Was aktuelle Zahlen über die Kirche aussagen

Dr. Ulrich Ruh

Es ist eine Binsenweisheit, dass die kirchliche Statistik mit ihren Zahlen allein kein vollständiges und wirklichkeitsgetreues Bild der kirchlichen Situation liefern kann. Die oft widersprüchliche und vielgestaltige Lage vor Ort ist statistisch ohnehin nicht adäquat zu erfassen. Dennoch haben die nackten Zahlen durchaus ihr Gewicht, gerade auch für die Kirchen hierzulande, die sie einmal im Jahr ihren Mitgliedern und der größeren Öffentlichkeit präsentieren. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit in der Regel vor allem auf die Zahl der Kirchenaustritte: Die katholische Kirche in Deutschland registrierte im Jahr 2023 nicht weniger als 402.694 Austritte; dem standen gerade mal 1.359 Eintritte und 4.127 Wiederaufnahmen gegenüber.

Die Austrittszahl ist zwar gegenüber dem Vorjahr um mehr als 100.000 zurückgegangen. Dennoch ist der negative Trend ungebrochen, bewegen sich die Austritte aus der katholischen Kirche in der Bundesrepublik inzwischen auf einem Niveau, das man bislang nur von der evangelischen Schwesterkirche gewohnt war. Hier haben sich die beiden großen Kirchen einander weitgehend angeglichen, was übrigens auch für den Gottesdienstbesuch an den „Zählsonntagen“ gilt. Die für die katholischen Bistümer für 2023 ermittelten 6,2 Prozent liegen nahe bei der Zahl, die im Durchschnitt der EKD-Gliedkirchen vor Jahren registriert wurde. Dass der Prozentsatz der evangelischen Gottesdienstbesucher in der Zwischenzeit weiter gefallen ist, bedeutet für die katholische Kirche keinen Trost. Beide Kirchen hat der Corona-Schock gleichermaßen getroffen; aber dass die katholische Seite (bei formell bestehender „Sonntagspflicht“) in Bezug auf den regelmäßigen Gottesdienstbesuch so stark abgesackt ist, belegt besonders nachdrücklich den Abbruch einer langen Tradition und den tiefgreifenden Wandel, der das „normale“ katholische Verständnis von Kirche und Gottesdienst massiv verändert hat. Das kirchliche Teilnahmeverhalten von deutschen Katholiken, auch von kirchenverbundenen, hat sich dem der landeskirchlichen Protestanten weiter angenähert.

Beim Gottesdienstbesuch zeigt sich ein auffälliges innerkatholisches Gefälle zwischen Bistümern in den „alten“ und in den „neuen“ Bundesländern: Die Spitzenreiter liegen mit 13,9 Prozent für Görlitz, 11,3 Prozent für Dresden-Meißen und 10,5 Prozent für Erfurt in Ostdeutschland. Hier macht sich das zu DDR-Zeiten unter dem Zwang der Verhältnisse entstandene Zusammengehörigkeitsgefühl noch bemerkbar, genauso wie das stärkere Zusammenrücken der Kerngemeinden angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen für die christliche und speziell für die katholische Minderheit. Auf der anderen Seite wirkt im Westen bei den Bistümern mit den höchsten Zahlen beim Gottesdienstbesuch (Eichstätt 10,0 Prozent und Regensburg 9,9 Prozent) das ausgeprägte volkskirchliche Erbe wohl noch nach.

Aufschlussreich ist auch ein Blick auf die Zahlen für das Seelsorgepersonal. Inzwischen noch 5.715 Weltpriestern im aktiven pastoralen Dienst, darunter 4.572 in der Kirchengemeinde, stehen 3.032 Pastoralassistent(inn)en/- Referent(inn)en und 4044 Gemeindeassistent(inn)en/- Referent(inn)en gegenüber. Das bedeutet, dass die Seelsorge in der früher klerikerzentrierten katholischen Kirche in Deutschland inzwischen zu einem erheblichen Teil in den Händen von hauptamtlichen Laienmitarbeitern liegt. Hier hat sich zum Teil unter der Hand ein massiver kirchlicher Strukturwandel vollzogen. Er ist nicht mehr rückgängig zu machen, auch wenn die Zahl der Pastoralassistenten nicht zuletzt wegen des auch in diesem Bereich spürbaren Nachwuchsmangels insgesamt kaum mehr steigen dürfte.

