Der unbedingte Ernst des Religiösen

Thomas Greiner

Warum haben so viele, insbesondere junge, Menschen bei uns so große Probleme mit den christlichen Kirchen? Liegt es allein an der als verstockt empfundenen Sexualmoral, an den Missbrauchsfällen, am Machtapparat? Warum gilt es heute so vielen als „weird“, einen religiösen Glauben zu teilen, und wird geradezu als anstößig, zumindest aber als dringend der Rechtfertigung bedürftig empfunden, an Gott zu glauben? Noch vor 100 Jahren musste sich rechtfertigen, wer nicht an Gott glaubte; heute ist es umgekehrt. Liegt das nur am Bedeutungsverlust der Kirchen für das Alltagsleben der Menschen hier bei uns und an gesellschaftlicher Konvention? Liegt es an dem von den Kirchen weithin beklagten „Glaubensschwund“ und der Säkularisierung in unseren Wohlstandsgesellschaften?

Das Anstößige des Christentums wie auch anderer Religionen für unsere Zeit besteht in seinem „unbedingten Ernst“.[1] Dass eine Religion überhaupt behaupten kann, einen Geltungsanspruch für alle zu haben – noch vor jeder individuellen Zustimmung – und damit einen Ernst für unser Leben, der unbedingt alle angeht, ist für unsere Zeit höchst schwer, für viele sogar überhaupt nicht zu akzeptieren. Denn wir leben – mindestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit seinem universalen Freiheitsversprechen und zumindest in der nahezu global gewordenen westlichen Kultur – in einem Anspruch höchster Emanzipation und maximaler Selbstwahl für unsere Lebensentscheidungen. Was da nicht unsere freie Zustimmung findet, kann kaum Verbindlichkeit für unser Leben beanspruchen.

Wenn nun Religionen wie das Christentum behaupten, vor jeder Selbstwahl eine unbedingte Bedeutung und schlechthin einen Ernst für unser Leben zu haben, wenn sie gar den Anspruch erheben, mit ihren Normen bis in die Verästelungen unseres Alltags unseren eigenen Entscheidungen vorgelagert zu sein, weil sie beanspruchen, uns den Willen Gottes zu sagen, ist das für viele und eben gerade für jüngere Menschen heute nur schwer zu akzeptieren.

Von diesem Akzeptanzproblem leiten sich erst die vielfältigen Schwierigkeiten ab, die so viele heute mit einzelnen religiösen Vorstellungen haben, seien es moralische Ansprüche, Fragen der Selbst- und Weltdeutung oder auch Herrschaftsformen und Machtfragen.

Dies gilt für das Judentum, das Christentum und den Islam gleichermaßen; Buddhismus und Hinduismus sowie ihre entsprechenden Derivate haben dieses Problem mangels solcher Geltungsansprüche eher selten. Und es gilt nicht nur in einer Außenperspektive. Gerade innerhalb der jeweiligen Religion wird die Stellung zu diesem „unbedingten Ernst“ heute oft für ein Kriterium erfüllter oder verfehlter Rechtgläubigkeit gehalten. Was Joseph Ratzinger die „Diktatur des Relativismus“[2] nannte, ist heute zum Stachel im Fleisch dieses unbedingten Geltungsanspruchs alles Religiösen geworden.

Wenn dann z.B. Apologeten des Christlichen – in bester Absicht – versuchen, religiösen Glauben unter den Bedingungen unserer Zeit akzeptabler zu machen, indem sie ihn als bloße „Option“ verstehen, das eigene Leben zu gestalten,[3] laufen gerade sie Gefahr, den unbedingten Geltungsanspruch zu übersehen, der allem Religiösen genuin innewohnt, oder ihn zu kaschieren.

Lässt sich dann aber dieser unbedingte Ernst, der auch für den Kern des Christlichen gilt, nämlich dass Jesus das leibhafte Wort Gottes ist, mit unserer Zeit überhaupt glaubwürdig verbinden?

Anscheinend können sich die Kirchen pastoral bis zum Burnout abrackern, sie können noch so viel Energie, Geld und personelle Ressourcen in Jugendarbeit, caritative Fürsorge oder moderne Kommunikation stecken, wenn die Frage nach der Akzeptanz dieses unbedingten Ernstes und seines Geltungsanspruchs für unser Leben nicht zufriedenstellend beantwortet werden kann, werden all diese Maßnahmen, und seien sie noch so zeitgemäß verpackt, in nichts anderem enden als in Frustration über eine in ihrem Kern völlig unzeitgemäße Organisation.

Letztlich haben wir als Vertreter/innen der Kirchen heute doch nur diese eine Aufgabe: Glaubwürdig zu machen, dass da jemand universale Geltung für unser aller Leben hat, völlig unabhängig von meiner eigenen Zustimmung, und warum dieser Jemand, den wir Gott nennen, auch in Zeiten des „anything goes“ einen unbedingten Ernst für dieses Leben beanspruchen kann.

Wie aber soll dies unter den Bedingungen des universalen Freiheitsversprechens unserer Zeit glaubwürdig gelingen? Oder werden sich die Sozialformen des Religiösen in unseren Gesellschaften nicht so weit ändern, dass sein unbedingter Ernst auch künftig Zustimmungsfähigkeit erhält, weil nur er den Menschen zu einem Leben befähigt, das ihn aus der Macht der Angst um sich selbst befreit? Ein glaubender Mensch wird auch darin das Wirken Gottes sehen können.

Anmerkungen:
[1] Vgl. Hermann Schmitz: Wie der Mensch zur Welt kommt. Freiburg, 2019. S. 62.
[2] Vgl. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.: Predigt vor der Papstwahl, 18.4.2005.
[3] Vgl. Hans Joas: Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. Freiburg, 2012.


Thomas Greiner (*1964) ist Ministerialdirigent im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Neben diesem Zivilberuf ist er katholischer Diakon im Erzbistum Berlin und z.Z. in der Pfarrei St. Franziskus Reinickendorf-Nord als Ständiger Diakon eingesetzt (diakonthomas.de).

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