Beiden müssen sich „finden Lassen“ von dem, der den Weg schon längst zu seinem Weg ge­macht hat. Dennoch muss der Weg gegangen werden: bleib´ nicht stehen, lese ich da; lasse Dich nicht entmuti­gen. Als Christen sind wir Menschen, die notwendig (die Not wendend) unterwegs sind – Menschen, die (schon und) noch nicht angekommen sind. Da ist von Aufbruch die Rede, vom Gesandt-Sein und von der Verkündigung des Auferstandenen. Es ist von Umkehr die Rede, vom Aufbruch nach Jerusalem – nicht ins Beschauliche, Kleine, Wohlige sondern nach Jerusa­lem, dem Ort der Kon­frontation mit dem Diskurs der Metropolen, mitten in der „Welt“ des Welt­lichen, des Judentums, des Hellenismus, der Heiden, des Säkularen.

Der Weg ist ganz zentral und hat ein Ziel, das nicht der Weg ist: (Mahl-)Gemeinschaft mit dem Herrn und untereinander, Angekommen-Sein beim Herrn . . . und der freut sich daran.
Johannes Siebner SJ (1961) ist Rektor des Aloisiuskolleg in Bonn. Er hat Politikwissenschaft, Philo­sophie und Theologie studiert. 1983 trat er dem Jesuiten-Orden bei und wurde 1992 zum Priester ge­weiht.

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