BRASILIEN – 100 TAGE REGIERUNG BOLSONARO

Jan Woischnik und Franziska Hübner sehen Brasilien vor einem hohen Reformdruck, dem die Regierung des neuen rechtspopulistischen Präsidenten auf Dauer nicht ausweichen kann.

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Jan Woischnik / Franziska Hübner

Brasilien – 100 Tage Regierung Bolsonaro

Noch bevor der „Tropen-Trump“, wie der brasilianische Rechtspopulist Jair Bolsonaro auch ge­nannt wird, am 1. Januar 2019 in den Präsidentenpalast Planalto einzog, sahen Beobachter ver­schiedener politischer Couleur die viertgrößte Demokratie der Welt bereits dem Untergang ge­weiht. Zu drastisch waren Bolsonaros wiederholte Aussagen zu Brasiliens Diktaturvergangen­heit, ganz abgesehen von zahlreichen weiteren verbalen Entgleisungen.

Nach über drei Monaten im Amt dominieren weiterhin negative Schlagzeilen die Berichterstat­tung über die neue Regierung im In- und Ausland. Gleichzeitig sind aus dem unmittelbaren Um­feld des Präsidenten weiterhin irritierende Äußerungen zu vernehmen. Ein genauerer Blick auf das Regierungshandeln und erste konkrete Maßnahmen zeigt allerdings ein differenziertes Bild.

Präsident Bolsonaro ist es allem voran gelungen, ein respektables Kabinett zu bilden, das sich aus drei Flügeln zusammensetzt: Zum ersten gehören reformorientierte Technokraten. Hier lan­dete der Präsident vor allem durch die Ernennung von Wirtschaftsminister Paulo Guedes, einem Chicago-Boy, und des Justizministers Sergio Moro, dem wohl landesweit wie international be­kanntesten Korruptionsermittler Brasiliens, einen großen Coup. Dem zweiten Flügel gehören ehemalige Generäle an, die – entgegen allseitiger medialer Befürchtungen – in den vergangenen drei Monaten eine positive, ausgleichende Rolle gespielt haben. Auch der dritte, sogenannte ideologische, Flügel kann nicht einfach pauschal als verheerend abqualifiziert werden, wie etwa persönliche Gespräche in der Hauptstadt Brasilia mit der Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves, gezeigt haben.

Mit seiner Regierungsmannschaft muss Staatschef Bolsonaro nun dringend benötigte Reformen nicht nur vorantreiben, sondern auch rasch umsetzen und greifbare Ergebnisse liefern. Denn Brasilien steht vor immensen Herausforderungen. In den ersten 100 Tagen hat die Regierung be­reits tatkräftig losgelegt: Um dem horrenden Haushaltsdefizit und der wachsenden Staatsver­schuldung Einhalt zu gebieten, erklärte Bolsonaro die von den Vorgängerregierungen ver­schleppte Reform des Sozialversicherungssystem zur Priorität. Am 20. Februar übermittelte er den von Paulo Guedes entworfenen Vorschlag, der nach Auffassung aller Ökonomen die zentra­le Stellschraube zur Sanierung des Haushalts darstellt, dem Abgeordnetenhaus. Das seit 1990 existierende Umlageverfahren soll zu einem kapitalgedeckten System umgebaut werden. Steigen sollen sowohl das Renteneintrittsalter als auch die Beitragszahlungsjahre. Die für die Regierung überlebenswichtige und für die Zukunftsfähigkeit Brasiliens ganz allgemein entscheidende Re­form setzt eine Verfassungsänderung voraus. Zwar stehen die meisten Parteien des Mit­te-Rechts-Spektrums der Reform konstruktiv gegenüber, dennoch muss die Regierung, die über keine Mehrheit in den beiden Kammern verfügt, für die im Kongress notwendige 3/5-Mehrheit parteiübergreifend um Unterstützung werben.

Im Kampf gegen die systemimmanente Korruption und die organisierte Kriminalität sowie zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit hatte die Regierung bereits am Vortag ein von Minister Sergio Moro ausgearbeitetes Gesetzespaket mit 14 Maßnahmen, das sog. „Pacote Anticrime“, an den Kongress weitergeleitet. Es sieht u.a. vor, schwarze Kassen zu kriminalisieren, die sogenannte „Caixa 2“. Ebenso sollen in zweiter Instanz strafrechtlich Verurteilte grundsätzlich die Haftstra­fe antreten müssen, auch wenn das Urteil noch nicht rechtskräftig ist – ein Novum nicht nur im brasilianischen Justizwesen.