Die kürzlich vorgelegte kirchliche Statistik für das Jahr 2023 ist nur eine Momentaufnahme. Aber wie schon die Statistiken der vergangenen Jahre markiert sie absehbare Trends für die Entwicklung der katholischen Kirche in Deutschland: Sie wird zu einer Kirche mit deutlich weniger eingetragenen Mitgliedern und auch mit weniger hauptamtlichem Personal für die Seelsorge (Kleriker wie auch Laien). Die Zahlen bei den regelmäßigen Gottesdienstbesuchern und bei den Hochverbundenen in den Gemeinden werden schon aus Altersgründen weiter zurückgehen – übrigens auch die finanziellen Mittel, über die viele Bistümer zurzeit noch reichlich verfügen.

Früher als die katholische hat die evangelische Kirche hierzulande auf die problematische Lage der Institution und die prekären Zukunftsaussichten reagiert. Die EKD veröffentlichte in der Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 ein Impulspapier mit dem prätentiösen Titel „Kirche der Freiheit“, in dem sie Handlungsperspektiven für die EKD und ihre Gliedkirchen entwarf. Der damit angestoßene Reformprozess ist in den „Mühen der Ebene“ nicht einfach versandet, hat aber die großen Erwartungen nicht wirklich erfüllt, ganz zu schweigen von einigen quantitativen Zielvorgaben des Impulspapiers. Inzwischen ist auch die evangelische Kirche vom Thema Missbrauch und Missbrauchsaufarbeitung in den eigenen Reihen voll eingeholt worden. Somit bleibt kaum mehr Zeit (und Stimmung) für vollmundige Reformprojekte.

Für das katholische Deutschland haben sich die Mehrheit der Bischöfe und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken als Spitzengremium des Laienkatholizismus auf einen „Synodalen Weg“ eingelassen, der in einen „Synodalen Rat“ münden soll. Es braucht „auf katholisch“ allerdings die Abstimmung mit Papst und Gesamtkirche, um die derzeit intensiv gerungen wird. Bei den in Deutschland (allerdings nicht nur dort) lancierten Reformvorhaben bei Sexualmoral, Stellung der Frau, Machtverteilung und priesterlicher Lebensform handelt es sich ohnehin vor allem um Themen, die substanziell nur auf gesamtkirchlicher Ebene entschieden werden können. Entsprechende Erfahrungen hat man schon bei der Gemeinsamen Synode der (west)deutschen Bistümer in Würzburg in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts machen können.

Allgemeine Aufbruchsstimmung oder gar Begeisterung löst der „Synodale Weg“ in der katholischen Kirche der Bundesrepublik offensichtlich nicht aus: Öffentliche Resonanz gibt es kaum, und die kirchlichen Bataillone sind auf breiter Front zu arg zusammengeschmolzen. Ein überzeugender und mitreißender kirchlicher Befreiungsschlag ist derzeit nicht in Sicht. Es bleibt nur die Hoffnung, dass die katholische Kirche in Deutschland ihre verbleibenden personellen und finanziellen Ressourcen klug, sensibel und phantasievoll einsetzt, um den Glauben als Angebot in der Gesellschaft präsent zu halten und an möglichst vielen Orten Minderheiten von Menschen zu versammeln, die an diesem Glauben ernsthaft interessiert sind und sich aus ihm heraus engagieren – am besten in engstmöglicher Zusammenarbeit mit den anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften.


Dr. Ulrich Ruh

Dr. Ulrich Ruh (1950) ist Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau und war 1991 – 2014 Chefredakteur der „Herder Korrespondenz“. Er studierte Katholische Theologie und Germanistik in Freiburg und Tübingen und legte 1974 das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. Danach war er bis 1979 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät Freiburg (Prof. Karl Lehmann) am Lehrstuhl für Dogmatik und Ökumenische Theologie. 1979 wurde er in Freiburg mit einer Arbeit über Begriff und Problem der Säkularisierung zum Dr. theol. promoviert und trat im gleichen Jahr in die Redaktion der „Herder Korrespondenz” ein.

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