Bernhard Hartmann fragt sich zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven 2020 nach den Ursachen der großen Wirkung von dessen Musik.
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Er ist am 13. Dezember 2019 zur Eröffnung des Beethoven-Jubiläumsjahres 2020 im Bonner General-Anzeiger erschienen und ist auch hier zu finden.
Bernhard Hartmann
Der elitäre und der populäre Beethoven
Die Tonfolge ist sehr simpel: e-dis-e-dis-e-h-d-c-a. Federleicht und sehr leise beginnen die Töne zu fließen, werden im zweiten Takt sanft von einem gebrochenen a-Moll-Akkord aufgefangen, sammeln in der E-Dur-Dominante neue Energie und setzen dann ihren Weg fort. Dieser Anfang des Klavierstücks „Für Elise“ ist für viele Menschen die Eingangstür in die Welt Ludwig van Beethovens. Als in der vergangen Woche sich die Teilnehmer der International Telekom Beethoven Competition Bonn per Video-Clip dem Bonner Publikum erklärten, was die Musik des Bonner Komponisten für sie bedeutet, beschrieben gleich mehrere unter ihnen die Begegnung mit „Für Elise“ als Schlüsselmoment für ihre junge Karriere.
Doch selbst für den mittlerweile in der pianistischen Champions League spielenden Virtuosen Igor Levit bedeutet diese schlichte, kleine Melodie noch immer viel mehr als eine sentimentale Erinnerung an frühe Klavierunterrichtsstunden. Levit, der kürzlich erst eine Gesamtaufnahme aller 32 Klaviersonaten Beethovens veröffentlicht hat, empfindet diese Musik als kostbar. „Ich habe mein Konzertexamen mit ‚Für Elise‘ beendet“, berichtete er kürzlich in einem Interview. Bis heute wirkt der Zauber der Musik noch auf ihn.
Dieses kleine Klavierstück gehört aber auch zu jenen Stücken, die selbst bei eingefleischten Beethoven-Verehrern nicht selten einen Fluchtreflex auslösen. Weil man es mit quälend langen Übungsstunden mehr oder weniger talentierter Klavierschüler und Klavierschülerinnen assoziiert, weil der Eiswagen es im Sommer als weit hörbares Erkennungssignal benutzt oder weil es so verdächtig populär ist. Mit der fünften Sinfonie und ihrem „Tatata Taaaah“-Beginn, der neunten Sinfonie und ihrem „Alle Menschen werden Brüder“-Pathos oder der stimmungsvoll-romantischen „Mondscheinsonate“ verhält es sich kaum anders. Was die einen erfreut, darüber rümpfen die anderen die Nase.
Es liegt in der Natur Beethovens und seiner Musik, dass er wie kein anderer das Elitäre und das Populäre vereint. In Japan singen in großen Stadien Tausende Menschen aus voller Seele „Freude schöner Götterfunken“, während mancher Komponist oder Musikologe wie ein Eremit abgeschottet von der Welt in seinem Studierzimmer sich über die Noten der „Großen Fuge“ für Streichquartett beugt, um das Geheimnis dieser komplexen Musik zu ergründen. Einer Musik, die sich für das menschliche Ohr kaum weniger widerspenstig gibt als die quasi mathematisch konstruierten Partituren des Wiener Zwölftöners Arnold Schönberg und die viele Hörer noch heute vollkommen ratlos im Konzertsaal zurücklässt. Einen seiner größten Erfolge erlebte Beethoven, als er am 8. Dezember 1813 mit seinem Wiener Publikum den Sieg der britischen über die französischen Truppen in der Schlacht von Vitoria feierte, die ein halbes Jahr zuvor bei Vitoria-Gasteiz im Baskenland stattgefunden hatte. „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria“ heißt das Werk, bei dem der Komponist dem Affen mit Riesenorchester, Schlagzeug und Kanonenschlägen inklusive so richtig Zucker gibt. Ein irres Spektakel, dessen Wiederholung die Wiener nachdrücklich einforderten.
Dass im selben Konzert die siebte Sinfonie, die Richard Wagner als die „Apotheose des Tanzes“ beschrieb, zur Uraufführung kam, zeigt, dass weder Beethoven selbst noch sein Publikum Berührungsängste kannten, wenn sich so unterschiedliche Werke begegneten. „Wellingtons Sieg““ wird wegen seines affirmativen Charakters heute kaum noch aufgeführt, die siebte Sinfonie hingegen zählt zum Kanon des klassischen Musikbetriebs.
Man kann die (mindestens) zwei Seiten des Phänomens Beethoven auch ganz wunderbar an den Denkmälern ablesen. Wenn wir über den Bonner Münsterplatz spazieren, schauen wir ehrfürchtig zu Beethoven hinauf, der auf einem Sockel stehend und den Stift arbeitsbereit in der Hand, entschlossen ins Weite schaut. Ernst Hähnel hatte das Denkmal für die großen Feierlichkeiten aus Anlass von Beethovens 75. Geburtstag in der Geburtsstadt des Komponisten entworfen. Zum 250. Geburtstag, der in Bonn und weit darüber hinaus von Montag an zwölf Monate lang gefeiert wird, gibt es zwar kein neues Denkmal. Aber schon im Vorfeld hatte der Künstler Othmar Hörl im Auftrag der Vereine „Bürger für Beethoven“ und City-marketing Bonn eine serielle Beethovenstatue gefertigt, die den Bonner Meister nicht mehr in monumentaler Übergröße zeigt, sondern ihn auf knapp unter einen Meter stutzt und mit den Händen in der Hosentasche und einem Lächeln im Gesicht zeigt. Ein radikaler Gegenentwurf zu Hähnel.