Gleichzeitig arbeitet Moro an einer Strategie zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit des Landes, welches jährlich mehr als 60.000 (!) gewaltbedingte Todesopfer zählt. Diesem Ziel diametral entgegen steht jedoch die vom Präsidenten im Januar per Dekret angeordnete Liberali­sierung des Waffenbesitzes. Das dem Wirtschaftsministerium unterstehende Institut für ange­wandte Wirtschaftswissenschaften (IPEA) zeigt in verschiedenen Studien, dass der Anstieg der Mordrate in Relation zu der Anzahl der zirkulierenden Waffen steht.

Zu Irritationen nicht nur in der Zivilgesellschaft, sondern sektorübergreifend führte in den ersten 100 Tagen allem Voran der außenpolitische Zick-Zack-Kurs von Außenminister Ernesto Araújo. Viele Ankündigungen stehen in starkem Kontrast zu Brasiliens traditionellem multilateralen und moderierenden Ansatz. Ebenso wie der Präsident setzt auch der Außenminister auf einen stramm nationalen Kurs. Im Januar zog sich Brasilien aus dem UN-Migrationspakt zurück. Der im Wahlkampf angekündigte Rückzug aus dem Pariser Klimaabkommen ist bisher allerdings nicht vollzogen worden. In der Diskussion um den Klimawandel sieht der Außenminister eine linke Verschwörungstheorie und spricht von „Kulturellem Marxismus“: Ziel sei, die staatliche Regu­lierung zu erhöhen. Internationale Institutionen würden darüber hinaus den Klimawandel als Vorwand missbrauchen, um souveränen Staaten wie Brasilien Vorschriften zu machen und sich in innere Angelegenheiten einzumischen. Die zunächst angestrebte Verlegung der brasiliani­schen Botschaft von Tel Aviv nach Israel ließ die Regierung nach Bolsonaros dreitägiger Israel-Reise fallen. Spätestens nach dem Regierungsbesuch des Präsidenten in Washington Mitte März ist klar, dass die Beziehungen zu den USA enger werden dürften.

Nach den ersten 100 Tagen im Amt befinden sich der Präsident und sein engeres Umfeld ganz offensichtlich immer noch im Wahlkampfmodus. Gleiches gilt für die Opposition, die weiterhin stark polarisiert und Ängste schürt. Entgegen aller Befürchtungen – und entsprechend negativer Berichterstattung gerade auch in vielen deutschen Medien im Vorfeld der Wahl und zum Zeit­punkt des Amtsantritts am 1. Januar 2019 – sind die Institutionen der viertgrößten Demokratie der Welt zumindest zum jetzigen Zeitpunkt aber in einem guten Zustand. Eine (Militär-)Diktatur ist in Brasilien ebenso wenig errichtet worden wie ein faschistisches Regime oder dergleichen. Die beiden wenige Wochen nach Amtsantritt eingebrachten Reformen sind vielversprechend für Brasiliens Zukunftsfähigkeit und rechtsstaatliche Stärkung. Vor allem haben sie das Potential, dem jahrelangen politischen Stillstand ein Ende zu setzen und endlich wieder Gestaltungsspiel­räume zu öffnen.

Von der Umsetzung der Reformen und der Lösung der bestehenden, strukturellen Probleme wird die dauerhafte Legitimierung der Regierung ebenso entscheidend abhängen wie vom Verbleib der beiden „Superminister“ Guedes und Moro im Kabinett. Während der reformorientierte Flü­gel tatkräftig an der Umsetzung innen- und wirtschaftspolitischer Reformen arbeitet, ist die Au­ßenpolitik noch auf der Suche nach einem klaren Kompass. Abzuwarten bleibt, welcher der drei Kabinettsflügel sich langfristig durchsetzen wird. Anstatt sie vorzuverurteilen oder geradezu zu beschimpfen, sollte die neue brasilianische Regierung an ihren Taten gemessen werden.

Fest steht, dass Brasilien als viertgrößte Demokratie, neuntgrößte Volkswirtschaft und in Bezug sowohl auf seine Bevölkerung als auch auf seine Fläche fünftgrößtes Land der Welt – noch dazu mit dem größten Anteil am Amazonasregenwald, dem größten Tropenwald der Erde – und au­ßerdem als Mitglied in G20 und G4 ein außerordentlich wichtiger Partner für Deutschland ist. Schon deshalb empfiehlt sich ein konstruktiver Umgang mit der Bolsonaro-Administration.

Dr. Jan Woischnik (1970) ist Volljurist und seit zwanzig Jahren in der internationalen Arbeit tätig mit Stationen bei der Adenauer-Stiftung, dem Auswärtigen Amt und der Max-Planck-Ge­sellschaft. Seit November 2015 leitet er das Auslandsbüro der Adenauer-Stiftung in Brasilien.

Franziska Hübner (1991) ist Politikwissenschaftlerin. Seit Februar 2018 ist sie Trainee der Konrad-Adenauer-Stiftung im Auslandsbüro Brasilien.

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