Die Kirchen im Ukrainekrieg

Prof. Dr. Thomas Bremer

Bereits vor dem Krieg hatte die Ukraine eine äußerst komplexe religiöse Lage. Die Mehrheit der Bevölkerung ist orthodox, doch nach der Unabhängigkeit des Landes 1992 hat sich die Orthodoxie dort in drei Kirchen gespalten, die miteinander im Konflikt lagen. Die größte von ihnen war die „Ukrainische Orthodoxe Kirche“ (UOK), die in Gemeinschaft mit der Russischen Orthodoxen Kirche stand und steht – die beiden anderen wollten explizit keine Anbindung an die russische Orthodoxie, und sie waren in der Weltorthodoxie nicht anerkannt. Außer den orthodoxen Kirchen gibt es zwei katholische Kirchen. Die größere von ihnen ist griechisch-katholisch, also eine Kirche des östlichen Ritus in Gemeinschaft mit dem Papst. Die römisch-katholische Kirche in der Ukraine ist viel kleiner; beide sind stärker im Westen des Landes vertreten. Es gibt auch zahlreiche protestantische Gemeinden. Neben dem Christentum sind auch Islam und Judentum vertreten: Die Krimtataren sind mehrheitlich muslimisch, und die Ukraine war bis zum Zweiten Weltkrieg ein Zentrum des osteuropäischen Judentums.

Zum Jahreswechsel 2018/19 vereinigten sich die beiden unabhängigen Kirchen unter dem Namen „Orthodoxe Kirche der Ukraine“ (OKU). Diese Kirche wurde vom Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, dem Oberhaupt der Orthodoxie, als selbstständig (autokephal) anerkannt. Das führte zu einem Konflikt mit dem Moskauer Patriarchat – seither ist die Gemeinschaft zwischen beiden Patriarchaten zerbrochen. Die OKU versteht sich ausdrücklich als nationale Kirche der Ukraine.

In dieser Situation begann der Krieg Russlands gegen die Ukraine.
Gleich am ersten Tag erklärte das Oberhaupt der UOK, die in Gemeinschaft mit der Russischen Orthodoxen Kirche steht, dass Russland die Ukraine angegriffen habe, rief zum Gebet für die Verteidiger des Vaterlandes auf und forderte den russischen Präsidenten Putin auf, den Krieg zu beenden. Der russische Patriarch hingegen erklärte die Geschehnisse in dem Sinne, dass sich die Bewohner des Donbass gegen die Werte wendeten, die der Westen ihnen aufzwingen wolle. Er wiederholte damit das Narrativ der russischen Regierung. Er beschwor die Einheit zwischen Russen und Ukrainern, die von bösen Kräften von außen unterminiert wurde, sprach nicht von „Krieg“ und rief auch nicht zu dessen Ende auf.

Die UOK reagierte auf diese Zurückhaltung des Patriarchen sehr deutlich. Ihr Leitungsgremium, der Synod, publizierte einen Aufruf an den Patriarchen, sich an die russische Führung zu wenden, damit diese den Krieg beende. All diese Appelle der UOK an ihr geistliches Oberhaupt blieben aber folgenlos, ja wurden in Moskau offenbar ignoriert – jedenfalls gab es keinerlei Reaktion darauf. Dieses Schweigen der russischen Kirche führte mit dem weiteren Kriegsverlauf dazu, dass sich immer mehr Priester und Bischöfe der UOK vom Patriarchen abwandten. Sie sagten, er habe sie im Stich gelassen, und beteten in der Liturgie nicht mehr für ihn. Zahlreiche Bischöfe der UOK gestatteten ihren Priestern, den Namen Kirills im Gottesdienst nicht mehr zu nennen. Priester verlangten, die Verbindungen zu Moskau ganz abzubrechen. Es ist allerdings interessant, dass nur wenige von ihnen zur OKU übertreten.

Auch in der katholischen Kirche der Ukraine hat der Krieg zu Irritationen geführt. Sie hängen mit der Weigerung von Papst Franziskus zusammen, Russland oder Präsident Putin als den Schuldigen am Krieg zu benennen. Der Papst hat versucht, Einfluss auf die russische Führung zu nehmen – gleich am zweiten Kriegstag suchte er in einem beispiellosen Vorgehen den russischen Botschafter beim Heiligen Stuhl auf. Einige Tage später führte er ein Videogespräch mit dem Patriarchen. Doch vor allem der Kreuzweg am Karfreitag, bei dem eine Russin und eine Ukrainerin das Kreuz eine Station gemeinsam tragen sollten, führte zu Unverständnis und heftigen Protesten bei den ukrainischen Katholiken. Eine Versöhnung, wie sie durch diese Geste symbolisiert werden solle, setze die Reue und Entschuldigung des Täters voraus – das sei aber nicht gegeben. So würden Täter und Opfer auf eine Ebene gestellt. Zwar hat der Papst inzwischen ein für Juni geplantes Treffen mit dem Patriarchen abgesagt, er sprach aber von einer sehr guten Beziehung, die er zu ihm habe, und nannte nach wie vor die russische Verantwortung nicht beim Namen. In der Ukraine stieß diese Haltung des Oberhaupts der katholischen Kirche auf Unverständnis und Empörung. Selbst die früher propagierte Idee, der Papst möge Kiew besuchen, wird inzwischen als nicht mehr zweckdienlich gesehen.

Der Krieg hat also die ohnehin verworrene Kirchenlandschaft der Ukraine noch weiter durcheinandergebracht. Sicher werden sich nach dem Krieg – auch abhängig von seinem Ausgang – neue Konstellationen ergeben. Doch lässt sich jetzt bereits sehr klar voraussagen, dass die russische Orthodoxie erheblich an Mitgliedern in der Ukraine verlieren wird. Das liegt aber an der Haltung des Patriarchats zum russischen Krieg.


Prof. Dr. Thomas Bremer lehrt Ökumenische Theologie, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Die Orthodoxie in Russland und der Ukraine gehört seit langem zu seinen Forschungsschwerpunkten; von ihm liegen zahlreiche Publikationen zu diesem Themenbereich vor.

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