Das Spannende aber an Beethoven ist, dass wir ihn in beiden Darstellungen wiederfinden können. Beethoven ist zugleich Monument und einer von uns. Beethoven und seine Musik können ungeheuer einschüchternd wirken, selbst auf andere geniale Komponisten wie Johannes Brahms: „Ich werde nie eine Symphonie komponieren! Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört“, äußerte sich Brahms 1870 gegenüber dem Dirigenten Hermann Levi. Glücklicherweise hat der Meister aus Hamburg dies Versprechen nicht eingelöst, mehr noch: seine erste Sinfonie wurde schon von Zeitgenossen als „Beethoven Zehnte“ tituliert. Was Brahms so pointiert artikulierte, empfinden viele andere Komponisten bis heute ganz ähnlich. Die Sinfonien, Streichquartette und Klaviersonaten sind für sie eine Referenz, die sie zur Auseinandersetzung zwingt.
Der lächelnde Beethoven, der mit den Händen in den Hosentaschen, begegnet uns jedoch auch in seiner Musik. Zum Beispiel in dem hübschen, kleinen Kanon „Bester Herr Graf, Sie sind ein Schaf“, mit dem der damals 53-jährige Komponist den mit ihm befreundeten, etwa gleichaltrigen Moritz Graf von Lichnowsky foppte. Beethoven lächelt aber auch in den größeren Werken. Aus der Verspieltheit der vierten Sinfonie blickt es dem Hörer ebenso entgegen wie aus der Klaviersonate in G-Dur op. 31 Nr. 1, die voller Witz und Ironie steckt. Vielleicht liegen Erhabenheit und Humor aber in keinem Werk so dicht beieinander wie in den „Diabelli-Variationen“, Beethovens letzten großen Werk für Klavier, wobei Beethoven hier dem Dichter Jean Paul sehr nahe kommt, für den der Humor „das umgekehrt Erhabene“ war.
Die Polarität seiner Musik, die Extreme, sind auch Bestandteil von Beethovens Leben gewesen, das vor 249 Jahren im Beethoven-Haus in der Bonngasse begann. Er war trotz cholerischer Züge, die mit seiner zunehmenden Ertaubung immer schlimmer wurden, keineswegs nur der Griesgram, als der er häufig dargestellt wurde. Aus dem „Heiligenstädter Testament“, das er 1802 während einer Kur verfasste, spricht die pure Verzweiflung eines 31-jährigen Musikgenies über die drohende Ertaubung. „Es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück“, vertraut er seinen Brüdern Kaspar Karl und Johann in diesem Brief an. Da war ihm gar nicht nach Lächeln zumute. Man muss Beethoven dafür bewundern, dass er sich schließlich doch nicht von der drohenden Ertaubung unterkriegen ließ. An seinen Freund aus Bonner Tagen, Franz Gerhard Wegeler, schrieb er kurz zuvor noch: „Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, ganz niederbeugen soll es mich gewiss nicht.“ Dass er zugleich an der zweiten Sinfonie arbeitete, deren überschäumender Ton nicht die leiseste Ahnung der verzweifelten Lebensumstände aufkommen lässt, erscheint kaum begreiflich. Da hört man weder Angst noch heldenhaftes Aufbäumen gegen das Schicksal. Die „Eroica“-Sinfonie scheint da noch in weiter Ferne.
Vielleicht sind es die Extreme, die das Faszinosum Beethoven ausmachen. Seine Radikalität in der Kunst, in der er keine Kompromisse einging, selbst dann nicht, wenn befreundete Virtuosen wie der Geiger Ignaz Schuppanzigh mal eine Stelle für unspielbar hielt. „Was kümmert mich seine elende Fidel, wenn der Geist spricht!“, soll Beethoven ihm wenig empathisch entgegnet haben. Grenzen der Spielbarkeit waren für ihn kein Kriterium. Und im Leben kümmerten ihn gesellschaftlich auferlegte Konventionen und Zwänge nicht, obwohl er sicher nicht nur in ökonomischer Hinsicht von seinen adeligen Auftraggebern abhängig war. „Fürst! Was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt. Was ich bin, bin ich durch mich. Fürsten gibt es Tausende. Beethoven nur einen“, soll er 1806 dem Fürsten Karl Lichnowsky mitgeteilt haben.
Diese Stärke macht ihn ebenso menschlich wie die Schwäche, insgeheim vielleicht doch zur adeligen Oberschicht dazugehören zu wollen. Als ein französisches Lexikon in einem Beitrag über Beethoven verbreitete, dass der Komponist ein uneheliches Kind des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm II. sei, sah sich der bürgerliche Komponist zunächst nicht genötigt, zu widersprechen. 15 Jahre lang duldete er, wie die Nachricht sich in bester Fake-News-Manier weiter verbreitete, von Zeitungen und andere Lexikon-Verlagen aufgegriffen wurde. Vielleicht schmeichelte ihm ja das Märchen vom Königssohn. Erst kurz vor seinem Tod dementierte Beethoven auf Drängen von Franz Wegeler das Gerücht. Ein allzumenschlicher Zug des Komponisten, der ihn auch ein bisschen vom Olymp auf die Erde zurückholt. Und damit nahbar macht.
Bernhard Hartmann (1961) studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie mit Promotionsabschluss in Bonn. Seit 1988 war zunächst als freier Journalist beim Bonner General-Anzeiger, seit 1996 ist er dort Feuilleton-Redakteur mit den Schwerpunkten Musik und Musiktheater.