Wie wollen wir leben?

Wenn Russland gewinnt – Gedanken zum neuen Buch von Carlo Masala

Dr. Christoph Braß

Professor Carlo Masala hat ein schmales Buch vorgelegt, das sich zu lesen lohnt. Der Titel lautet: „Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario.“ Spätestens seit Russlands völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine ist Carlo Masala gern gesehenen Gast in zahlreichen öffentlichen Debatten. Er hat unter anderem Politikwissenschaften studiert und ist Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München.

Manchmal ist es sinnvoll, das Nachwort zuerst zu lesen. Dort spricht Masala von der Notwendigkeit von Resilienz und Widerstandsfähigkeit der demokratischen Gesellschaften gegenüber Russland und seiner hybriden Kriegsführung, die auch uns schon lange trifft. Im Kern geht es um „die Art und Weise, wie wir leben und leben wollen.“ Also konkret: Was ist es mir wert, dass ich in Freiheit so leben kann, wie ich möchte? Welchen Preis bin ich zu zahlen bereit, dass mir und meinem Land die Demokratie bewahrt bleibt? Die Kosten kann man grob abschätzen – nicht nur im Bündnisfall (der hoffentlich nie eintreten wird), sondern zum Beispiel bei der Priorisierung von Staatsaufgaben – ein unschönes Thema, dem wir gerne ausweichen. Die Frage bleibt dennoch: Können wir uns, wenn die Verteidigungskosten steigen, noch alles leisten? Müssen wir Prioritäten setzen? Einige Länder im Osten Europas oder des Baltikums können da auf eigene, leidvolle Erfahrungen im sowjetischen Dunstkreis zurückblicken und sind da deutlich entschiedener.

Im Untertitel heißt das Buch von Carlo Masala „Ein Szenario“. Der Plot, der in dem Buch beschrieben wird, muss nicht zwangsläufig eintreten, aber die Möglichkeit dazu besteht durchaus. In der Politik und im Militär ist das Erstellen von Szenarien mit verschiedenen Ausgangslagen eine Methode, um für die folgenden Varianten besser gewappnet zu sein. In Szenarien zu denken, beugt „intellektueller Bequemlichkeit“ vor, schreibt Masala. Man kann es lesen wie eine Kurzgeschichte. Aber der Hintergrund ist durchaus real.

Masalas Szenario spielt sich nicht in allzu weiter Zukunft ab: Der Ukraine-Krieg ist beendet worden. Man kann diesen Friedensschluss auch als Kapitulation der Ukraine begreifen: Sie muss erhebliche Gebietsabtretungen hinnehmen und sich zur dauerhaften Neutralität verpflichten. Die USA haben sich von der Ukraine in einem merkwürdigen Schlingerkurs abgewandt. Russland hat einen hohen Blutzoll entrichtet – aber de facto gesiegt. Wenig später zieht sich Putin aufs Altenteil zurück. Sein Nachfolger ist weitgehend unbekannt. Einige im Westen haben die Hoffnung auf ein Tauwetter…

In vielen Ländern Europas sind seit Jahren die ultra-rechten und linken Fraktionen auf dem Vormarsch. Was sie unter anderem eint, ist ein demonstratives Desinteresse an der Ukraine und deren Schicksal. Sie blenden freilich aus, dass damit letztlich auch unser Schicksal gemeint sein könnte. Hinzukommt die reale Gefahr, dass sich die USA unter dem gegenwärtigen Präsidenten Trump von Europa zurückziehen werden.

In einem kleinen Kreis berät man in Russland, wie man wieder „auf Augenhöhe“ mit den USA, aber vor allem auch mit China kommen kann. Ein Ziel steht relativ rasch fest: Die NATO soll nachhaltig geschwächt werden – allerdings sollte der große Krieg nach Möglichkeit vermieden werden. Eine Kleinstadt in Estland, gelegen an der russischen Grenze, rückt in den Fokus. In dieser Stadt ist die Mehrheit der Bevölkerung russischstämmig. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der sowjetischen Regierung im Zuge der Durchmischung der Bevölkerungen dort angesiedelt. Es gibt solche Städte im Baltikum tatsächlich. Der Plan sieht vor, dass russische Truppen die Stadt im Handstreich erobern sollen – angeblich, um den Schutz ihrer Landsleute, die sich von der Verwaltung des demokratischen Estlands vernachlässigt gesehen haben, wieder zu gewährleisten.

Dem westlichen Verteidigungsbündnis bleiben damit zwei Optionen übrig: Sie könnte den Bündnisfall nach Artikel 5 ausrufen. Dagegen spräche, dass der Ort im Osten Estland kaum Bedeutung hätte – warum sollte man dazu einen Dritten Weltkrieg riskieren? Zudem könnten die russischen Truppen sich rasch zurückziehen. Verzichtete die NATO dagegen auf die Ausrufung des Bündnisfalles, stünde sie deutlich geschwächt da. Alle können sehen, dass auf „den Westen“ – wenn es darauf ankommt – kein Verlass mehr ist. Das wäre das eigentliche Ziel der russischen Übung. Kritisch könnte man allenfalls anmerken, dass es vielleicht noch andere Lösungen geben könnte.

Die Blaupause für die NATO-Provokation lieferte übrigens die Remilitarisierung des Rheinlandes durch die NSDAP-Regierung 1936. Unter partiellen Bruch des Versailler Vertrages von 1919 ließ Hitler das Rheinland militärisch besetzen. (Masala datiert hier den Versailler Vertrag irrtümlich auf das Jahr 1918.) Das Kalkül des Diktators Hitler ging damals auf. Und die Welt schaute tatenlos zu.

Masala gelingt das Kunststück, das Szenario einzubinden in einer Fülle von Nebenkriegsschauplätzen, die alle erhellend sind, auf die wir aber hier nicht näher eingehen können. Lesen Sie die Episode der „Eroberung“ der „Hans-Insel“. Sie liegt im Nordpolarmeer, hat eine Fläche von 1,3 Quadratkilometer und ist menschenleer. Hier lässt der Professor für internationale Politik auch den Realsatiriker aufblitzen.

Masala mahnt vor allem drei Dinge an: Erstens: Wir brauchen eine verlässliche Strategie. Die gibt es offenbar nicht. Wir müssen begreifen, dass es nicht nur um die Ukraine geht, sondern letztlich um einen „Weltordnungskonflikt“, die auch uns betrifft. Zweitens: Wir müssen mit nuklearen Drohungen umzugehen lernen. Die sendet Russland sehr bewusst aus, und Teile der westlichen Gesellschaft verfallen immer wieder in eine Art Schockstarre. Drittens: Wir sollten darauf achten, dass wir der Erschöpfung und Ermattung demokratischer Gesellschaften widerstehen können. Das ist wahrscheinlich die schwierigste Aufgabe.

P.S.: Wie das Szenario zwischen Russland und der NATO ausgeht, wird hier nicht verraten.


Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario. München 2025.


Dr. Christoph Braß

Dr. Christoph Braß, Jahrgang 1967, ist einer der Redakteure von „kreuz-und-quer.de“ und war längere Zeit Vizepräsident des ZdK. Er war Abteilungsleiter Inland unter Bundespräsident Gauck.

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